Irmgard Keun - Nach Mitternacht

  • Original : Deutsch, 1937


    INHALT :
    Frankfurt, 1936 : Führerbesuch und Menschenauflauf, Fahnenmeer und eine kindliche Reihendurchbrecherin, Uniformen und « alte Kämpfer », hingebungsvolle Festerwartung und hier und da versteckte, und schon gefährliche, Gegenwehr. Susanne « Sanna » Moder lebt hier als Neunzehnjährige seit einem Jahr bei ihrem Stiefbruder Algin, der als kritischer Schriftsteller schon nicht mehr gedruckt wird. Mit sechzehn hatte sie das heimische Moseltal verlassen, wo sie von ihrer Stiefmutter (der dritten Frau ihres Vaters!) getriezt wurde, und war in Richtung Köln aufgebrochen. Dort wohnte sie bei Tant Adelheit, einer bitteren Frau, die schon mit dem Wind weht. Sie verliebt sich aber nach anfänglichen Hänseleinen in ihren Cousin Franz, einem schweigsamen Zeitgenossen, der von einer ihm von der Mutter angerechneten Schuld niedergedrückt wurde. Doch Sanna hält es nicht aus, bricht aus dem Tantchenmief nach Frankfurt auf. Was wird aus ihrer Liebe ? Und wie erleben sie und die Menschen um sie herum die neu heranbrechenden goldenen Zeiten unter dem Glanze des Führers ?


    (Vielleicht sollte man die deutsche Produktbeschreibung vermeiden ? Sie führt schon weit in die Tiefen des Romans hinein, der woanders beginnt !)


    BEMERKUNGEN :
    Mit sieben Kapiteln mit großzügigem Schriftbild und in dieser Ausgabe mit 200 Seiten ist dieser Roman schnell gelesen. Doch keinesfalls eine « Schnellkost ». Wie hier alles zusammenkommt : schärfste Kritik, ein klarer Blick UND andererseits eine scheinbare Unschuld, ein lakonischer Humor, der nur so ganz nebenbei und wie beiläufig die Verirrungen und Wirrungen der Zeit bloßlegt (in den Anfangskapiteln) – das empfand und empfinde ich einfach als ganz große Klasse. Selten habe ich DIESE Art Mischung in der deutschen Literatur angetroffen ; ich würde sie eher dem osteuroäischen Humor zurechnen, der sich mit seinen Totalitarismen auseinandergesetzt hat.


    Die Ich-Erzählerin legt die viehischsten Instinkte durch die braune Pest ganz offen. Sie spricht unzweideutig, doch manchmal in einer seltsamen Art von falschem Verständnis und unglaublich absurdem Humor, vom weit verbreiteten Denunziantentum (der Vater wird den Sohn verraten, die Tochter die Mutter etc : alle Kombinationen!), von der Rassenfrage, die nun anfängt, diese und jene ins Ausland sich absetzen zu lassen, der Auseinandersetzung zwischen Kommunisten/Arbeitern und Braunen, Polizeiverhören und Verfolgung, neuen Gesetzen und Fanatismus hier, da aber Angst bei einer gewissen Bevölkerung. Albtraum und Komödie liegen hier nah beieinander. Die einzigste Weise, damit fertig zu werden ?


    Erzählerisch springt Keun hier geschickt und spielerisch zwischen jeweiliger voranschreitender Jetztzeit und Rückblicken in die Vergangenheit und der Entstehung ihrer Beziehung zu Franz. Die Sprache fand ich sehr geschmeidig, manchmal naiv und toll zur selben Zeit, dabei auch wieder klar und realistisch. Neben den angesprochen Aspekten der Bloßlegung des braunen Reigens bringt sie auch einige Charakterzeichnungen, die ich erstaunlich fand. Ein Buch, von dem man viel zitieren könnte... :


    « …das ganze Volk sitzt im Konzentrationslager, nur die Regierung läuft frei herum“


    «...und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug. Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand. »

    (Sanna über Franz:)
    « Er lebt immer nur eine Sache auf einmal, das macht viele nervös. Wenn er ein Glas anfaßt, lebt er nur für das Anfassen des Glases und kann nichts anderes denken und fühlen. Wenn er einen Stein ansieht, lebt er für das Ansehen dieses Steines und kann nicht gleichzeitig sprechen oder hören. Wenn er iß, ißt er. Und wenn er liebt, liebt er.
    Manchmal lebt er wie eingehüllt in dichte Schleier. Wenn man ihn anspricht, wacht er auf, ohne geschlafen zu haben. Niemand weiß, was er denkt oder träumt in seinen Schleiern. Er selbst weiß es vielleicht, aber er spricht nicht darüber. Er lebt eben, was gibt’s da zu sagen ? Wenn man sich in Leben auflöst, hat man keine Worte. »

    Mit diesem Buch, 1937 veröffentlicht, erahnt man, was für eine Klarsicht diese Frau hatte !


    Durch eine mir liebe Rezensentin und Leserin wurde ich erst vor circa zwei Monaten auf diese mir bislang unbekannte Autorin aufmerksam und empfand dieses Buch als echten Glücksgriff. Die anderen Werke Keuns landen gefährlich hoch auf meiner Wunschliste ! Was für eine tolle, fast vergessene (?) Schriftstellerin ! Das wiederum macht einen etwas bescheiden, falls man denken sollte, schon alles ausgelotet zu haben und zu kennen. Wieviele ungehobene Schätze warten noch auf mich/uns ?


    AUTOR :
    Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren (auch wenn sie sich zeitlebens fünf Jahre jünger gemacht hatte) , versuchte sich zuerst im Kino und fing dann ab 1929 mit dem Schreiben an. Mit mit ihren beiden ersten Romanen, »Gilgi – eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« (1931 und 1932) hatte sie sensationelle Erfolge. 1933 beschlagnahmen die Nazis ihre Bücher und setzten sie auf die Schwarze Liste. 1935 geht sie ins Exil. Der Schriftsteller Joseph Roth wird ihr Lebensgefährte. 1940, nach der Trennung von Roth, kündigt sie öffentlich ihren Selbstmord an und kehrt mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebt. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit kann sie nicht mehr an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der siebziger Jahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt werden. Irmgard Keun stirbt 1982.
    (Quelle : List-Verlag, erweitert)


    Taschenbuch: 208 Seiten
    Verlag: List Taschenbuch (1. Januar 2002)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3548601510
    ISBN-13: 978-3548601519

  • Danke, tom leo, für diese schöne Rezension :wink: Da ich grad erst in dem Buch "Ostende" Irmgard Keun und Joseph Roth begegnet bin, ist es schon toll, direkt danach hier von Dir eines ihrer Bücher vorgestellt zu bekommen. Es ist sofort auf meiner Wunschliste gelandet.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Danke, tom leo, für diese schöne Rezension :wink: Da ich grad erst in dem Buch "Ostende" Irmgard Keun und Joseph Roth begegnet bin, ist es schon toll, direkt danach hier von Dir eines ihrer Bücher vorgestellt zu bekommen. Es ist sofort auf meiner Wunschliste gelandet.


    Und umgekehrt ist das Weidermann-Buch auf meiner Wuli gelandet! Ja, was für eine Generation von tollen Schriftstellern es da doch gab. Seltsam, dass ich Joseph Roth schon vor Jahren entdeckt hatte, aber seine Lebensgefährtin Keun nicht "wahrgenommen" hatte.

  • Ja, was für eine Generation von tollen Schriftstellern es da doch gab.

    das hat mich so sehr beeindruckt bei "Ostende" - diese Zusammenballung fantastischer Autoren auf kleinstem Raum. Warum man manchmal den einen Autoren für sich entdeckt und den anderen direkt daneben übersieht, das kann vermutlich keiner von uns erklären…. vielleicht weil Irmgard Keun noch nicht mit Roth liiert war als er seine besten Bücher schrieb? Sie kamen ja erst 1936 zusammen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Hallo an alle


    Was für eine tolle, fast vergessene (?) Schriftstellerin !


    Stimmt, sie war eine sehr gute Schriftstellerin. Ist sehr schön, daß hier im BT so vielfältig gelesen wird und auch Klassiker bzw. "ältere" Autoren gelesen und weiterempfohlen werden.



    dass ich Joseph Roth schon vor Jahren entdeckt hatte, aber seine Lebensgefährtin Keun nicht "wahrgenommen" hatte.


    Ich wußte gar nicht, daß die ein Paar waren - danke für die Info.
    Joseph Roth wollte ich auch schon immer mal lesen; Frau Keun kommt mal gleich auf die WuLi :D



    Liebe Grüße


    Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
    :study::study::study:

    :study:Jack McDevitt: Hexenkessel




  • Gerade geschaut: Ja, es steht im Bücherregal meiner Frau. Was für ein guter Grund, dort zu wildern! Das Buch interessiert mich jetzt schon auch ... Mal wieder besten Dank für die Vorstellung, tom leo!

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Lebensgefährtin


    Danke für die Info, @tom leo . Obwohl ich sowohl Keun als auch Roth kenne, war mir die Beziehung zwischen beiden nicht bekannt.Vor ca. 20 Jahren hatte ich eine Keun-Phase, in der ich alles verschlungen habe, was meine Bücherei von ihr besitzt. "Nach Mitternacht" war auch dabei.


    « …das ganze Volk sitzt im Konzentrationslager, nur die Regierung läuft frei herum“


    An diesen Satz erinnere ich mich bis heute und daran, dass ich - ungläubig - das Erscheinungsjahr des Buches betrachtete.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)




  • Joseph Roth wollte ich auch schon immer mal lesen; Frau Keun kommt mal gleich auf die WuLi :D


    Ja, den Roth kannte ich bislang besser, und er ist einfach toll! Hier im BT gibt es bislang vier Rezensionen zu Büchern von ihm: http://www.buechertreff.de/rez…me&sortOrder=DESC&genre=&


    "Sämtliche Erzählungen" erschienen preislich supergünstig (siehe Verlinkung) oder auch, die Romane, bei 2001, unschlagbar!


    Vor ca. 20 Jahren hatte ich eine Keun-Phase, in der ich alles verschlungen habe, was meine Bücherei von ihr besitzt.


    Ich glaube, dass ich relativ kurz VOR dieser Phase stehe. Nach dem Lesen von nur einem Buch von ihr kann ich mir keinen Qualitätsabfall vorstellen, und werde ja auch indirekt durch Dich und andere Rezis darin bestärkt! Danke!

  • Hallo an alle


    @tom leo


    und er ist einfach toll! Hier im BT gibt es bislang vier Rezensionen zu Büchern von ihm:


    Danke für die links, da werde ich auf jeden Fall mal schauen. Nicht nur mein Gewicht nimmt zu, nein, auch die WuLi und der SuB....



    Liebe Grüße


    Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
    :study::study::study:

    :study:Jack McDevitt: Hexenkessel




  • Irmgard Keun haben ich in einer Leserunde vor Jahren in der Vhs gelesen. Eine Autorin, die viel tiefgängiges in ihren Büchern verarbeitet. Immer wieder finden sich aktuelle Probleme in ihren Romanen.Ein Thema ist z.B die Beziehung Mann-Frau. In Mitternacht tauchen wieder verschiedene Beziehungen zu Männern auf, sie schwankt zwischen Beständigkeit und Abenteuer. Sie kritisiert den Staat, was gefährlich ist, und was dann passiert. Es steckt viel wahres aus ihrem Leben in dem Buch, auch das Verbot der Schriftstellerei. Nach ihrer Wiederentdeckung hatte sie keinen Bezug mehr zum Schreiben. Sie ist immer kritisch geblieben. Ich würde sie gerne wieder lesen.
    Liebe Grüße

  • Danke @tom leo für Deine hervorragende Rezension - eigentlich bleibt einem nicht mehr viel zu sagen danach :lol: trotzdem steuer' ich noch einige meiner Eindrücke beim Lesen bei. Ganz klar seh ich es wie tom leo, dass man die deutsche Einführung ins Buch bzw. den Klappentext meiner Ausgabe lieber nicht lesen sollte, denn es wird zu viel verraten - und doch auch wieder nichts. Irgendwie seltsam und doch nicht gelungen.


    Sehr schnell wird beim Lesen dieses Buches klar, warum die Nationalsozialisten die Autorin mit Berufsverbot belegten - sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Dabei ist es kein großes Protestgeschrei, das sie erhebt, und sie lässt auch keine Kampfparolen vom Stapel - nein, im Gegenteil: sie erzählt einfach nur von den kleinen Alltagsbanalitäten und -gemeinheiten, von der ständigen Angst und Repression des kleinen Mannes, von der Macht der geistig Kleinen, die auf einmal am längeren Hebel sitzen, von der ständigen Angst davor, wer vielleicht ein Gespräch mithört und petzt… es sind die kleinen Dinge, die das Leben so schwierig bis unerträglich machen können und die schildert Irmagard Keun ganz simpel, einfach - doch dadurch umso eindrucksvoller. Wer ein Buch mit einer großen Handlung erwartet, gar gegen das damalige Regime handelnde Personen, der wird enttäuscht werden – der Alltag sah eben anders aus. Die Menschen arrangierten sich im Alltag mit all ihren Nöten, sie haben sich „in der Diktatur eingerichtet und angepasst“, wie es so treffend im Klappentext heißt.


    Der leichte und schöne Stil, einfach und schnörkellos, lässt einen durch die Geschichte gleiten. Sprachlich werden die Erzählebenen in die im Präsens geschriebene Gegenwart der Ich-Erzählerin Sanna in Frankfurt und in die in Vergangenheitsform geschriebenen Rückblicke nach Köln geteilt. Mein Dank gilt dabei auch dem List-Verlag, der es nicht nötig hat, die manchmal etwas älteren Schreibweisen auf Teufel komm raus zu modernisieren – so bleibt noch mehr von dem Gefühl von „damals“ erhalten. Dabei erweckt die Autorin immer wieder bei mir den Eindruck, als sei Sanna leicht naiv, was sie aber nicht wirklich ist. Trotzdem bleibt dieses Gefühl immer erhalten durch die Geschichte hindurch. Zum Teil mag es an dem "Unwissen" Sannas liegen was manchmal bei gewissen Fragen auftaucht, aber dabei muss man sich immer vergegenwärtigen, dass sie eine 19jährige aus der Provinz ist, aufgewachsen in einer Diktatur. Aber diese Naivität öffnet gleichzeitig immer diesen klaren Blick auf die Dinge, wie sie wirklich sind. Hervorragend kommt das u.a. bei dem von tom leo zitierten Satz über den Prinz Karneval zum Ausdruck.


    Klar erkennbar wird beim Lesen, wie viel die Menschen wussten und wissen konnten während dieser Zeit. Das Buch wurde 1937 bereits im Exil geschrieben und trotzdem werden Fakten wie Konzentrationslager etc. klar beim Namen genannt. Ein Schlag ins Gesicht all derer, die hinterher behaupten wollten, sie hätten nichts gewusst. Dieses Buch wird ganz sicher nicht das letzte gewesen sein, dass ich von Irmgard Keun gelesen habe. Ganz im Gegenteil macht es Lust darauf, mehr von ihr zu entdecken. Ganz eindeutige 5 Sterne von mir und eine deutliche Leseempfehlung an alle, die sich für die Thematik interessieren.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier