Volker Weidermann - Ostende. 1936. Sommer der Freundschaft

  • In Deutschland haben die Nationalsozialisten ihre Macht gefestigt und es gelingt ihnen, in der Vorbereitung der Olympischen Sommerspiele die Weltöffentlichkeit an der Nase herumzuführen. Weltoffen zeigt sich die Diktatur und auch die judenfeindliche Propaganda ist aus der Öffentlichkeit verschwunden.


    Doch die, die sich da im Sommer 1936 im belgischen Nordseeort Ostende treffen, die haben alle Deutschland schon seit langem verlassen müssen, sei es, weil sie als Kommunisten verfolgt wurden, wie Egon Erwin Kisch und Willi Münzenberg, sei es, weil sie als Juden um ihr Leben fürchten müssen und ihre Bücher verbrannt und verboten sehen, wie Stefan Zweig und sein Freund Joseph Roth, sei es, weil sie mit ihren kritischen Büchern angeeckt waren wie Irmgard Keun.


    Einen letzten Sommer lang verbringen sie dort, schreibend, wie vor allem Stefan Zweig, trinkend, wie Joseph Roth und die sich mit ihm anfreundende Irmgard Keun. Klug und politisch bewusst, sehen sie alle das Unheil kommen, dass da Europa droht, lenken sich mit der Hoffnung auf den Widerstand im beginnenden spanischen Bürgerkrieg ab, der doch nur ein Vorspiel werden sollte, für das was Europa danach bevorstand.


    In einer wunderbaren und einfühlsamen Erzählung betreibt Volker Weidermann, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und einer der angesehensten Literaturkritiker des Landes, seine ganz besondere Form der Literaturgeschichte. Er will nicht nur durch intensive Recherche gewonnene Fakten vermitteln, sondern indem er erzählt, versucht er immer auch zu interpretieren, zu deuten und dem nachzuspüren, wie sich das angefühlt haben muss, in Ostende 1936, vor allem für die beiden Freunde Stefan Zweig und Joseph Roth.


    Ihre so verschiedene Geschichte und ihre Freundschaft stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung, die im Jahr 1914 beginnt und gegen Ende das Schicksal vieler der dort in Ostende urlaubenden Schriftsteller und Intellektuellen während des Krieges und danach beschreibt. Der wohlhabende und erfolgreiche Westjude Zweig und der aus Galizien stammende Ostjude Roth, der verzweifelt nicht nur am Alkohol hängt, sondern auch an seiner Verehrung der österreichischen Monarchie, sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Dennoch verbindet sie eine auch literarische Freundschaft, mit der sie sich und ihre Werke gegenseitig befruchten.


    Volker Weidermann beschreibt den kurzen Sommer der Hoffnung und der Freundschaft als eine Momentaufnahme, und schafft es doch, mit einer frischen Sprache, die einen sofort gefangen nimmt und das Büchlein nicht mehr aus der Hand legen lässt, bis man das traurige Ende, das man ja vorher schon kennt, erfährt, einen Eindruck zu vermitteln vom Exil der von der Nazis verfolgten Literaten und ihren Aporien.


    Es lädt ein, sich danach vielleicht wieder einmal den Romanen Joseph Roths, den Novellen Stefan Zweigs und den lange vergessenen Büchern Irmgard Keuns zu widmen, und sie nun, mit mehr Hintergrundwissen, besser zu verstehen.

  • Eigentlih ist der Rezension von @Winfried Stanzick nichts Neues mehr hinzuzufügen. Trotzdem noch meine Eindrücke zu "Ostende":


    Zitat

    „Die Welt, die Literatur, die Politik – wie schön wäre es, von alldem nicht mehr wissen zu müssen. Welcher Ort könnte fern genug von alldem sein? Welcher Ort konnte das Mausloch für diesen Sommer sein?
    Ein Strand in Belgien weiße Häuser, Sonne, eine breite Promenade, kleine Bistros mit Blick aufs Meer. Er will nach Ostende.“ (S. 38/39)


    Im belgischen Küstenort Ostende treffen sich im Sommer 1936 Stefan Zweig und Joseph Roth, um dort gemeinsam die Ferien zu verbringen. Ich kenne die Biografien der beiden Literaten und habe immer wieder Probleme, mir diese beiden völlig unterschiedlichen Männer als Freunde vorzustellen. Joseph Roth zähle ich zu meinen Lieblingsautoren und auch Stefan Zweigs Werk schätze ich sehr. Die Runde wird durch Irmgard Keun, Hermann Kersten, Ernst oller und Egon Erwin Kisch komplettiert. Sie sind Emigranten, weil sie – bis auf Irmgard Keun – Juden sind, weil ihre Bücher in Deutschland nicht mehr verlegt werden. So nah sie sich im Geiste sind, so sehr unterscheiden sie sich in ihrem Leben. Ost-Jude, West-Jude, Nicht-Jude, armer Jude, reicher Jude, Trinker und Pazifist, Liebende, Lebende, Verzweifelte sind sie. Und sie sind Freunde, wenn auch diese Freundschaft, insbesondere die zwischen Zweig und Roth, argen Belastungsproben ausgesetzt ist.


    Zitat

    „Wieder einmal sitzen alle im Fleure, die Gesellschaft der Stürzenden, die in diesem Sommer noch einmal versucht, sich als eine Art Urlaubsgesellschaft zu fühlen. Noch einmal versucht, Sorglosigkeit zu simulieren. Was ist es letztlich anderes als eine große, lange Urlaubsreise, auf der sie sich seit Jahren befinden? Fern der Heimat, mit Freunden unterwegs, in Paris, Nizza, Sanary-sur -Mer, Amsterdam, Marseille, Ostende. Und irgendwann eben wieder zurück. Nur wann? Die Frage wird, je drängender sie ist, umso weniger gestellt. Mit jedem weiteren Tag, den dieser Urlaub andauert, wird eine Rückkehr unwahrscheinlicher. Alle wissen es. Aber man spricht nicht darüber. Es herrscht die Pflicht zum Optimismus. Den Strick hat man im Koffer, darüber wird nicht geredet.“ (S. 90).


    Diesen Roman habe ich sehr genossen. Ich fühlte mich Roth, Zweig und den anderen so nah, wie ich es durch das bloße Lesen ihrer Biografien nie war. Beeindruckend dabei ist, das Volker Weidermann mir dieses Leseerlebnis auf nur 160 Seiten bescherte. Es gibt keine überflüssigen Worte oder Dialoge und schon gar keine Längen. Die Urlaubsidylle ist jedoch nur scheinbar. Das wird sehr deutlich, wenn man von jedem der Protagonisten mehr Hintergrundinformationen erhält. Dieser Rückzugsort ist wie ein Mantel des Schweigens, der ihre eigentlichen Sehnsüchte verhüllt. Sein besonderes Flair hat Ostende nur durch die Gemeinschaft. Als Joseph Roth sich im Jahr 1937 den Sommer noch einmal in Erinnerung rufen will und dort allein - ohne Stefan Zweig – anreist, schreibt er:


    Zitat

    „Ostende ohne Sie. Die gleichen Lokale und alles anders. Sehr vertraut und sehr fremd. Beides in schrecklicher Gemeinsamkeit.“ (S. 145)


    Für mich war es sehr interessant, ein wenig an den Gedanken und Gefühlen dieser literarischen Gemeinschaft teilhaben zu können. Ich habe ihre Hoffnungen, Wünsche, Abgründe und ganz persönliche Tragik erkennen können. Darüber hinaus bekam ich so ganz nebenbei einen kleinen Einblick in die Werke der Autoren und „Meine Freunde, die Poeten“ von Hermann Kersten ist sofort auf meinen Wunschzettel gewandert, weil es diesen Roman, den ich sehr gern weiterempfehle, noch einmal vertieft.

  • Ich habe "Ostende" heute nacht beendet und sage Danke an @Winfried Stanzick und @Karthause für ihre beeindruckenden Rezensionen. Eigentlich kann ich nicht mehr viel beitragen, was nicht schon gesagt wurde.
    Im Gegensatz zu Karthause kenne ich bisher nur die "Schachnovelle" von Stefan Zweig, von all den anderen Autoren, die sich hier kurz vor Kriegsausbruch zusammenfinden, habe ich zwar gehört aber noch kein Buch gelesen. Ein Zustand, der sich bestimmt bald ändern wird, denn die tiefen Einblicke in die Menschen hinter den Autoren und ihren öffentlich zu Schau getragenen Images haben mir Lust gemacht auf mehr. Es sind diese Blicke hinter die Kulisse, die für mich den Reiz dieses Buches ausmachen - es stehen nicht die Autoren, sondern die Menschen im Vordergrund. Ganz besonders die sehr persönlichen Einblicke in diese sehr seltene und seltsame Freundschaft zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig haben mich beeindruckt. Auf nur wenigen Seiten bringt uns Weidermann die Menschen so nah - das ist für mich eine große Leistung, weshalb ich sowohl den Autoren als auch das Buch unbedingt weiterempfehlen kann. :D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Von Joseph Roth kann ich dir "Radetzkymarsch", "Hiob" und "Hotel Savoy" voller Überzeugung empfehlen. Obwohl ich alle seiner Romane und Erzählungen als sehr lesens- und empfehlenswert ansehe.

  • Nun habe auch ich dies Buch gelesen und muss sagen, ich war fasziniert. Von Stefan Zweig kenne ich – genau wie @Squirrel - bisher nur die „Schachnovelle“, habe aber mehrere Bücher Joseph Roths gelesen (besonders gern "Hiob" und "Beichte eines Mörders ...") und zähle ihn zu meinen Lieblingsschriftstellern. Biografien der beiden kenne ich allerdings (noch) nicht.
    Deshalb war es für mich besonders interessant, mehr über die Lebensumstände dieser beiden so unterschiedlichen Schriftsteller zu erfahren.
    Weidermann ist es gelungen, seine Bewunderung für sie und die äußerlich heitere, doch von der politischen Lage überschattete Stimmung in diesem „Sommer der Freundschaft“ zu vermitteln.
    Vor allen Dingen aber hat es mir Lust gemacht, wenigstens noch einmal in die Bücher Joseph Roths zu schauen, die ich vor gefühlten 100 Jahren gelesen habe. Ob ich auch noch zu Stefan Zweig greife – mal sehen.

    Die Fantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können,
    und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    (Albert Camus)


    :study: Donna Tartt - Die geheime Geschichte

  • Ich habe gestern in der Lesenacht das Buch gelesen und bin immer noch tief beeindruckt von Volker Weidermanns Stil, die Geschichte der Exil-Autoren in jenem Sommer 1936 in Ostende zu beschreiben. Er hat es gepackt, mir Stefan Zweig, den ich nur als Pazifist kannte, Joseph Roth - von dem ich bisher lediglich Hiob gelesen habe - und auch die mir bis zu @Winfried Stanzick Besprechung unbekannte Autorin Irmgard Keun näher zu bringen.


    Gerade die Art die Zeit wie ein Chronist zu beschreiben und dabei immer wieder das Geschehene zu interpretieren sowie das Gefühl der Zeit darzustellen, hat "Ostende" für mich zu einen Lesegenuss gemacht. Er zeigt so deutlich, dass es nicht einfach ein Urlaub für Zweig, Roth und die anderen war, dass auch um Existenzen ging und alle waren von einer tiefen Melancholie erfasst. Aus unterschiedlichen Gründen, aber dennoch der Verlust der Heimat, sei es Deutschland, Österreich oder Tschechien wie bei Kisch wurde sehr deutlich.


    Besonders auf Stefan Zweig, Joseph Roth und Irmgard Keun hat er ein großes Augenmerk gelegt. Bei allen dreien beschreibt er sehr gut den Charakter und auch das Wechselspiel zwischen ihnen. Sei es im finanziellen, emotionalen oder schriftstellerischen Sinne.


    Historische Ereignisse wie Francos Krieg in Spanien, der Wandel in Österreich wurden auch sehr gut eingeflochten.


    Alles war für mich stimmig und ich hatte oft das Gefühl selber am Strand von Ostende zu sein, mit im Café Fleure bei Zweig, Keun und Roth zu sitzen und ihren Gesprächen zu lauschen. Als sehr passend empfand ich das Nachwort, in dem Volker Weidermann noch das weitere Leben der Exil-Autoren angerissen hat und ich, so auch erfahren konnte, was aus dem jeweils einzelnen geworden ist.


    Eins steht für mich jedenfalls fest, dass ich weitere Bücher der Autoren lesen werde und mir auch mal weitere unbekannte Autoren der Zeit anschauen werde. Mal sehen, welches Schmuckstück ich darunter noch finden werde.

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • Nach über zwei Jahren hole ich gerne diesen Thread nochmal hoch. Dabei wurde das Wesentliche ja eigentlich schon in den ausgezeichneten obigen Vorstellungen und Kommentaren gesagt… Aber vielleicht werden neue Leser auf dieses Buch aufmerksam ?


    Ich habe das Buch über das Leben exilierter Schriftsteller in der Nazizeit außerordentlich genossen : Die drei Hauptprotagonisten (Zweig, Roth und Keun) kenne ich aus ihren Büchern, von denen ich mehrere nicht nur gelesen, sondern überaus geliebt habe. Dazu lese ich beizeiten immer die biographischen Notizen, um mir ein Bild vom Autor, der Autorin zu machen.


    Nun wurde mir aber noch klarer deutlich, wie unterschiedlich, vielfältig, aber dennoch verflochten und vereint in einem gewissen gemeinsamen Schicksal diese Leben waren. Die so enge Verbindung zwischen Roth und Zweig war mir echt nicht bewußt, und ich hätte sie auch nicht erahnt. Entgegen dem Titel, der eine Konzentrierung auf Geschehnisse im Juli 1936 verheisst, erzählt der Autor bereitwillig und gut von den Ursprüngen, den Werdegängen. Prima !


    Übrigens ist Weidermann nicht nur selber ein sehr guter Erzähler und sicherlich Freund der Exilliteratur, ober auch ein ehrlicher Beschreiber dieser und jener Schwächen und privater Wirrnisse (vielleicht auch Irrwegen?) der einen und anderen. Er gibt ihnen eine menschlich Tiefe, die man ansonsten nicht kennenlernen würde.


    Wenn ihr von Zweig etwas mehr als die Schachnovelle lesen wollt, dann kann ich dieses wunderbare Buch empfehlen.


    Mara : ja, davon schrieb Zweig in diesem Sommer in Ostende einige Kapitel !

  • Nun wurde mir aber noch klarer deutlich, wie unterschiedlich, vielfältig, aber dennoch verflochten und vereint in einem gewissen gemeinsamen Schicksal diese Leben waren. Die so enge Verbindung zwischen Roth und Zweig war mir echt nicht bewußt,

    genauso erging es mir beim Lesen des Buchs. Ein bisschen was hatte ich mal aufgeschnappt über die Autoren, aber diese enge Verbindung war mir nie klar gewesen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich hatte lange gezögert, das Buch zu lesen, weil ich Romane, die von realen historischen Persönlichkeiten handeln, eigentlich nicht mag. Allzuoft werden den Protagonisten dabei Worte in den Mund gelegt, die sie so womöglich nie gesagt haben. Haben sich bestimmte Szenen wirklich genauso abgespielt? Wieviel ist fiktiv, was basiert auf belegbaren Quellen wie Briefen, Tagebucheinträgen, o.ä. ?
    Hinzu kommt, dass ich (bereits in der Rezi von @Sylli zu Stefan Zweig im Exil hier erwähnt) nach der tollen Biografie über Joseph Roth dem Buch von Weidermann noch kritischer gegenüber stand.
    Ich denke aber, er hat das Beste daraus gemacht und mit dem Buch womöglich auch neue Interessenten für die Exilliteraten gefunden. Letztendlich erging es mir mit "1913" genauso, das ich auch weniger als Sachbuch denn als lose Anordnung historischer Anekdoten einordnen würde. Mich hatte es aber damals angeregt, mehr über die genannten Personen heraus zu finden.

  • Danke SiriNYC!

    Ich hatte lange gezögert, das Buch zu lesen, weil ich Romane, die von realen historischen Persönlichkeiten handeln, eigentlich nicht mag. Allzuoft werden den Protagonisten dabei Worte in den Mund gelegt, die sie so womöglich nie gesagt haben. Haben sich bestimmte Szenen wirklich genauso abgespielt? Wieviel ist fiktiv, was basiert auf belegbaren Quellen wie Briefen, Tagebucheinträgen, o.ä. ?
    Hinzu kommt, dass ich (bereits in der Rezi von @Sylli zu Stefan Zweig im Exil hier erwähnt) nach der tollen Biografie über Joseph Roth dem Buch von Weidermann noch kritischer gegenüber stand.
    Ich denke aber, er hat das Beste daraus gemacht und mit dem Buch womöglich auch neue Interessenten für die Exilliteraten gefunden. Letztendlich erging es mir mit "1913" genauso, das ich auch weniger als Sachbuch denn als lose Anordnung historischer Anekdoten einordnen würde. Mich hatte es aber damals angeregt, mehr über die genannten Personen heraus zu finden.

    Ich lese sogenannte "historische Romane" auch nicht (gerne), oder nur äußerst selten. Und jene Rubrik gefällt mir manchmal nicht. Normalerweise klicke ich diese garnicht erst an. Oder aber ich wähle wie selbstverständlich dann das Genre "Roman/Erzählung", um Verwechslungen vorzubeugen. Ist die Bezeichnung "Roman" also quasi noch fiktiver?


    Was das hier vorliegende Buch anbetrifft ist deutlich spürbar (meines Erachtens), dass sich Weidermann durch quasi sämtliche Texte der angeführten Autoren durchgelesen hat, und sicherlich auch die einschlägigen historischen Quellen (Archive, Briefwechsel...) eingesehen hat. Hier und da zitiert er dies ausdrücklich; es ist aber auch so klar erkenn- und spürbar.


    Okay, er mach daraus einen "Roman", eine durchgehende Story, füllt eventuell manche Dialoge, wo er ja nicht Ohrenzeuge sein konnte? Aber ich gebe dem einen sehr hohen Wahrheitsgehalt, eine hohe Wahrscheinlichkeit. Es ist insofern wie eine gekreuzte Biographie mehrerer Exilschriftsteller.

  • Ich hatte lange gezögert, das Buch zu lesen, weil ich Romane, die von realen historischen Persönlichkeiten handeln, eigentlich nicht mag. Allzuoft werden den Protagonisten dabei Worte in den Mund gelegt, die sie so womöglich nie gesagt haben. Haben sich bestimmte Szenen wirklich genauso abgespielt? Wieviel ist fiktiv, was basiert auf belegbaren Quellen wie Briefen, Tagebucheinträgen, o.ä. ?

    Bei den sehr guten dieses Genres finden sich in aller Regel im Anhang Aussagen darüber, wo wie recherchiert wurde und was fiktiv bzw. real und belegbar ist. :wink:

    Ich denke aber, er hat das Beste daraus gemacht und mit dem Buch womöglich auch neue Interessenten für die Exilliteraten gefunden.

    Hier, mich zum Beispiel. Nachdem ich "Ostende" gelesen hatte, nahm ich das allererste Mal ein Buch von Irmgard Keun in die Hand und war begeistert. :)

    Letztendlich erging es mir mit "1913" genauso, das ich auch weniger als Sachbuch denn als lose Anordnung historischer Anekdoten einordnen würde. Mich hatte es aber damals angeregt, mehr über die genannten Personen heraus zu finden.

    Das Buch sehe ich ähnlich wie Du - wobei es auch als Anekdotenreihung für mich zu den Sachbüchern zählt. Aber auf diese unterhaltsame Art brachte es mir ein Jahr näher, dass ich mir so bewusst noch nicht näher angeschaut hatte, und machte mich neugierig auf die Zeit und die Menschen.

    Was das hier vorliegende Buch anbetrifft ist deutlich spürbar (meines Erachtens), dass sich Weidermann durch quasi sämtliche Texte der angeführten Autoren durchgelesen hat, und sicherlich auch die einschlägigen historischen Quellen (Archive, Briefwechsel...) eingesehen hat. Hier und da zitiert er dies ausdrücklich; es ist aber auch so klar erkenn- und spürbar.

    Das unterschreibe ich genau so wie Du es sagt :D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Zitat von tom leo

    Und jene Rubrik gefällt mir manchmal nicht. Normalerweise klicke ich diese garnicht erst an.

    Das geht mir genauso. Ich habe das Buch gerade bei mir aus dem Regal gezogen und übrigens festgestellt, dass ich es bei den Sachbüchern und Biografien eingeordnet hatte :) .


    Zitat von tom leo

    Aber ich gebe dem einen sehr hohen Wahrheitsgehalt, eine hohe Wahrscheinlichkeit. Es ist insofern wie eine gekreuzte Biographie mehrerer Exilschriftsteller.

    Das kannst Du auch in dem Fall. Jedenfalls empfand ich als Laie das Buch im Bezug auf bisher gelesenes zu den drei Personen als authentisch.



    Zitat von Squirrel

    Bei den sehr guten dieses Genres finden sich in aller Regel im Anhang Aussagen darüber, wo wie recherchiert wurde und was fiktiv bzw. real und belegbar ist.

    Hier habe ich keine Fußnoten oder Verweise gefunden, aber wir wollen ja nicht zu streng sein :wink: .


    Zitat von Squirrel

    Nachdem ich "Ostende" gelesen hatte, nahm ich das allererste Mal ein Buch von Irmgard Keun in die Hand und war begeistert.

    Welches war denn das?

  • Welches war denn das?

    Das war "Nach Mitternacht" und ich war begeistert. Dazu hab ich auch noch einen Heimvorteil: ich komme aus Frankfurt und konnte somit "mitlaufen" durch die Stadt, hatte ein Bild vor Augen von den Orten, an denen die Handlung spielt. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ähnlich wie SiriNYC hatte auch ich vorab meine Zweifel, ob denn diese historischen Personen "missbraucht" werden, ob ihnen Handlungsweisen angedichtet werden, um eine interessante Geschichte hinzubiegen.

    Aber diese Sorge war unbegründet. Nach allem, was ich als Laie und interessierter Leser von Zweig, Roth, Toller, etc weiss, hat Weidermann sich eng an die Quellenlage gehalten. Vieles ist belegt, und ansonsten hat er plausible Dialoge entwickelt. Wer also bisher scheu hatte, weil womöglich historische Personen zu sehr vereinnahmt werden, kann aufatmen und das Buch sorgenfrei lesen.


    Mir hat es gefallen, auch wenn mir die persönlichen Beziehungen untereinander bekannt waren und ich nicht viel Neues gelernt habe. Dennoch war dieses Zusammentreffen der grossartigen Personen im belgischen Badeort zu jener Zeit spannend genug und die heraufbeschworene Atmosphäre des nahenden Untergangs und ein paar letzten glücklichen Tage ist sehr beeindruckend.

    Nun wurde mir aber noch klarer deutlich, wie unterschiedlich, vielfältig, aber dennoch verflochten und vereint in einem gewissen gemeinsamen Schicksal diese Leben waren. Die so enge Verbindung zwischen Roth und Zweig war mir echt nicht bewußt,

    genauso erging es mir beim Lesen des Buchs. Ein bisschen was hatte ich mal aufgeschnappt über die Autoren, aber diese enge Verbindung war mir nie klar gewesen.

    Beginn meines seit über einem Jahr andauernden Interesses an Exilliteratur war übrigens der untenstehende Briefwechsel der beiden Schriftsteller. Wer Interesse an Roth und Zweig hat, ihre Freundschaft verstehen will, und generell die Entwicklung des literarischen Betriebs in dunkler Zeit (Geldsorgen, Verfolgung, Fürsprecher und Kritiker, etc - der sollte diesen Briefwechsel lesen. Man lernt die Beiden sehr gut kennen, zudem wird jeder Anspruch an wissenschaftlicher Sorgfalt erfüllt, und schliesslich möchte man sich nochmals durch die Werkausgabe von Roth und Zweig lesen...