John Boyne - Die Geschichte der Einsamkeit / A History of Loneliness

  • Als Odran Yates Ende der 70er Jahre zum Priester geweiht wurde, war er nicht nur der ganze Stolz seiner Mutter, sondern gehörte einem Berufsstand an, der in ganz Irland höchsten Respekt genoss. Seine Arbeit als Lehrer in einem katholischen Jungeninternat macht ihm auch fast ein Vierteljahrhundert später noch Freude, doch ansonsten hat sich vieles um 180° gedreht. Die Welt ist säkularer geworden, und der Respekt vor dem Priesteramt ist allgemeiner Verachtung gewichen, nachdem zahlreiche Missbrauchsfälle bekannt geworden sind, die von der Kirche systematisch gedeckt wurden. Schräge Blicke und "Kinderschänder"-Rufe gehören noch zu den harmloseren Dingen, die ihm auf der Straße begegnen.


    Dabei hat sich Odran selbst überhaupt nichts vorzuwerfen ... oder doch? Er ist ein anständiger Mensch, ein guter Lehrer, schlägt sich auch tapfer in seiner neuen Rolle, nachdem er von jetzt auf nachher in die Pfarrei versetzt wird, in der zuvor sein alter Freund Tom Cardle tätig war. Er hat keine perversen Begierden, keine homosexuellen Neigungen, er ist eigentlich einer, der nicht verdient hat, zusammen mit seinen Amtskollegen unter Generalverdacht gestellt zu werden, einer, der einfach nur seine Sache gut machen möchte und tatsächlich aus dem Glauben Kraft schöpft.


    Doch wenn er ganz ehrlich ist, gab es einige Momente, in denen ihm Dinge hätten auffallen müssen, in denen er nicht zwei und zwei zusammengezählt hat. Weil man sich manchmal einfach "nichts dabei denkt", oder weil er zu blauäugig an das Gute geglaubt hat, oder womöglich, weil er nichts sehen wollte?


    Mit Odran Yates hat John Boyne eine ganz ausgezeichnete Hauptfigur für dieses Buch über ein sehr heikles Thema gewählt. Er ist Priester, also unmittelbar mit der einst so angesehenen und immer noch mächtigen Institution Kirche verbunden, aber weder Täter noch Opfer, ein quasi neutraler Zeuge. Diese Perspektive scheint mir die geeignetste für eine Auseinandersetzung mit den Missbrauchsskandalen im Zusammenhang mit der Kirche und deren Vertuschung. Das katholische Irland, wo die Kirche bis in die 90er Jahre hinein so einflussreich war wie in kaum einem anderen Land, ist auch der perfekte Schauplatz.


    Überhaupt hat mich der Roman auf ganzer Linie überzeugt. Odran ist ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer Vergangenheit und einer Familie, kein frömmelnder Phrasendrescher, sondern einer, der aus Berufung Priester geworden ist und dem man das tatsächlich abnimmt. Auch die Erzählstruktur gefällt mir. Zwar springt das Buchmanchmal über Jahrzehnte hinweg in der Zeit hin und her, es ist aber stets klar, wo wir uns gerade auf Odrans Lebensweg befinden. Wie beim Häuten einer Zwiebel enthüllen sich Schicht um Schicht die wichtigsten Ereignisse in Odrans Leben und seine schrittweise Erkenntnis, aus welchem schwerwiegenden Grund sein alter Freund Tom Cardle ständig von einer Pfarrei zur nächsten versetzt wird und dass überhaupt innerhalb der katholischen Kirche so einiges zum Himmel stinkt.


    Was da in einem ruhigen, fast plaudernden Ton erzählt wird, lässt einem die Haare zu Berge stehen angesichts des oft jahrzehntelangen Leidens der Opfer, der Unverfrorenheit, mit der diese Verbrechen unter den Teppich gekehrt wurden, und des Kadavergehorsams vieler, die sich Christen schimpfen.


    Obwohl Boyne hier üble Missstände schildert, wird er weder voyeuristisch noch plakativ, er wertet und kommentiert nicht, sondern lässt die Geschehnisse für sich sprechen und verzichtet komplett auf Schwarzweißmalerei (unter anderem gefiel mir, dass es auch einige integre Gestalten unter den Klerikern gab). Die Auseinandersetzung mit Odrans Schuldgefühlen ist sehr einfühlsam und differenziert gelungen.


    Inhaltlich keine leichte Kost, aber ein richtig gutes Buch zu einem leider viel zu lange totgeschwiegenen Thema.

  • Wie zu erwarten war, hat auch mir der Roman ausgesprochen gut gefallen. Die Geschichte brauchte etwas, um in Gang zu kommen (deshalb der halbe Punkt Abzug), aber das hat sich bald verflüchtigt und ich war vollkommen gefangen im Geschehen. Mit Odran Yates hat Boyne einen Charakter geschaffen, der mir sehr nahe gekommen ist und den ich aller Schwächen und Unzulänglichkeiten zum Trotz regelrecht ins Herz geschlossen habe. Manchmal hat er mich an den guten Stoner erinnert, dem man ja auch nie wirklich böse sein konnte, obwohl er - ähnlich wie Odran - die Neigung hatte, eher den bequemeren Weg einzuschlagen, um bloß nicht irgendwo anzuecken. Dass es im Leben um mehr geht, als immer brav zu funktionieren und sich nicht unbeliebt zu machen, erkennen beide leider viel zu spät.

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Das war mein erstes Buch von John Boyne und ich fand die Geschichte ganz hervorragend. Eigentlich mag ich das Hin- und Herspringen in der Zeit nicht so, aber hier fand ich es sogar ziemlich erfrischend, immer wieder in die unterschiedlichen Sichtweisen des Protagonisten einzutauchen. Odran Yates war eine tolle Figur und ich mochte ihn wirklich sehr. Man konnte sehr gut mit ihm fühlen und er war wohl das, was man einen "guten Menschen" nennen würde. Beeindruckend wie er sich nicht von Hass zerfressen lässt, sondern immer rational und mit Gewissen handelt. Das sensible Thema Missbrauch wird hier weder verharmlost noch als Showeffekt genutzt, der Autor trifft genau den richtigen Ton. Ich bin beeindruckt, dass mich diese ruhig erzählte Geschichte so gefesselt hat. Dabei war alles so greifbar und kam so real rüber, dass ich manchmal vergaß, etwas Fiktives zu lesen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Kapo: freut mich sehr, dass Dir das Buch auch so gut gefallen hat. Für mich ist es bisher Boynes bestes Werk.

    Ich habe mich gleich mal nach seinen anderen Werken umgesehen. Leider ist da nicht wirklich etwas dabei, was mich interessieren würde. Schade. Er hat ja scheinbar sehr unterschiedliche Bücher geschrieben. Vom recht bekannten KZ-Buch über Historisches bis hin zu seichten Schauergeschichten.

  • Mir hat noch "The Absolutist" sehr gut gefallen (dt. "Das späte Geständnis des Tristan Sadler :roll: ) und auch "The Heart's Invisible Furies" (dt. stinklangweilig "Cyril Avery"). Beide thematisieren Homosexualität, der "Absolutist" zur Zeit des 1. Weltkriegs und "Cyril" den Werdegang eines homosexuellen Mannes in Irland von Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.


    Den Rest, den ich von ihm kenne, fand ich ziemlich unterschiedlich gelungen, und das KZ-Buch werde ich mir definitiv sparen.


    Mir scheint, Boyne ist dann am besten, wenn er über Themen schreibt, die ihm selbst am nächsten stehen. Er ist ja selbst schwul, Ire und kein Fan der katholischen Kirche.

  • Er ist ja selbst schwul, Ire und kein Fan der katholischen Kirche.

    Und gerade bei letzterem fand ich erstaunlich, dass er trotzdem sehr versöhnlich mit der Kirche umging, nicht nur sinnnlos draufgehauen hat und den Fehler nicht bei der Religion an sich, sondern bei den Tätern und den mafiösen Strukturen gesucht hat.

  • Ja, diese differenzierte Ausgewogenheit in der Darstellung hat mir auch ausgesprochen gut gefallen!


    Ich fand auch den Bedeutungswandel der Kirche und des Priestertums innerhalb weniger Jahrzehnte toll dargestellt. Noch bis in die 90er hinein war der Priester die absolute Respektsperson, und Odran wird in der jetzigen Zeit schon höchst argwöhnisch beäugt, als er, an der Kleidung als Priester erkennbar, ein heulendes Kind zu trösten versucht, das seine Mutter nicht mehr findet. Diese Szene ist mir sehr eindringlich im Gedächtnis geblieben.

  • Ja, diese differenzierte Ausgewogenheit in der Darstellung hat mir auch ausgesprochen gut gefallen!


    Ich fand auch den Bedeutungswandel der Kirche und des Priestertums innerhalb weniger Jahrzehnte toll dargestellt. Noch bis in die 90er hinein war der Priester die absolute Respektsperson, und Odran wird in der jetzigen Zeit schon höchst argwöhnisch beäugt, als er, an der Kleidung als Priester erkennbar, ein heulendes Kind zu trösten versucht, das seine Mutter nicht mehr findet. Diese Szene ist mir sehr eindringlich im Gedächtnis geblieben.

    Oh ja. Und sogar festgenommen. Bei der nächsten Gelegenheit als sich ein kleiner Junge zu ihm im Zug setzen wollte, ist er auf und davon und hat sich ans andere Ende gesetzt. Traurig eigentlich. :|

  • Leider ist da nicht wirklich etwas dabei, was mich interessieren würde.

    Vielleicht wäre das etwas für Dich. :mrgreen:


    Kurzbeschreibung (Amazon)

    Im Sommer 1910 steht Scotland Yard vor einem unlösbaren Fall: Im Haus des allseits beliebten Mr Hawley Crippen wird die grausam zerstückelte Leiche seiner Frau gefunden. Von Crippen selbst fehlt jede Spur ... John Boyne erzählt meisterlich die spannende Jagd nach einem mutmaßlichen Mörder, die sich 1910 in London und auf einem kanadischen Passagierschiff so wirklich zugetragen hat.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Vielleicht wäre das etwas für Dich. :mrgreen:

    Danke, das hab ich mir gestern schon angesehen. Historische Krimis sind eher nicht so mein Fall.

    Das ist ja nicht mal ein Krimi, sondern die Erzählung einer wahren Begebenheit.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Leider ist da nicht wirklich etwas dabei, was mich interessieren würde.

    Vielleicht wäre das etwas für Dich. :mrgreen:


    Kurzbeschreibung (Amazon)

    Im Sommer 1910 steht Scotland Yard vor einem unlösbaren Fall: Im Haus des allseits beliebten Mr Hawley Crippen wird die grausam zerstückelte Leiche seiner Frau gefunden. Von Crippen selbst fehlt jede Spur ... John Boyne erzählt meisterlich die spannende Jagd nach einem mutmaßlichen Mörder, die sich 1910 in London und auf einem kanadischen Passagierschiff so wirklich zugetragen hat.

    Diese Geschichte gibts auch in der Hörspielreihe "Die größten Fälle von Scotland Yord" - hier heißt die 8. Folge "Dr. Crippen".

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)