Irmgard Keun – Gilgi–eine von uns

  • Original : Deutsch, 1931


    INHALT :
    Köln in der Zeit um 1930 : Gilgi lebt in einer gutbürgerlichen, etwas zu eingefahrenen Familie. Sie zieht mit großer Disziplin die Suche nach beruflicher und auch beziehungsmäßiger Unabhängigkeit durch. Einige Freunde, insbesondere Pit und Olga, stehen fest an ihrer Seite, geben aber auch Kontra. Am 21. Geburtstag erfährt sie von ihren Eltern, dass sie eben nicht ihr Kind sei, sondern durch eine Frau Täschler bei ihr elandet sei als Säugling. Eine gewisse Verunsicherung kommt ins Leben, die Suche nach der Mutter beginnt. Kommen andere, neue Fragen auf ? Doch dann taucht Martin Bruck auf, ein vielgereister Bohemien, der so ganz anders lebt. Sie verliebt sich nicht nur, sondern kann sich nun ein Leben mit dem Geliebten vorstellen (ohne Trauschein). Wie entwickelt sich das, und ihre Suche nach selbstbewirkter Unabhängigkeit und Freiheit ?


    (Achtung : Die Inhaltsangaben, ob bei amazon, dem Listverlag oder anderswo, gehen meines Erachtens zu weit, da sie dieses Buch wie einen allgemein bekannten Klassiker behandeln. Es ist nicht nötig, das alles zu wissen, falls man etwas unbeleckter in die Lktüre gehen will...)


    BEMERKUNGEN :
    Diese Irmgard Keun hat mich wohl in ihren Bann gezoegen ! Nach dem neulichen Lesen von Irmgard Keun - Nach Mitternacht und andersweitigen Empfehlungen konnte ich gar nicht anders als zu einem nächsten Buch zu greifen ! Hier also ein noch früherer Roman aus dem Jahre 1931. Aber was für eine erfrischende Sprache !


    Wie könnte man solch einen Roman kurz zusammenfassen ? Wie schon bei dem anderen gelesenen Buch ist auch dieses hier so facettenhaft und reich, dass es sich dem schnellen Verstehen entzieht und es viele Fragen und Entdeckungen aufwirft.


    Der erste Satz lautet : « Sie hält es fest in der Hand, ihr kleines Leben, das Mädchen Gilgi. » Und die ersten Beschreibungen gelten einer sehr selbstdisziplinierten jungen Frau, die nicht nur kräftig arbeiten geht, sondern darüber hinaus sich durch hartnäckiges Studium weitere Sprachen aneignen will. Eine gewiße Unabhängigkeit finanzieller und persönlicher Art sind angestrebte Ziele. Mitten in eine gewisse Selbstsicherheit hnein kommt eine Verunsicherung auf als sie erfährt, dass sie nicht die leibliche Tochter ihrer schön braven Eltern ist. Nicht, dass sie davon soo schockiert wäre, doch nachforschen muss man wohl.


    Als Martin, der sorgenlose Mann von Welt auftaucht, der ohne Probleme hier Schulden hat, da auf Pump lebt, dann aber in die Ferne schweifen will, und sie sich heftig verliebt, kennt sie erstmals nahezu den Wunsch, alles fallenzulassen. Und verliert auch tatsächlich den Arbeitsplatz. Und gleichzeitig möchte sie doch wie die « Kontrolle » behalten, Martin auch zurechtbiegen, und sei es etwas klammheimlich. Tja, man könnte all dies als Kampf, die Suche nach Freiheit, Unabhängigkeit betrachten, innerhalb einer gleichzeitig als fast abhängig empfundenen Beziehung. So bewegt sich das Buch, trotz allen angestrebten Andersseinwollens, in einem gewissen Hin und Her, einer Schaukelbewegung unmerklicher Art. Gilgi steht im Spannungsfeld von Erwartung, Pflicht, Disziplin, Unabhängigkeit-Abhängigkeit, Unbekümmertheit und (Verlust der) Selbständigkeit.


    Ich will hier nicht mehr erzählen von der verwickelten Geschichte. Vielleicht sollte ich sogar sagen, dass ich persönlich insbesondere im letzten Teil inhaltlich manchmal aufzuckte oder gar erschrak, was « Unabhängigkeit » manchmal hier zu implizieren scheint (Selbstbezogenheit, Unberührtbleiben, Abtreibung als legitimiertes Mittel der Unabhängigkeit, Kinder als Beschränkung etc.). Doch ich bin vor allem durch diesen unnachahmlichen Stil, die Sprache Keuns imponiert. Ihr Schreiben verschwimmt wischen innerem Dialog, Beschreibungen, Angesprochenwerden (durch die Autorin?), so dass man manchmal kaum ausmachen kann, wo man steht : bei Gedanken, Gesagtem, Getanen ? Vielleicht – doch ich tue mich da in Definitionen schwer – erinnert solch ein Schreiben an tupfende, springende Gedanken. Sehr beeindruckend !


    Kommt als Besonderheit hinzu, insbesondere in der ersten Hälfte, dass das Buch kölsches Lokalkolorit hat. Die teils ironisch distanzierten Beschreibungen mitten in der Karnevalszeit sind umwerfend. Oder eben der kölsche Dialekt. Teils aber auch berührend die Erwähnung von (noch heute bestehenden, aber eben zerbombten, wiederaufgebauten) Gassen und Strassen in der Kölner Altstadt. Das kann einige besonders ansprechen...


    Hier lacht man und wird nachdenklich ; man wird still und ab und zu schmerzt es auch !


    AUTOR :
    Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren (auch wenn sie sich zeitlebens fünf Jahre jünger gemacht hatte) , versuchte sich zuerst im Kino und fing dann ab 1929 mit dem Schreiben an. Mit mit ihren beiden ersten Romanen, »Gilgi – eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« (1931 und 1932) hatte sie sensationelle Erfolge. 1933 beschlagnahmen die Nazis ihre Bücher und setzten sie auf die Schwarze Liste. 1935 geht sie ins Exil. Der Schriftsteller Joseph Roth wird ihr Lebensgefährte. 1940, nach der Trennung von Roth, kündigt sie öffentlich ihren Selbstmord an und kehrt mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebt. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit kann sie nicht mehr an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der siebziger Jahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt werden. Irmgard Keun stirbt 1982. (Quelle : List-Verlag, erweitert)



    Taschenbuch: 272 Seiten
    Verlag: List Taschenbuch (1. Oktober 2002)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3548602673
    ISBN-13: 978-3548602677

  • Ich könnte seitenlang aus diesem Buch zitieren, versuchen Sprache, Atmosphäre oder Stil zu veranschaulichen. Hier nur einige Beispiele :

    Frau Becker ist stolz auf das Kind. Es ist verlobt mit einem Mercedes-Benz, der ist aber jetzt nicht da, auch nicht der Besitzer. « Phänoùenaler Wagen », erzählt Frau Becker schwärmerisch. (S.87)


    Martin biegt in die Ehrenstraße. Dorado der Hausfrauen. Geschäft neben Geschäft. Metzgerläden illuminieren reizvoll ihre sinnig arrangierten Auslagen. Zwischen blutigen Fleischfetzen ängstigen sich blasse Narzißensträußchen. Wollige, kleine Hasen starren vorwurfsvoll aus toten verglasten Augen. Aus Fischgeschäften strömt der Rachegestank silberbäuchiger Hechte und Schellfische. Damen mit Einholnetzen drängeln beutegierig wie Siouxindianer auf dem Kriegspfad an den Schaufenstern vorbei.... (S.97)


    Elend und Armut, das ist vielleicht nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass man den Menschen hier jedes Verantwortungsgefühl genommen hat. Das Schlimmste ist, dass manche sind, die sich beinahe behaglich fühlen in dem « ich kann nicht dafür » - betten sich in den Begriff ausschließlich fremder Schuld am eigenen Elend wie im Sarg. Lassen sich das gute, gute Wissen um eigene Trägheit und Fehlerhaftigkeit morden, lassen Lebenswillen und Kraftwunsch langsam in sich sterben – können ja nichts dafür. Und daß tatsächlich fremde Schuld das winzige Quäntchen eigene Schuld mit zudeckt – das ist vielleicht das Schlimmste, das ist das Ende, das ist Gestorbensein... (S.184/185)


    Das hört nun keiner gern, dass er’s leichter haben soll als andre. Sind ja nicht gerade schön und restlos beglückend, die eignen Konflikte, aber dafür sollen sie wenigstens sehr einmalig und unter allen Umständen am schwersten sein. (S.220)

  • Diese Irmgard Keun hat mich wohl in ihren Bann gezoegen !


    Wie kommt das nur? :-, Danke für die Rezi und die schönen Zitate (mir gefällt das zweite extrem gut :loool: ) - natürlich ist das Buch auf meiner WuLi gelandet, aber ich wollte ja eh mehr von Irmgard Keun lesen nach meiner ersten Begegnung mit ihr :D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier