Inhalt:
Das Szenario, das den Ausgangspunkt für die Geschichte in Glister bildet, ist die Kleinstadt Innertown, die neben einer Chemiefabrik entstand und deren Bewohner all ihre Hoffnungen auf diese Fabrik stützten. Nun ist die Chemiefabrik bereits seit Jahren stillgelegt. Zurück bleibt nur das im Verfall befindliche Fabrikgelände. Lange Jahre sind Unmengen von Giftstoffen unkontrolliert in den Boden und das Wasser gesickert und haben die Gegend in und um Innertown vergiftet. Auch die Stadt selbst gibt ein trostloses Bild ab, die Menschen haben die Hoffnung aufgegeben, siechen an den verschiedensten Leiden dahin. Die Flora und Fauna der direkten Umgebung Innertowns weisen seltsame Mutationen auf. Innerlich befinden sich die Menschen im Zustand des moralischen Zerfalls. Familiengefühl und Zusammenhalt existieren nicht mehr. Die Autoritäten sorgen dafür, dass keines der Schrecknisse Innertowns an die Öffentlichkeit gebracht wird. Gelder für die Zukunft von Innertown werden vom Verwalter Brian Smith veruntreut.
Aus diesem Szenario einer Kleinstadt ohne Hoffnung verschwinden in gewissen Abständen Jungen von etwa 15 Jahren spurlos. Man gibt sich mit der Erklärung zufrieden, dass sie heimlich und aus freiem Willen aus Innertowns Elend weggelaufen seien. Nur Morrison, der örtliche Polizist, weiß, dass zumindest einer der Jungen nicht weggelaufen ist, sondern umgebracht wurde. Doch da er bei Brian Smith in der Schuld steht, lässt er zu, dass Smiths Leute die Leiche entsorgen und das Geschehen vertuschen.
Ein Junge in Innertown, Leonard Wilson, misstraut der öffentlich verbreiteten Version über das Verschwinden der Jungen. Auch ihm ist, genau wie allen anderen, die Problematik seiner Heimatstadt und die Unmöglichkeit des Entkommens bewusst. Leonard verfällt jedoch nicht wie andere Jugendlichen in Innertown in Drogen, Alkohol und Jugendkriminalität, sondern er rettet sich in die Welt der Bücher. Er teilt mit dem örtlichen Bibliothekar die Vorliebe für Klassiker wie Dostojewskij, Melville, Proust, Virginia Woolf, F. Scott Fitzgerald und andere mehr.
Leonard lernt Elspeth kennen, mit der er seine Hormone in ständigen, bedeutungslosen Sexspielchen auslebt. Er kommt mit Elspeths früherem Freund Jimmy und dessen Bande unfreiwilligerweise in Kontakt. Doch nachdem ein weiterer Junge, ein Cousin Jimmys, verschwindet, gerät die Sache mit der Bande aus den Fugen. In einem unbegründeten Angriff auf einen einsiedlerisch lebenden Mann namens Andrew River nimmt auch Leonard gezwungenermaßen teil. Dabei schnappt er über und macht sich selbst in einem Anfall von Wut und Gewalt an Rivers Tod mitschuldig.
Der Mottenmann, über den Leonard zwar so gut wie nichts weiß, den er aber bereits seit einiger Zeit intuitiv als seinen Freund betrachtet, zeigt ihm eine Möglichkeit der Überwindung von Innertowns Hölle. In seinen letzten Stunden in Innertown lernt Leonard auf verwirrende Weise, dass der Mottenmann als eine Art engelhafter Erlöser, gleichzeitig aber als Racheengel nach Innertown gekommen ist.
Zum Autor: John Burnside wurde 1955 im schottischen Dunfermline geboren. Er studierte in Cambridge Englisch und Europäische Sprachen. Heute unterrichtet er kreatives Schreiben an der St. Andrews University in Schottland. Burnside hat bereits mehrere Gedichtbände sowie Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht, die mit diversen Preisen ausgezeichnet worden sind.
Mein Kommentar:
Das erste Mal, als ich Glister (in der deutschen Übersetzung) las, hat mich das Buch mesmerisiert. Ich konnte nicht richtig erkennen, was mich am Buch so gefangen hatte, weil mich die Handlung in ihrem Verlauf immer mehr verwirrt und verstört hat - dies jedoch auf eine positive, mysteriöse Weise. Mit dem Abstand von fast einem Jahr habe ich die englische Fassung gelesen. Immer noch stelle ich fest, dass es sich bei Glister um ein ganz besonderes Buch handelt:
Bewusste Umweltverschmutzung und gewissenlose Verseuchung der Bevölkerung, Resignation, tatenloses Mitansehen: schwierige Themen für einen Roman. Und doch schafft es Burnside, sie in Glister ganz deutlich aufzuzeigen, und zwar ohne laute Empörung, ohne erhobenen Zeigefinger und stößt so den Leser nicht ab.
Der Handlung des Buches liegt die grundsätzliche Idee der Errettung aus der Hölle von Innertown zugrunde (Himmel, Hölle, Limbus); bis dahin ließ sich das für mich noch relativ leicht nachvollziehen. Burnside bringt diverse religiöse Ansatzpunkte in die Handlung ein, zum Teil offen und direkt, zum Teil recht subtil. Mir war z.B. beim ersten Lesen gar nicht die Bedeutung einzelner Überschriften wie z.B. „Et in Arcadia“ oder „The Fire Sermon“ bewusst geworden – ich musste diese Begriffe googeln, aber die Erklärungen im Web haben mir geholfen, die Handlung ein ganzes Stück besser zu verstehen. Bestimmt fällt es einigen von Euch viel leichter als mir, solche Anspielungen im Buch auf den ersten Blick zu erkennen und zu verstehen.
Mario aus dem BT hat in den obenstehenden Daten zum Buch auch das Video mit dem Autoreninterview verlinkt. Ich möchte jedoch allen raten, die eventuell auf Glister neugierig geworden sind, sich das Interview bis nach der Lektüre aufzuheben, da John Burnside im neunminütigen Video die Idee für das Buch völlig offen ausbreitet. Mein Gedanke ist der, dass vielleicht die wunderbar verstörende Wirkung der ersten Lektüre verlorengeht, wenn man sich das Interview vorher ansieht. (Niemand würde sich einen Teil des Lesevergnügens z.B. an Hesses Glasperlenspiel, oder an Juan Rulfos Pedro Páramo dadurch entgehen lassen, dass er die Interpretation zum Buch vorher liest, oder?)
Burnside erwähnt im Interview, dass er sogar versucht hat, so etwas wie das Doppelspaltexperiment in der Quantenphysik (sh. Erwähnung von Schroedingers Katze) in Glister umzusetzen; jetzt verstehe ich auch meine mit fortschreitender Handlung wachsende Verwirrung. Eine Idee, die mich jedoch begeistert.
Burnside verwendet in Glister eine schmucklose und unprätentiöse Sprache, egal ob es sich nun um die Beschreibung von Verfall und Verwahrlosung oder Gewaltsituationen handelt, oder sogar um die Auseinandersetzung mit Begriffen wie Leere, Schönheit und dem Nichts („Nothingness“). Definitiv trägt die verwendete Sprache in Glister zum starken emotionalen Effekt der Lektüre bei.
Ein weiterer Punkt, der mir außerordentlich gut gefallen hat, ist Leonards Darstellung über Innertowns Stadtbücherei und sein Verhältnis zu Büchern. Ich habe richtig Lust auf einige der Klassiker bekommen, die Leonard so begeistern.
Fazit: Glister ist ein Buch, in dem der Autor John Burnside versucht hat, mit neuen Ideen zu experimentieren. Dieses Buch-Experiment funktioniert durchaus, wie ich meine. Ein außergewöhnliches und verstörend schönes Buch!