Klappentext:
Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn. In diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex sei kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten.
Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich.
"Das Leben wortwörtlich" ist ein gemeinsamer Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.
Die Familienverhältnisse
„Pater semper incertus“ – daher beginne ich mit Jakob Augsteins Mutter: Maria Carlsson.
Maria Carlsson war zunächst verheiratet mit dem Journalisten Hans-Joachim Sperr. Nach dessen Tod im Jahre 1963 war sie liiert mit dem SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. 1964 wurde die Tochter Franziska geboren (bis vor kurzem bei der Süddeutschen Zeitung tätig) und 1967 kam Jakob zur Welt. 1968 heirateten Maria Carlsson und Rudolf Augstein, die Ehe hielt bis 1970.
Nach dem Tod Rudolf Augsteins im Jahre 2002 ging Jakob Augstein den jahrelangen Gerüchten nach und erfuhr schließlich von seiner Mutter den Namen seines leiblichen Vaters: Martin Walser. Diese Tatsache brachte er 2009 an die Öffentlichkeit. Damals war er 40, Martin Walser 80 Jahre alt.
Mein Leseeindruck
Das Buch entstand im Laufe eines Jahres und untergliedert sich in 12 Kapitel + einen Nachsatz von Novalis. Dass die Zahl 12 einen symbolischen Gehalt hat, will ich hier nicht vertiefen.
Die einzelnen Kapitel streifen Martin Walsers Leben: seine Jugend in Wasserburg am Bodensee, seine Kindheit im Nationalsozialismus und die wirtschaftlichen Zwänge, die seine ums Überleben kämpfende Mutter in die NSDAP eintreten ließen. Sie wenden sich auch der Gemeinsamkeit zu, die beide haben: das Schreiben, das Walser als „Entblößungsverbergungsvorgang“ bezeichnet. Es geht um finanzielle Unabhängigkeit und die Bedeutung des Geldes: „Solange man Geld verdienen muss, muss man sich beleidigen lassen“. Pikanterweise geht es auch um Liebe: „Die Liebe der Körper ist nichts, wenn die Poesie fehlt“, und hier erzählt Walser Erstaunliches aus heißen Edinburgher Tagen. Walsers politisches, links-orientiertes Engagement ist ein weiteres Thema (auch wenn er das „Ratgebertum“ von Günter Grass ablehnt), ebenso seine Haltung zur deutschen Teilung bzw. seinen Versuch, diese politische Sachlage historisch-ethisch einzuordnen; er lehnt die Auffassung ab, die deutsche Teilung quasi als Sühne für Auschwitz zu bewerten. Es geht auch um den Voyeurismus der Grausamkeit, wie er sich in der Diskussion um das Phänomen „Auschwitz“ oft zeige, und auch um die Instrumentalisierung von Auschwitz.
Die Gespräche machen auch nicht Halt vor persönlich problematischen Ereignissen wie z. B. dem bodenlosen Verriss seines Buches „Jenseits der Liebe“ durch Marcel Reich-Ranicki: „Jenseits der Literatur. … Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ Das schmerzt Walser noch heute. Das Gespräch beleuchtet die machtvollen Funktionen der literarischen Kritik, vor allem ihre Auswirkungen auf den Schriftsteller und seine Verwundbarkeiten („Vernichtungsangst“). Auch die berühmt-berüchtigte Paulskirchenrede von 1998 fehlt nicht, die Walser den Vorwurf des Antisemitismus einbrachte, und natürlich nicht sein Wut-Buch (?) „Tod eines Kritikers“, der diesen Vorwurf erhärtete.
Alle Gesprächskapitel bieten also durchaus interessanten Lese- und Diskussionsstoff, und als Leser muss man sich meiner Meinung nach überlegen, wie man das Buch lesen will.
Will ich erfahren, wie der Vorgang des Dichtens in Gang gesetzt wird? Will ich wissen, was ein Kritiker darf und was nicht, welche Macht gebe ich ihm als Autor, welche Macht gibt ihm das Lesepublikum? Will ich mehr über die Literaturgeschichte nach dem 2. Weltkrieg wissen? Will ich mich Walser annähern? Wissen, für wen er eigentlich schreibt? Die letzte Frage kann ich gleich beantworten: Nur für sich. Und auch letzten Endes nur über sich. Daher auch seine Bezeichnung: „Entblößungsverbergungsvorgang“ für die literarische Fiktion.
Ich bin kein Walser-Freund und ich habe das Buch als den Versuch einer Annäherung eines Sohnes an seinen Vater gelesen. Schließlich war es der Sohn, der die Familienverhältnisse offenlegte, und es war auch der Sohn, der Jahre später den Kontakt zu seinem Vater suchte. Ich habe das Buch daher als eine Art Spurensuche gelesen, und damit auch als Versuch der eigenen Neu-Verortung.
Die Rollen sind eindeutig verteilt. Das Gespräch ist eher ein Interview. Der Sohn befragt seinen Vater, er ist geprägt von tiefer Wertschätzung, tritt dem Vater absolut wohlwollend, verständnisvoll und offen gegenüber. Das hätte man sich bei der speziellen Biografie auch anders vorstellen können. Jakob Augstein nimmt sich zurück und stellt den Vater in den Mittelpunkt. Er kennt das Werk seines Vaters genau und kann exakt zitieren, auch wenn die unendlich vielen Zitate wohl erst im Nachhinein hineinmontiert wurden.
Walser wiederum besticht durch sein erstaunliches Erinnerungsvermögen; direkt skurril fand ich seine Erinnerung an seine Reichsmeisterschaft im Flaggenwinken. Erstaunlich ist auch sein hohes Maß an Reflexion, mit dem er auf seine früheren Aussagen eingeht und sie relativiert.
Das letzte Kapitel
„Was wir verschweigen“ thematisiert das Vater-Sohn-Verhältnis. Dieses Kapitel ist "nur" ein fiktives Gespräch, und das besagt ja schon viel. Da ich das Buch als den Versuch einer Spurensuche gelesen habe, fand ich dieses Kapitel anrührend. Ein leiser Vorwurf an die verschweigenden Eltern klingt durch: „Ihr habt es mir überlassen, alles zu klären. Warum müssen die Kinder hinter den Eltern aufräumen?“