Birgit Vanderbeke - Das Muschelessen

  • Klappentext:
    Die wenigen Stunden, die der Familienvater sich verspätet, und während derer die Frau und die beiden jugendlichen Kinder wartend am Abendessenstisch sitzen, genügen, um aus der sorgfältig ausbalancierten Kleinfamilie einen Haufen zersprengter Einzelteile zu machen. Die drei sitzen vor einem Berg Muscheln, die sich eklig schmatzend öffnen und die eigentlich niemand außer dem Vater gerne isst, und sie beginnen in dieser unerwarteten Auszeit miteinander zu sprechen. Es entsteht so plötzlich wie überraschend ein Riss in der familiären Scheinidylle. Der Vater wird besichtigt, und es bleibt nicht besonders viel übrig von diesem Mann und seiner fragwürdigen väterlichen Autorität. Birgit Vanderbeke lässt das Labor Familie in die Luft fliegen, sie zieht den Stöpsel, und durch eine kleine Veränderung in der Versuchsanordnung kommen der repressive Mief und der kleinbürgerliche Ehrgeiz, aber auch die versteckte Liebe zutage. (Amazon)


    Zur Autorin:
    Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität. (von der Piper-Verlagsseite kopiert)
    Homepage der Autorin.


    Allgemeine Informationen:
    erschienen 1990 nach Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises
    aus der Ich-Perspektive der Tochter geschildert
    112 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Mutter, Tochter und Sohn sitzen in der Küche und warten auf den Vater, der von einer Dienstreise zurückkommen soll. Sein Lieblingsessen, Muscheln mit Pommes frites, steht schon dampfend auf dem Tisch, denn nie, niemals würde sich der Vater verspäten und nach 18.00 Uhr zum Essen kommen. Nur heute.


    Die Tochter erzählt, und was sich anfangs anhört wie chaotisches Gequassel, wird mehr und mehr zum Psychogramm eines Mannes, der die persönlichen Komplexe wegen seiner Herkunft (unehelich in einem Dorf in der ehemaligen DDR bei einer Mutter groß geworden, die in Unordnung und Schmutz versank) versucht, durch eine perfekte Familie zu kompensieren, dabei seine eigenen Vorstellungen zum alleinigen Maßstab erhebt und sie durchsetzt ohne nach Frau und Kindern zu fragen. Die alle drei vor ihm kuschen, sich aus Angst klein machen und sich Freiheits-Nischen und Verstecke suchen für ihre ganz eigenen persönlichen Bedürfnisse wie Lesen oder Klavier spielen. Unglaublich, wie dieses perfide Unterdrückungssystem aus Angst, Demütigung und verbaler Gewalt funktioniert, und dass keines der drei Opfer, nicht einmal die Mutter, bisher aufgestanden ist und rebelliert hat.


    Die Tochter spricht – denkt in Bandwurmsätzen, gelegentlich unterbrochen von Kommas; Punkte sind seltener. Die Wirkung ist eindeutig: Hier spricht sich jemand alles von der Seele, hat noch nicht einmal Zeit, um Atem zu schöpfen; hier bricht alles heraus, was lange in ihr verschlossen war.
    Erschreckend für den Leser, als er im letzten Drittel erst erfährt, dass die Tochter kein plapperndes Pubertätsmädel ist, sondern eine Erwachsene.


    Am Ende bleibt die Frage: Übertriebene Schilderung? Oder Realerzählung? Ist der Vater eine Kunstfigur, die mit allen Eigenschaften ausgestattet ist, die einen Menschen abstoßend und widerwärtig machen? Oder gibt es sie tatsächlich noch, die Familientyrannnen, die keine fremden Götter und erst recht keine abweichenden Meinungen neben sich ertragen?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Herzlichen Dank @Marie für die sehr gute Rezension! Ich hatte mir daraufhin das Buch besorgt und in einem Rutsch durchgelesen. Zu ergänzen gibt es für mich Nichts, allerdings werde ich mich nach weiteren Büchern der Autorin umsehen. Gerade die Sprache mit den Bandwurmsätzen fand ich prima - vielleicht nichts auf Dauer (dickere Bücher, oder wenn alle ihre Geschichten so verfasst wären), aber zur Abwechslung wirklich klasse. Ich hatte auch gar keine Schwierigkeiten mich einzulesen.
    Marie, wenn ich Dich mal wieder um einen Tip bitten darf: gemäss Deinem BT-Regal hast Du noch sechs weitere Bücher der Autorin gelesen, und "Alberta empfängt einen Liebhaber" am höchsten bewertet. Würdest Du auch heute noch (7 Jahre nach der Lektüre) das Buch am deutlichsten weiterempfehlen?

  • Würdest Du auch heute noch (7 Jahre nach der Lektüre) das Buch am deutlichsten weiterempfehlen?

    Ja. Es ist das vielschichtigste, weil es eine Geschichte auf mehreren Ebenen erzählt. "Die sonderbare Karriere der Frau Choi" mochte ich auch sehr gern, sie ist ein wenig bösartig mit einem Hauch Krimi und einem Hauch Märchen.


    Lies einfach die Rezensionen durch; ich glaube, ich habe zu jedem Buch, das ich von Vanderbeke gelesen habe, zumindest einen Kommentar geschrieben.

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  • Vordergründig eine Erzählung über eine Familie - bestehend aus Vater, Mutter, Tochter und Sohn - die ein scheinbar ganz normales Leben führen. Zumindest ein Leben, welches der Vater - Patriarch durch und durch - als normal empfindet. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich jedoch um eine politische Parabel, die Bezug nimmt auf die Geschehnisse in der ehemaligen DDR.


    Auf nur 128 Seiten ist der Autorin ein Werk gelungen, welches in der Tat außergewöhnlich ist. Der Schreibstil fällt natürlich sehr ins Auge und genau an ihm scheiden sich auch scheinbar die Geister der Leser. Das ganze Buch wurde ohne nennenswerte Absätze mit ellenlangen Sätzen, quasi ohne Punkt und Komma verfasst. Das ist nicht jedermanns Fall. Wen das jedoch nicht stört wird mit einer Erzählung belohnt, die in ihrer Aussagekraft und Andersartigkeit absolut brillant ist!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: Sterne gibt es dafür von mir.

  • Bei genauerer Betrachtung handelt es sich jedoch um eine politische Parabel, die Bezug nimmt auf die Geschehnisse in der ehemaligen DDR.

    Diese Interpretation hatte ich schon in Wikipedia entdeckt, aber nicht zitiert, weil ich sie für ziemlich weit hergeholt und nicht text-immanent halte.

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  • Ich finde schon, dass der Bezug zur DDR im Text gut zu erkennen ist. Beim Lesen drängte sich mir dieser Verdacht immer mal wieder an verschiedenen Stellen auf. Und als ich dann einige Zeit später über Interpretationen zu dieser Erzählung stolperte, merkte ich, dass dies wohl auch in der Absicht der Autorin lag.

  • Mein zweites Vanderbeke-Werk und ich bin ziemlich hin und weg. Die Frau gefällt mir ungemein gut, wie sie da erzählt. Was Marie hervorhebt ist tatsächlich ein kaum absetzendes Sich-Von-Der-Seele -Reden. Insgesamt (wenn ich mich nicht verzählt habe) sind nur drei Absätze eingebaut. Gerade genug um neu einzutauchen und weiter geht die Fahrt. Das hat was Atemloses, Vorantreibendes an sich, ein Befreiungsschlag, wo man sich erst aber mal langsam hintasten muss. Denn am Anfang steht oft noch ein Erschrecken, "Huch, was habe ich jetzt gesagt?", und was wäre wenn der Vater nun heimkäme? Dieses Schreiben hat auch etwas Mündliches an sich: auffällig auch, wie gewisse Themen, Schlagwörter variiert werden über ein, zwei Seiten lang, und das hat teils etwas "Urkomisches", dann aber auch etwas Groteskes an sich.


    Ich finde den Klappentext nicht besonders gut. Denn eigentlich wird hier nicht eine Familie zersprengt in seine Einzelteile... Was vorher existierte war ein derartig künstlich und gewaltmäßig dominertes Geflecht, dass man wohl kaum von einer Einheit und wirklicher Familie sprechen kann. Ja, im Prinzip finden sich die Geschwister und die Mutter hier einander in einer gewissen Form schweigenden, dann ausgesprochenen Einverständnisses.


    "Es ist überhaupt erstaunlich, was die Leute machen, wenn etwas nicht normal verläuft, eine kleine Verschiebung weg vom Normalen und plötzlich ist alles anders, aber auch gleich alles, kaum ist durch irgendeinen Zufall etwas nicht so wie normal, laufen sie auseinander, wo sie vorher zusammengehalten haben, Mord und Totschlag geht los, und sie würden sich gerne, am liebsten lebendig, die Köpfe abreissen, ungeheuerliche Gewalttaten und Gemetzel, die wüstesten Kriege entstehen daraus, dass aus purem Versehen einmal nicht alles normal ist, und so ist es ja schließlich im großen und ganzen gewesen an diesem Abend..."