Veronique Olmi - Nacht der Wahrheit / La nuit en vérité

  • Klappentext:
    Eine junge Mutter und ihr heranwachsender Sohn wohnen in einem Pariser Luxusappartement, direkt am Palais Royal. Doch so riesig die Wohnung ist, sie schlafen zusammen in einer Kammer, denn Liouba Popov ist das Dienstmädchen und Enzo ihr uneheliches Kind. Die beiden sind ganz sich selbst überlassen und doch dauernd unter Druck, denn wenn das ständig verreiste neureiche Besitzerpaar überraschend zurückkommt, muss alles perfekt sein. Dann nennen sie sie »Baba«, weil man sich diese ausländischen Namen ja nicht merken kann, und sind auch zu Enzo, der sich von Nutella ernährt, von herablassender Nettigkeit.
    Enzo ist einsam und viel zu dick, und Liouba, die Samstagabend immer mal einen Liebhaber mit heimbringt, ist ihre Mutterrolle selbst nicht geheuer. Sie flüchtet sich ins Putzen, er in die Bücher der großen Bibliothek; in dem feinen Lycée, auf das seine Mutter so stolz ist, ist er als Sohn der bonne der gehänselte Außenseiter. Und warum weicht Liouba allen Fragen nach seinem Vater, den russischen Wurzeln der Familie aus?
    Wohin gehört man überhaupt, wenn man nirgends willkommen ist? Als die Situation eskaliert und Enzo von seinen Mitschülern fast gelyncht wird, ist für beide die Zeit für einen Ausbruch gekommen.
    (von der Antje-Kunstmann-Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt heute mit ihren zwei Kindern in Paris. In Frankreich wurde sie, als eine der bekanntesten Dramatikerinnen des Landes, für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 1990 hat die ausgebildete Schauspielerin zwölf Theaterstücke verfasst, am Anfang stand sie bei deren Aufführung auch selbst auf der Bühne und/oder führte Regie. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt, einige Stücke liegen auch in deutscher Übersetzung vor (bei Suhrkamp) und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Ihre Romane stehen seit Jahren auf den Bestsellerlisten. In Deutschland erschien von ihr zuletzt "In diesem Sommer". (von der Antje-Kunstmann-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: La nuit en vérité
    Erstmals erschienen 2013 bei Editions Albert Michel, Paris
    Aus dem Französischen übersetzt von Alexandra Baisch und Claudia Steinitz
    Aufgeteilt in Abschnitte ohne Titel oder Nummer
    Aus der personalen Perspektive von Enzo erzählt mit kürzeren Passagen von Liouba oder einem unbeteiligten Beobachter
    269 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Wer zu einem Buch von Olmi greift, darf damit rechnen, keine leicht lesbare, unterhaltende Lektüre vor sich zu haben, sondern eine Auseinandersetzung mit schwierigen Protagonisten, deren Probleme sich zu gesellschaftlichen Fragen ausdehnen können. Trotzdem: Lohnenswert ist das Lesen ihrer Bücher allemal.
    Von wenigen Ausnahmen abgesehen steht in Olmis Romanen - wie hier – ein Kind im Mittelpunkt, was das Lesen ohnehin zu einer emotionalen Angelegenheit macht.


    Enzo und seine Mutter leben in einer Symbiose, die beide in ihrer Entfaltung und ihrer Freiheit einschränkt. Er geht ihr zuliebe auf eine private Eliteschule, die er verabscheut, und wo er ständigen aggressiven Attacken seiner Mitschüler ausgesetzt ist; sie arbeitet als Hausmädchen und Putzfrau für ein sehr reiches Ehepaar, das selten zuhause ist, und gönnt sich nichts, um ihrem Sohn die bestmögliche Bildung zu finanzieren. Der Sohn leidet unter ständiger Angst vor dem nächsten Schultag; er fragt nach seinem Vater, seinen mütterlichen, russischen Wurzeln, doch die Mutter weicht aus.
    Dass er zwischen reich und modisch gekleideten, sportlichen Schülern Außenseiter ist, scheint vorprogrammiert. Enzo ist dick, trägt immer schwarz – die Farbe soll schlank machen – und Trainingsanzüge, die seine Mutter zwar von bekannten Markenfirmen, aber dennoch in Second-Hand-Läden kauft, und die somit offensichtlich aus der letzten Saison stammen.
    Doch scheinen es vor allem sein russischer Name und seine unbekannte Herkunft, die ihn zum Ziel für seine Mitschüler machen.
    Die Mutter plagt eine andere Furcht: Was, wenn die Besitzer der Wohnung unvermutet nach Hause kommen? Genügt ihre Arbeit deren Ansprüchen? Also putzt sie täglich alles, verrichtet Arbeiten zwei-, dreimal, und wird zur Getriebenen ihrer Ängste und eines vermeintlichen Sauberkeitswahns.


    Eine bedrückende Atmosphäre, vor allem, weil quasi nebenbei erzählt wird, dass die Mitschüler einen Großangriff auf Enzo planen.
    Bis dahin hat die Autorin den Leser auf ihren Protagonisten eingeschworen, so dass man seine Qualen, sein Grauen im Unterricht und sein Alleinsein mitempfindet. Doch durch einen kleinen literarischen Kniff schafft sie es, dass der Höhepunkt (oder Tiefpunkt) der Handlung nicht unerträglich wird: Sie verschiebt die Perspektive ein kleines Stück, dass man als Leser ein wenig zum unbeteiligten Zuschauer werden kann.


    Was darauf folgt, wirkt eher kryptisch: Enzo erscheinen Personen, die zu seiner realen Vergangenheit gehören, nehmen ihn mit in ihr Leben und offenbaren seine familiären Wurzeln. Traum? Phantasie? Fieberwahn?
    Die Frage lässt sich nicht eindeutig klären, doch das, was Enzo erlebt, bringt ihn zu einer folgenreichen Entscheidung. Und seine Mutter auch.


    Ein verstörendes Buch. Eben ein typischer Olmi-Roman.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)