Philippe Claudel – Flore/Meuse l’oubli

  • Original: Meuse l’oubli (französisch, 1999)


    ZUM BUCH: In “Flore” erzählt der Ich-Erzähler vom Tode seiner gleichnamigen Geliebten (im Französischen Paule, doch das hätte wohl auf Deutsch Verwirrung geschafft?) und seiner Flucht in eine fremde belgische Kleinstadt an den Ufern der Maas (=Meuse). Ein Jahr wird er dort verbringen und einen langen, langsamen Weg gehen im Leben mit der Trauer, den Erinnerungen und schließlich dem unmöglich gehaltenen, aber sich langsam einstellenden Vergessen und Verwischen. Geprägt ist das Buch von den Erinnerungen an Momente der Nähe mit der Geliebten in Berührung, Duft, Stimme, aber auch dem Blick auf die einsame, kalte Kindheit unter der Mutter, die als Prostituierte arbeitete und ihn ablehnte. Das Dorf entspricht irgendwie der inneren Seelenlandschaft: halb in Ruinen und Häuser zum Verkauf feil, der Vergangenheit zugewandt, ohne Zukunft... Die dort lebenden Menschen sind sowohl von einer robusten, herzlichen Einfachheit als auch – wie der Erinnernde nach und nach feststellen wird – von der Gegenwart ihrer Toten und ihrer Trauer geprägt. Jeder, so scheint es, musste sich früher oder später dem Tode stellen: die Herbergsfrau in der Erinnerung am im Krieg gefallenen Mann, der Fleischer an seine geflohene und verunglückte Frau etc...


    BEMERKUNGEN: In seinem Erstlingsroman geht Claudel mit dem Betroffenen den langen Weg vom Augenblick des Todes des geliebten Menschen, der Weigerung von Trostangeboten, der Auflehnung, dem festhalten Wollen, der Flucht, den Erinnerungen bis hin zur sich ganz allmählich einstellenden Besänftigung. Liegt unvermeidbar ein Vergessen vor? Wie kann man sich Neuem öffnen, solange man noch in nächster Nähe zum Unverständlichen lebt? Wie kann man vergessen ohne zu verraten? Erst nach langen Zeiten, hier einem Jahr, zeichnet sich ein sanftes Übergleiten der ganz intensiven Trauerarbeit ab und lässt der Autor erahnen, dass eines Tages vielleicht wieder Platz für eine andere da sein wird.


    Auch in äußeren Bildern spielen Fragen von Trauer und Tod eine bildhafte Rolle: das halbverlassene Dorf, die Jahreszeit des Spätherbstes als Ankunftszeit, die Toten der verschiedenen Dorfbewohner und ihre Art der Trauerarbeit, der Friedhof: der Tod, die Abwesenheit von Menschen sind Schlüsselmotive Claudelscher Prosa. Doch hat der innere und äußere Winter eines Tages ein Ende...: da ist der unmerkliche Übergang vom beißenden Schmerz hin zur Erinnerung; das langsame Platzlassen für eine neue Realität, auch eine noch am fern am Horizont Möglich werdende neue Beziehung.


    Dies war wohl mein sechstes (?) Buch von ihm, doch erschienen ist es als erstes seiner Romane. Und man findet Claudel schon in seinem Können. Trotz Einleseschwierigkeiten für mich eine wirklich schöne Entdeckung im Werk des Autors!


    ZUM AUTOR: Philippe Claudel (* 2. Februar 1962 in Dombasle-sur-Meurthe, Lothringen) ist ein französischer Schriftsteller, Dramatiker und Filmregisseur. Er ist seiner Heimat eng verbunden. Lange unterrichtete er in einem Gefängnis. Er wurde in Deutschland zuerst durch seinen Roman „Die grauen Seelen“ bekannt, der die Situation in einem lothringischen Dorf im Hinterland der Front des ersten Weltkrieges schildert. Mit diesem Buch gelang ihm die große Sensation des französischen Bücherherbstes 2003: Die grauen Seelen wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet, zum Buch des Jahres gewählt und stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste. Sein erster als Regisseur gedrehter Spielfilm Il y a longtemps que je t'aime (englischsprachiger Festivaltitel: I've Loved You So Long) wurde 2008 auf der 58. Berlinale uraufgeführt.


    Hier noch Angaben zu einer französischen Ausgabe (ich las das Buch auf Französisch):
    Französische Ausgabe « Meuse l’oubli » :
    Détails sur le produit
    Poche: 157 pages
    Editeur : Gallimard (septembre 2005)
    Collection : Folio
    Langue : Français
    ISBN-10: 2070315037
    ISBN-13: 978-2070315031

  • Danke, Tom! Das hast du wirklich sehr schön u ausführlich beschrieben. Deine Rezi spricht mich sehr an. Ich habe das Buch mal auf die Wunschliste gebeamt.
    :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Danke für die schöne Rezi, Tom! :thumright:
    Das Buch landet gleich auf meiner Wunschliste.
    Ich habe schon "Die grauen Seelen" und "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" gerne gelesen. :)


    :winken:

  • Danke Ihr beiden!


    Wer andere Bücher des Autors schon gelesen und gemocht hat, wird auch sicherlich an diesem hier etwas finden...


    Ich füge noch etwas in die Runde fragend hinzu, ob ich wohl mit der Vermutung richtig liege, dass Flore der Name seiner Geliebten ist? Da ich das Buch auf Französisch gelesen habe, kamen mir gestern hinterher echte Zweifel, ob ich gut geschlußfolgert habe!

  • Hallo Tom,
    ein neuer Philippe Claudel wunderbar. Danke für die Rezi.
    Bisher habe ich drei Bücher von ihm gelesen: An meine Tochter, Die grauen Seelen und Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, wobei letzteres mein absoluter Liebling dieses, wie ich finde, ungewöhnlichen Autors ist. Beim Thema von Flore bin ich allerdings zum ersten Mal etwas unsicher, ob es wirklich für mich geeignet ist oder mich in seiner Traurigkeit zu sehr mit hinabreißt. Schade, dass man nirgends wenigstens eine Leseprobe findet. Ich überlege noch, habe es aber schon mal auf meine Wunschliste gesetzt. :)


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Louis Aragon, Aurelien

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • bin ich allerdings zum ersten Mal etwas unsicher, ob es wirklich für mich geeignet ist oder mich in seiner Traurigkeit zu sehr mit hinabreißt.

    Genau das war auch mein Gedanke! Aber Tom beschreibt es ja so, dass sich der Protagonist aus seiner Trauer herausarbeitet u wieder Halt findet im Leben.
    Diese Bücher geben mir dann trotz der anfänglichen Düsternis ganz viel Power. Ich bin gespannt! :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Hallo wirbelwind und cheriechen!


    Also es ist der ERSTE Roman von Claudel gewesen und in dem Sinne kein neuer. Nur eben las ich ihn erst jetzt.


    Wenn Du die von Dir genannten drei Bücher gemocht hast, wird es Dir mit diesem wohl auch gut ergehen. Ich empfand, dass auch dort eine teils dunkle Atmosphäre herrschen kann, doch manchmal schafft es Claudel, dann einen (mehr oder weniger) leichten Gegenakzent zu setzen. Selbst in großer Dunkelheit gibt es noch irgendwo ein Lichtchen, oder "ein anderes Element". So habe ich es oft empfunden.


    Ein starker Aspekt des Buches ist die Erinnerung an die KÖRPERLICH erfahrenen Nähe mit der Geliebten. Da trifft Claudel zärtliche und direkte Töne, ohne Umschweife und falsche Scham.

  • .....und es wird immer erstrebenswerter, das Buch haben zu müssen, da sollte ich doch gleich mal wieder zu amazon :-,

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  • Ich habe das Buch heute gelesen und ich kann mich tom fleo nur anschließen. :wink:
    Da lässt sich nicht mehr viel hinzufügen. :mrgreen:
    Nur den stolzen Preis für ein recht dünnes Buch kann man vielleicht noch erwähnen.


    :winken:

  • Tja und auch gebraucht kaum günstiger zu bekommen. :-? Aber nachdem es dir ebenfalls gefällt lohnt es sich wohl. :)


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









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