"Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlaßt, ihre Tochter zu töten." So beginnt die außergewöhnliche Geschichte der Aurora Rodríguez, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung an die Schranken gesellschaftlicher Konventionen stößt und ihre Träume von einer besseren Welt von einer anderen, fähigeren Person realisiert sehen möchte: einer Frau, ihrer Tochter Hildegart.
Vorneweg: Die Erzählung beruht auf dem Leben der Aurora Rodríguez und ihrer Tochter Hildegart.
Den Beginn der Erzählung (s.o.) halte ich für überaus gelungen, schließlich führt er gleich weg von der allzuüblichen Frage nach dem "was passierte" zu dem weit psychologischeren "Warum?". Dementsprechend ist die Erzählung auch psychologisch - anhand des Lebens der Aurora Rodríguez ist nachzuvollziehen, warum sie ihre Tochter erschossen hat. Ob man dann schlußendlich ihrer Version glaubt ("meine Tochter bat mich sie zu töten") oder ob es doch, worauf zahlreiche Schlüsselerlebnisse - schon in der Kindheit - abzielen, darauf zurückzuführen ist, dass sie ihre Tochter als ihr Eigentum betrachtete bzw. nicht gelernt hat Leben richtig anzuerkennen.
Eine weitere Ebene ist die historisch/soziale. Der Roman ist wunderbar eingebunden in die Vor-Franquistische und Vor-Republikanische Lebenswirklichkeit; er zeigt Ideen und Utopien zur Überwindung der Armut, er zeigt die Ungleichbehandlung von Mann und Frau und vor allem - schließlich geht es um eine Feministin - auch die Schwierigkeiten die Emanzipation zu propagieren und umzusetzen. Aus dieser Schwierigkeit, aus diesem Frust über die frauenfeindliche Lebenswirklichkeit, ist ja auch Auroras Tochter so erzogen, wie sie eben erzogen worden ist.
Ich finde mit meinem Interpretationsvermögen noch eine weitere Ebene: die der Frage nach der Umsetzung von utopischen Idealen, die m.E. analog zu gewissen Entwicklungen in Sowjetrussland stattfindet. Die ideologische Fixierung, die Kompromisslosigkeit und Ungeduld, das etwas mangelnde Anpassungsvermögen an die tatsächlichen Gegebenheiten, das Mißtrauen und daraus resultierend Kontroll- und Überwachungsdrang; das sind die Dinge, die sich auch bei Aurora finden lässt und die, die ansich gute Idee und den guten Willen, bisweilen vergessen lassen. Und als dann (fast) am Ende der Entwicklung die Tochter getötet wird, da kam mir unweigerlich der Gedanke an "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder". Und bei einem 1987 geschriebenen Buch, ist das nicht allzu abwegig anzunehmen. Daneben sind aber auch tagesaktuellere Fragen zu finden: die nach der richtigen Erziehung der Kinder und nach Dogmatismus generell und insbesonders in der Erziehung, die Frage nach der glücklichen Kindheit und Jugend (s.o. Wikipedia Artikel), Abhängigkeit von anderen Menschen...
Kurzum: ein überaus facettenreiches und überzeugendes Buch. Von einem mir, bis dato, kaum bekannten Autor. Was sich sicher ändern wird; der steht bei mir jetzt auf nem Spitzenplatz der zu lesenden Gegenwartsautoren.