Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort / Bergljots Familie/ Arv og miljö

  • Kurzmeinung

    drawe
    Blick in eine verstörte Seele, ein Gedankenstrom, der sich immer aufs Neue wiederholt
  • Klappentext/Verlagstext
    Das Schlimmste passiert dort, wo wir uns sicher fühlen: in der eigenen Familie. Was nach dem plötzlichen Tod des Vaters zunächst wie ein Erbstreit zwischen Geschwistern aussieht, wird für die ältere Schwester Bergljot zu einem Kampf um die jahrzehntelang verdrängte Wahrheit. Es geht nicht um Geld und Besitz. Es geht darum, wem die Vergangenheit gehört. Mit unverwechselbarer Konsequenz erzählt Vigdis Hjorth von der Sehnsucht nach Anerkennung, von der Kraft der Befreiung und von der Frage, ob wir unserer eigenen Geschichte vertrauen dürfen.

    Mit »Ein falsches Wort« gelang Vigdis Hjorth der internationale Durchbruch. Der Roman löste in Norwegen einen Skandal um die Wahrhaftigkeit von Literatur aus, gewann eine Vielzahl von Preisen und festigte Hjorths Status als eine der bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit, die 2023 für den International Booker Prize nominiert war und deren Werk in 20 Sprachen übersetzt ist.


    Die Autorin
    Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. Zuletzt erschien »Die Wahrheiten meiner Mutter«. Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und in Frankreich lebt Vigdis Hjorth heute in Oslo.


    Ausgaben
    „Ein falsches Wort“ ist auf Deutsch bereits 2017 unter dem Titel „Bergljots Familie“ bei Osburg erschienen.

    Die überarbeitete Fischer-Ausgabe erscheint am 13.3.


    Inhalt

    Die Theaterkritikerin Bergljot hat vor 23 Jahren den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und auch den ihr nahestehenden Bruder Bård seit Jahren nicht gesehen. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und hat bereits Enkelkinder. Damals eskalierte ein sorgsam unterdrückter Familienkonflikt, als die älteste Tochter endlich aussprach, dass sie als Sechsjährige sexuelle Gewalt durch ihren Vater erlitt und ihre Mutter sie im Stich ließ, um die finanzielle Versorgung durch die Ehe nicht zu gefährden. Der Patriarch war ein Exemplar nach dem Motto „nicht gemeckert ist genug gelobt“, unter dessen Missachtung besonders der einzige Sohn litt. Die Tochter erhielt das Etikett psychisch auffällig.


    Die damalige Überschreibung der beiden Ferienhütten auf der Insel Hvaler allein an die jüngeren Töchter benachteiligte Bergljot und Bård, da ihre Ausgleichszahlungen viel zu niedrig kalkuliert waren. Die Hüttenfrage war Symptom toxischer Kommunikation der Familie, in der bis in die Gegenwart jede Äußerung der „B-Kinder“ negativ ausgelegt wurde und die um die Eltern bemühten „A-Töchter“ sich über die aus ihrer Sicht unangemessen große Beachtung der Älteren empörten.


    Mails, Anrufe und Rückblenden in die Kindheit zeigen aus der Sicht der Icherzählerin Bergljot ein System, das sich allein um die Vertuschung der sexuellen Gewalt des Vaters drehte. Die beiden älteren Kinder fühlten sich im Vergleich mit den „braven“ jüngeren Töchtern nicht wahrgenommen und mieden als Erwachsene gemeinsame Ferien mit den Eltern, was in der Erbfrage zu ihrem Nachteil ausgelegt wird.


    Durch die Kommunikation mit ihrer Tochter Tale und ihrer Freundin Klara (die beide mit klarer eigenständiger Stimme sprechen) erhält die Handlung zusätzliche Tonspuren, die Bergljots Glaubwürdigkeit untermauern. Genau diese klare Haltung hat ihr als Kind gefehlt. Das Auffächern der Motive der Mutter schließlich gibt Einblick in Strukturen, die Straftäter schützen und dem Opfer die Verantwortung für die Tat zuschieben.


    Fazit

    Der Roman, der in Norwegen einen Skandal lostrat, lässt sich flüssig lesen und kann ein Augenöffner sein.


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  • Das Original


    Format 343 pages, Hardcover
    Published September 1, 2016 by Cappelen Damm
    ISBN 9788202512736 (ISBN10: 8202512735)

    Language Norwegian


    https://www.goodreads.com/review/show/5934622541

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  • Die Osburg-Ausgabe


    Was zunächst wie eine unangenehme Erbangelegenheit aussieht, bei der es um zwei Sommerhäuser auf einer idyllischen Insel im Oslofjord geht, entpuppt sich schon bald als etwas weitaus Tiefgreifenderes. Nach dem Tod ihrer Eltern muss Bergljot, eine Frau in den Vierzigern, feststellen, dass der aufkommende Geschwisterstreit nur die Spitze des Eisberges ist.

    Das Testament fördert verdrängte und unausgesprochene Konflikte zutage, die Bergljot dazu zwingen, über ihre Familiengeschichte nachzudenken. Warum schwieg ihre Mutter so eisern zu allem, was zwischen Bergljot und ihrem Vater vorgefallen war? Wie konnte er so viel Macht über seine Familie erlangen? Wie tief sitzen die Verletzungen, die er seiner Tochter zugefügt hat? Kann man die Vergangenheit überhaupt vergessen? Und warum leben Lügen so beharrlich fort?

    Bergljots Familie beeindruckt durch seine sezierende Klarheit. Der Roman setzt dort an, wo Verletzungen die Menschen am härtesten treffen: in der eigenen Familie.

    Poetisch und zugleich energisch, mit hintergründigem Humor und großer Treffsicherheit entwickelt Vigdis Hjorth das Drama einer gutbürgerlichen Familie. Ihr neues Buch stand in Norwegen länger als ein halbes Jahr auf den Bestsellerlisten. Mit ihm hat sich Vigdis Hjorth in die erste Reihe europäischer Schriftstellerinnen geschrieben.

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  • Was ich schon immer sagen wollte


    Das Cover läßt farblich an einen Sommertag auf dem Lande denken - eine Person sitzt abseits, es drängen sich Vermutungen auf. Sommerlich-leichte Wohlfühllektüre wird das Buch nicht werden, das kann man dem Klappentext entnehmen.


    Diese Familie ist eindeutig in zwei Lager geteilt. Zum einen die Eltern mit den beiden jüngeren Töchtern Astrid und Åsa und auf der anderen Seite die Tochter Bergljot und Sohn Bård. Die Eltern hatten ihre beiden Ferienhütten kürzlich den jüngeren Schwestern überschrieben. Es wurde festgelegt, daß die beiden älteren Kinder eine Ausgleichszahlung erhalten sollten. Diese fiel allerdings vergleichsweise gering aus. Über diese Ungerechtigkeit entbrennt aktuell und oberflächlich betrachtet ein weiterer Familienzwist. Astrid informiert jetzt ihre Schwester Bergljot, daß die Mutter einen Suizidversuch unternommen hat. Bergljot hat den Kontakt zu den Eltern schon vor langer Zeit abgebrochen, und zwar als sie über den Mißbrauch durch den Vater erzählte und es niemand hören wollte. Sie hat in diesem Zusammenhang ein Trauma, das sie bis heute verfolgt. Mittlerweile hat sie selbst erwachsene Kinder und Enkel. Auch Bård bekam die negative Seite des Vaters in Form von Prügeln zu spüren. Die beiden jüngeren Geschwister sehen die Eltern mit ganz anderen Augen. Deshalb sind sie offensichtlich auch nicht verwundert, als ihnen die beiden Ferienhäuser überschrieben werden und Bergljot und Bård eine Abfindung bekommen sollen. Allerdings und das ist der nach außen größte Streitpunkt - zum Marktwert. Die Mutter hatte einen Geliebten, kehrte aber schlußendlich zum Vater zurück, wurde von ihm gnädigerweise wieder aufgenommen, dafür bekam aber seine Gewalt und Wut zu spüren. Die Mutter selbst ist stärker als alle denken und eine „gute Schauspielerin“. Mein Eindruck war, daß sie gerne im Mittelpunkt stand und auch den mißlungenen Suizidversuch genau geplant hat. Sympathie konnte ich für sie nicht aufbringen, denn sie hatte es versäumt, Bergljot ernst zu nehmen und in ihrer Not zu unterstützen.


    Als Leser bemerkt man sofort, daß in dieser Familie nichts stimmt. Der Schreibstil und die Geschichte sind nicht einfach zu lesen, denn sie sind eindringlich, bedrückend, dramatisch, beklemmend und emotional. Obwohl mir die Figuren alle sehr distanziert blieben, kam für mich ein Lesesog auf. Von familiärer Harmonie war hier nichts zu spüren.


    Ich kann das Buch auf alle Fälle empfehlen!



  • Mein Lese-Eindruck:


    Der Plot ist schnell erzählt: der Vater stirbt, die Familie streitet sich ums Erbe, und alte Konflikte und Verletzungen werden wieder lebendig. Eine bekannte Situation.


    Der Roman besteht aus einem einzigen Gedankenstrom, der verschiedene Zeitebenen und Lebensphasen in den Blick nimmt und der gelegentlich mit Reflexionen von psychologischer Fachliteratur unterfüttert wird. Als Leser sitzt man quasi im Kopf der Protagonistin und muss ihre ewig kreiselnden Gedanken aushalten, so wie sie selbst eben auch und auch ihre Kinder, ihre Freunde und Lebenspartner. Dieser Gedankenstrom wirkt auf den ersten Blick unstrukturiert, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: sehr kunstvoll kreiselt sich die Erzählerin zu dem eigentlichen Thema hin, sie verdichtet die Anzeichen und stellt das üble Geschehen in der Mitte des Romans wie in einem Showdown vor.


    Dieser Blick in einer verstörte (gestörte?) Seele ist nicht leicht auszuhalten, und die Erzählerin erschwert ihn zusätzlich durch ständige, teilweise wortwörtliche Wiederholungen, durch ständigen Aufgriff bereits gesagter Inhalte, durch identische Motive und durch Rückgriffe auf Bekanntes. Diese Art zu erzählen macht das Lesen schwer; eine straffere und weniger wortreiche Erzählweise hätte der Aussage des Buches gutgetan.


    Die Erzählerin nimmt auch in immer kleinen Facetten die anderen Familienmitglieder in den Blick und zeigt auf, was ihr Vorwurf mit ihnen macht. Hier zeichnet sie sehr subtil die Zerstörung einer Familie nach. Im Fadenkreuz steht insbesondere die Mutter. Die Mutter ist wirtschaftlich vom Vater abhängig, und ihren Sozialstatus leitet sie ebenfalls von ihrem Mann ab. Sie stellt aus eigener Kraft nichts dar. Daher kämpft sie mit teilweise merkwürdigen Mitteln um Geltung. Sehr schön stellt die Autorin heraus, wie die Mutter ihre Schwäche zur Waffe macht und sich damit immer wieder in den Mittelpunkt schiebt. Zugleich ist die Mutter bestrebt, das öffentliche Ansehen der Familie zu wahren. Der äußere Schein ist ihr jede Lebenslüge wert und erklärt den Verrat an der Tochter. Auch die Geschwister werden in diese Lebenslüge verstrickt und werden zur Parteinahme gezwungen.


    Das grundlegende Problem besteht darin, dass das gesamte Geschehen aus Bergljots Sicht erzählt wird und der Leser den Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann. Was stimmt? Was wird imaginiert, ohne deswegen weniger leidvoll zu sein? Bergljot ist, bei allem Mitleid für ihr Leiden, keine sympathische Protagonistin. Es gelingt ihr im Laufe eines langen Familien- und Berufslebens nicht, ihre Verletzungen zu heilen. Immer wieder heizt sie den Konflikt mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter aufs Neue an, ohne ihn einer Lösung zuführen zu wollen. Der Eindruck entsteht, dass sie in ihrem Leid verharren will.


    Und so entsteht Seite für Seite das Bild einer Familie, in der das öffentliche Ansehen und die harmonische Fassade wichtiger sind als die Probleme einzelner Familienmitglieder, die als Störfaktoren kurzerhand und dauerhaft unter den Teppich gekehrt werden.


    Eine nicht einfache, aber lohnende Lektüre!


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).