Joseph Roth - Hiob (ab 01.03.2024)

  • Das ist mir in diesem Moment sogar sympathisch:

    Na ja - "die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässrig, die Karpfen schmal" und so fort.

    Sam scheint ihnen offensichtlich das zu geben, was sie zum Leben brauchen, und wenn Deborah daran spart, wird der gute Mendel noch klappriger. Ich stelle ihn mir sowieso vor wie Don Quichote, so klapperdürr.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Wer ist er, dass er über eine gütige junge Frau derart urteilt? Ohne seine Frau und jetzt auch seinen Sohn wäre er doch völlig verloren.

    Du hast ja Recht, das bestreite ich wirklich nicht.

    Aber er darf doch noch denken, was er will... Ich bin froh, dass er es nur denkt und nicht laut sagt.

    Und ich befürchte, er denkt so, wie alle orthodox verknöcherten Juden in Wolhynien denken. Seine Misogynie ist unübersehbar.

    Ich möchte ihn als Ehemann mal nicht geschenkt. Ich stelle mir ihn nicht nur klapperdürr, sondern auch schlecht-riechend vor. Miefig halt.


    ist eine Parallele zu Hiob:

    Der Job des Alten Testamentes preist auch immer wieder die Größe Gottes etc., trrotz seines Unglücks. Vielleicht wollte Roth diesen Preisgesang auch wenigstens einmal übernehmen?

    Ansonsten hast Du Recht mit Deiner Beobachtung, finde ich.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Hallo ihr beiden,


    also ich muß gestehen, daß mich abwertende oder gar frauenfeindliche Äußerungen auch oft aufregen ( je älter ich werde...). Auch wenn sie den Zeitgeist oder das vorherrschende Weltbild wiederspiegeln sollen oder eine Figur charakterisieren... :uups: :pale:

    Es begegnen einem ja auch heute noch solche Sprüche :evil:


    Ich denke das Mendel noch geprüft wird auf seine Glaubensfestigkeit. Das Buch hat ja noch ein paar Seiten :loool:. Bis jetzt wurde er noch nicht geprüft, er lebt und betet wie zuvor nur mit anderen Abläufen aber in ähnlich ärmlichen Verhältnissen. Wobei Sam ja noch größere Pläne hat und auf die andere Seite des Flußes möchte - mit guter Stube usw.

    Für mich lebt die Familie fast vollständig nebeneinander her, was sie zusammenhält ist die gemeinsame Wohnung. Sie essen zusammen und schlafen dort, aber den Rest ihrer Zeit verbringen sie getrennt von einander. Sehr trist und einsam.

    Menuchim hat die Trennung sicherlich gebraucht um zu gesunden an Körper und Seele.

    "Wo Freundlichkeit herrscht, gibt es Güte, und wo es Güte gibt, da ist auch Magie" (Walt Disney) :montag:

  • Na ja - "die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässrig, die Karpfen schmal" und so fort.

    Das hab ich als etwas übertrieben gelesen, aber Du hast durchaus auch deinen Punkt. Trotzdem mag ich, dass Deborah sich nicht völlig auf andere verlässt. Allein dadurch war sie ja in der Lage, Sam den Weg in die Freiheit zu ebnen. Wer weiß, wofür es noch gut ist.


    Aber er darf doch noch denken, was er will... Ich bin froh, dass er es nur denkt und nicht laut sagt.

    Wenigstens denkt er es nur, aber es ärgert mich dennoch. Dabei denken das damals noch sehr viele, ich weiß. Das findet sich ja bis heute, wie auch Schneewichtel grad festgestellt hat.

    Ich denke das Mendel noch geprüft wird auf seine Glaubensfestigkeit.

    Schau'n wir mal, was da noch kommt.

    Für mich lebt die Familie fast vollständig nebeneinander her, was sie zusammenhält ist die gemeinsame Wohnung.

    Beim ersten Teil stimme ich Dir zu, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie alle in einer Wohnung leben. :scratch: Aber ich mag mich irren.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich meinte Mendel, Deborah und Mirjam in New York. Und die ganze Familie damals in Rußland.


    Auf dem Cover meines Buches habe ich einen Mann entdeckt, der für mich nach Mendel aussieht...muß mal nachzählen von rechts und links..... :mrgreen:

    "Wo Freundlichkeit herrscht, gibt es Güte, und wo es Güte gibt, da ist auch Magie" (Walt Disney) :montag:

  • Ich meinte Mendel, Deborah und Mirjam in New York.

    Ach so, also ein Missverständnis. Ja, sie leben in einer Wohnung, aber nicht miteinander. Das sehe ich wie Du.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Deborah nutzt jetzt die kleinen Freiheiten, die sie hat. Kann ich ihr nicht verdenken. Das sie nicht dumm ist, müsste Mendel doch schon gemerkt haben. Aber er hat dieses verdrehte Frauenbild wohl zu sehr verinnerlicht... :roll:. Wahrscheinlich wurde ihre Ehe arrangiert und anfangs mochte er sie wohl...Aber jetzt ist es nur noch grausam...beider Lebensinhalt beschränkt sich auf ein Wiedersehen mit Menuchim. Aber tut ihm das auch gut? :-k

    "Wo Freundlichkeit herrscht, gibt es Güte, und wo es Güte gibt, da ist auch Magie" (Walt Disney) :montag:

  • zu Kapitel 10


    Die Desilllusionierung geht weiter, wenn man liest, wie die Wohnung beschaffen ist: "schief", "schmutzig", "finster", "feucht".

    Das macht Roth ja durchgehend in diesem Roman. Er säht etwas Hoffnung, wenn er schreibt das Mendel gut angekommen ist in Amerika, aber sehr bald schon zeigt sich die Realität.

    Das Schwarze überdeckt das Bunte.


    Wobei auch der Spruch fällt im Sinn von "er lebt dem Ende entgegen", was ich interpretiere als "die Zeit vergeht halt, aber wirklich leben tut er nicht". Aber das hat er in der Heimat ja auch nicht wirklich.

    Mendel ist ein Außenstehender, nur noch Beobachter an dem das Leben vorbeifließt.

    Die Szene in der er am Ufer steht symbolisiert das sehr eindringlich. Der Fluß des

    Lebens fließt an ihm vorbei, an kann und will nur noch zuschauen. Nichts am Leben

    seiner Familie interessiert ihn mehr. Er hat sie alle schon verlassen, die, die noch mitten

    im Fluß des Lebens einherschwimmen. Hier die Szene:

    Zitat

    Hier und da hört Mendel Singer aus Gesprächen die an seinen Ohren vorüberrinnen,

    wie ein Fluß vorbeirinnt an den Füßen eines alten Mannes, der am Ufer steht.....


    Aber insgesamt scheint er eh alles loszulassen und sich um nichts mehr zu kümmern.

    Das einzige ist Menachim. In ihm sieht er den Heilsbringer, die letzte noch existierende

    Hoffnung.

    Für mich lebt die Familie fast vollständig nebeneinander her, was sie zusammenhält ist die gemeinsame Wohnung. Sie essen zusammen und schlafen dort, aber den Rest ihrer Zeit verbringen sie getrennt von einander. Sehr trist und einsam.

    Eigentlich doch nur für Mendel. Die Anderen scheinen sich bisher wirklich gut eingelebt

    zu haben. Sogar Mirjam, das "enfant terrible" der Familie scheint auf einem guten Weg.

    Nur Mendel verweigert sich allem und gibt sich mit dieser Figur des Aussenseiters

    zufrieden. Ich verstehe die Handlungen, bzw. das Nicht-Handeln von Mendel nicht. Der

    Mann ist und bleibt mir ein Rätsel.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Lovecraft Country

  • Aber tut ihm das auch gut?

    Ich hab so meine Zweifel, da er ja erst in Abwesenheit der Familie sich erholt, aber Roth wird uns hier vermutlich überraschen.

    Mendel ist ein Außenstehender, nur noch Beobachter an dem das Leben vorbeifließt.

    Die Szene in der er am Ufer steht symbolisiert das sehr eindringlich. Der Fluß des

    Lebens fließt an ihm vorbei, an kann und will nur noch zuschauen.

    Du hast meine Gedanken perfekt ausgedrückt. :)

    Sogar Mirjam, das "enfant terrible" der Familie scheint auf einem guten Weg.

    Jetzt hat sie ja auch eine Aussicht auf Leben, eine Perspektive. Für Mirjam wie für Sam war die Auswanderung der Weg in ein wirklich neues Leben, aber für Mirjam als Frau noch viel mehr als für ihren Bruder.

    Ich verstehe die Handlungen, bzw. das Nicht-Handeln von Mendel nicht. Der

    Mann ist und bleibt mir ein Rätsel.

    Wie gut, dass ich damit nicht alleine bin.


    Ich werde nachher weiterlesen, ist ja Feiertag und das, was ich erledigen wollte heute, hab ich zum Teil schon getan. :study:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Es begegnen einem ja auch heute noch solche Sprüche

    Oh -dann rege ich mich auch auf!!!

    Da muss ich wohl froh sein, dass das in meiner Gegenwart niemand sagt.

    Allein dadurch war sie ja in der Lage, Sam den Weg in die Freiheit zu ebnen. Wer weiß, wofür es noch gut ist.

    Ja, das mag durchaus sein, dass sie für andere Zeiten spart. Und/oder für die Reise zu Menuchim. Aber manchmal verselbständigen sich solche Eigenarten, und hier habe ich fast den Eindruck. Deborah kann nicht anders.

    .beider Lebensinhalt beschränkt sich auf ein Wiedersehen mit Menuchim. Aber tut ihm das auch gut?

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass ständige Untätigkeit einem Menschen gut tut. Mendel kann nichts außer die Tora auswändig herzubeten. Er könnte sich also eine Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde - sie leben ja mittendrin!- suchen.

    Die Szene in der er am Ufer steht symbolisiert das sehr eindringlich.

    Ja, das stimmt, das ist ein sehr aussagekräftiges Bild, das nicht nur das Vorbeifließen seines Lebens zeigt, sondern auch seine Sehnsucht.

    Nur Mendel verweigert sich allem und gibt sich mit dieser Figur des Aussenseiters

    zufrieden. Ich verstehe die Handlungen, bzw. das Nicht-Handeln von Mendel nicht. Der

    Mann ist und bleibt mir ein Rätsel.

    Ja, er kann offenbar nicht anders. Amerika würde andere Eigenschaften von ihm fordern als die, die er zu bieten hat.

    Vielleicht gehen wir zu sehr von unserem individualisierten Menschenbild aus? Oder von Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied ist?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ja, wir sind in der Zeit und Herkunft verhaftet, trotzdem ärgert es mich. Ich bin mir nämlich nicht sicher, inwieweit da auch Roth zu Worte kommt, der ja höchst eifersüchtig war und mit selbständigen Frauen so seine Kämpfe hatte.

    Ich bin da ganz bei dir und kann deinen Ärger verstehen. Und die "Entschuldigung" es sei halt damals so üblich gewesen, lasse ich auch nur bedingt gelten. Hätten es damals und auch in späteren Jahren einfach alle Frauen so akzeptiert und hingenommen, hätte sich nie etwas entwickelt bzw. geändert, wenn auch manchmal nur geringfügig. Gerade die "damalige" Zeit war zb jene der Sufragetten etc.

    Natürlich ist da noch die jüdische Herkunft, die meiner Meinung mehr hineinspielt als die Zeit an sich.

    bei dem "heimisch" bin ich mir noch nicht sicher.

    Ich bin mir relativ sicher, nämlich dahingehend, dass er sich nicht heimisch fühlt.

    Wobei auch der Spruch fällt im Sinn von "er lebt dem Ende entgegen", was ich interpretiere als "die Zeit vergeht halt, aber wirklich leben tut er nicht". Aber das hat er in der Heimat ja auch nicht wirklich. Verräterisch finde ich da auch den Anfang, in dem aufgezählt wird welche Worte was bedeuten, denn da versteht Mendel ja einiges auch falsch. Er ist also angekommen, aber er versteht die neue Welt nicht.

    Er ist - wie üblich - unzufrieden mit sich und dem Leben, sieht sich praktisch selbst zu, wie er dahinlebt. Hat jemand von euch wirklich geglaubt, dass Mendel auf einmal zu einem aktiven, anpackenden Mann wird, bloß weil sie jetzt in Amerika sind?

    Die Symbolik "er versteht die (neue) Welt nicht", sehe ich wie du. Aber so ein richtiges Bemühen um Verständnis sehe ich auch nicht. Wenn er gut angekommen wäre, könnte er ja versuchen, wieder selbst Thoraunterricht zu geben, wird ja doch einige Juden geben, die für ihre Kinder gerne auch in Amerika einen entsprechenden Lehrer hätten.

    Ich glaube, wir waren uns einig, dass sie sich leichter umstellen und einleben würde, aber dass sie in Kino und Theater geht, damit hab ich tatsächlich nicht gerechnet. Sie schien mir bisher nicht der Typ, der Vergnügungen nachgeht. Insofern wurde sie schnell "verführt" vom schönen Leben und wendet sich damit ja offen noch mehr von ihrem Mann ab. Was auch in der Wohnsituation deutlich wird: sie und Mirjam schlafen im Zimmer, Mendel in der Küche. Was sich am Ende von Teil 1 bei dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter andeutete, wird hier also Realität: Mirjam und ihre Mutter "verlassen" den Vater.

    Auch wenn ich Mirjam nicht wirklich mag, aber hier verstehe ich die beiden Frauen total, wenn sie versuchen, ihre eigenen Wege zu gehen, und sich nicht mit dem "Energiefresser" Mendel abgeben.

    Aber insgesamt scheint er eh alles loszulassen und sich um nichts mehr zu kümmern. Und auf die Idee, selbst zu arbeiten, kommt er offenbar überhaupt nicht.

    bin ich ganz bei dir, wir scheinen - was dieses Thema betrifft - sehr ähnlich zu ticken

    Auch hier ein sehr schnelles Wunder, das für mich gleichbedeutend ist mit "die negative Umgebung / Aura durch die Eltern ist verschwunden, das Kind kann gedeihen". Zusätzlich gestärkt durch die im Kontrast sehr positiven Billes. Bedeutet das auch, dass Mendel alles Negative mit sich genommen hat, so dass sein Sohn gesunden kann? Da bietet sich viel Interpretationsspielraum, finde ich.

    Ich sehe das dahingehend, dass ein bloßes Hinnehmen - wie von Mendel - "lähmend" ist, auch für Menuchim, und da sogar im übertragenen Sinn. Während der Glaube an das Gute, an den schöpferischen Gott auch Kräfte freisetzen kann, wie bei den Billes. Ich finde diese Familie als den reinen Gegenpart sehr gut.

    Ich habe so ein Gefühl, als würde Roth die ganze Geschichte wie ein Gleichnis erzählen, die Chraktere passend dazu überzeichnet, um am Ende die Botschaft überbringen zu können, wie der richtige Lebensweg auszusehen hätte.

    Jonas wirkt aber sehr zufrieden mit seinem Leben, er ist angekommen. Vielleicht ist er sogar der Zufriedenste von allen, denn ihm reicht das was er hat. Er scheint glücklich als Soldat, trotz der drohenden Gefahren seines Berufs. Dass er seinem Vater eigentlich egal ist, hat mich nicht verwundert. Mendel ist ausschließlich auf Menuchim fixiert. Mir tun die anderen Geschwister mittlerweile leid mit diesen Eltern. :(

    Botschaft für mich hier: Wenn du glücklich und zufrieden lebst, kann dir nicht mal der Tod etwas anhaben, er führt dich in das Himmelreich. Lass dich nicht beirren in deinem Leben, gehe deinen Weg.

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


    Warnhinweis:
    Lesen gefährdet die Dummheit

    :study:

  • Wie seht ihr eigentlich die Tatsache, dass Roth ja auch ein die Heimat verlassender war. Glaubt ihr, dass er sich ebenfalls in der Fremde nicht so wohl fühlen konnte, und dies mit Mendel deshalb nachfühlen könnte bzw mit verarbeitet hat?

    Ich finde den Vergleich mit Ashaver/ewig wandernder Jude (ich glaube drawe du hast es geschrieben) sehr passend.

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


    Warnhinweis:
    Lesen gefährdet die Dummheit

    :study:

  • Zitat von Taliesin

    Mendel ist ein Außenstehender, nur noch Beobachter an dem das Leben vorbeifließt.

    Die Szene in der er am Ufer steht symbolisiert das sehr eindringlich. Der Fluß des

    Lebens fließt an ihm vorbei, an kann und will nur noch zuschauen. Nichts am Leben

    seiner Familie interessiert ihn mehr. Er hat sie alle schon verlassen, die, die noch mitten

    im Fluß des Lebens einherschwimmen.

    Mit der Beschreibung hast Du genau ins Schwarze getroffen :thumleft:

    Zitat von drawe

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass ständige Untätigkeit einem Menschen gut tut. Mendel kann nichts außer die Tora auswändig herzubeten. Er könnte sich also eine Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde - sie leben ja mittendrin!- suchen.

    Das sehe ich auch so. Er engagiert sich nicht mal innerhalb der Gemeinde. Er geht von Familie zu Familie und schwatzt und betet mit Ihnen. Er hat so gar keinen Ehrgeiz etwas zu tun oder zu arbeiten. Dieses Dahin-Leben ohne rechten Sinn kann phasenweise (bei Depressionen z.B.) schon passieren. Aber bei Mendel findet das gefühlt schon sehr lange statt.

    Zitat von terry

    Hat jemand von euch wirklich geglaubt, dass Mendel auf einmal zu einem aktiven, anpackenden Mann wird, bloß weil sie jetzt in Amerika sind?

    Nein absolut nicht. Never-Ever :roll:

    Zitat von terry

    Hätten es damals und auch in späteren Jahren einfach alle Frauen so akzeptiert und hingenommen, hätte sich nie etwas entwickelt bzw. geändert, wenn auch manchmal nur geringfügig. Gerade die "damalige" Zeit war zb jene der Sufragetten etc.

    Das stimmt, hätte es diese Frauen nicht gegeben, wer weiß wie es uns jetzt ergehen würde.

    Ich habe kürzlich den Film "Suffragetten - Taten statt Worte" gesehen. Er zeigt was diese Frauen alles auf sich genommen haben bis hin zum Tod. Es gab einige priveligiertere Frauen darunter, die aber auch im Gefängnis saßen und das Ganze vorangetrieben haben. :pray:


    Zitat von drawe

    Vielleicht gehen wir zu sehr von unserem individualisierten Menschenbild aus? Oder von Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied ist?

    Ja vielleicht. Aber ohne diese Vorstellung wären manche Erfindungen, Entdeckungen und der medizinische und technische Fortschritt ,der unsere Gegenwart doch ziemlich erleichtert, nicht möglich gewesen. Mendel ist ziemlich apathisch/lethargisch finde ich. Er lässt alles geschehen. Also mal sehen, ob er noch die Kurve kriegt, aber wohl eher nicht.

    Zitat von drawe

    Oh -dann rege ich mich auch auf!!!

    Da muss ich wohl froh sein, dass das in meiner Gegenwart niemand sagt.

    Das muß Mann oder auch Frau ( :wuetend:) bei mir auch sein. :loool: :mrgreen: (mittlerweile :uups: )


    Zitat von Squirrel

    Ich hab so meine Zweifel, da er ja erst in Abwesenheit der Familie sich erholt, aber Roth wird uns hier vermutlich überraschen.

    Auf das Wiedersehen bin ich echt gespannt. Ob und wie sich Menuchim an seine Familie erinnert. Aber da Billes so herzlich sind und sich anscheinend auch gut um ihn kümmern, wird er sich wohl zugewandter verhalten, als man es erwarten könnte. Sie haben ihm eigentlich etwas Gutes getan mit dem Verbleib bei Familie Billes. Aber kann man/er das Weggehen (auch wenn es noch so begründet war) verzeihen? Ich kann mir vorstellen, das doch irgendwo ein Stachel sitzt und er sich fragt warum sie ihn zurückließen. Er wird es sicher auch mit seiner Krankheit/Behinderung in Verbindung bringen. Und das ist doch echt grausam :cry: .


    Ich wünsche Euch allen eine schöne Osterzeit und lese gleich weiter... :-,

    "Wo Freundlichkeit herrscht, gibt es Güte, und wo es Güte gibt, da ist auch Magie" (Walt Disney) :montag:

  • Kapitel 10

    Da muss ich wohl froh sein, dass das in meiner Gegenwart niemand sagt.

    In meiner Gegenwart hat das auch noch niemand geäußert, aber dann würde es auch ziemlich knackige Auseinandersetzungen geben. Aber indirekt hab ich das schon mitbekommen - Oberschwaben kann sehr konservativ sein.

    Aber manchmal verselbständigen sich solche Eigenarten, und hier habe ich fast den Eindruck. Deborah kann nicht anders.

    Ja, vermutlich, genauso wenig wie Mendel.

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass ständige Untätigkeit einem Menschen gut tut. Mendel kann nichts außer die Tora auswändig herzubeten. Er könnte sich also eine Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde - sie leben ja mittendrin!- suchen.

    Ich bin mir nicht sicher, ob Schneewichtel bei ihrem Satz an Mendel oder an Menuchim dachte. Ich hab ihre Äußerung auf Menuchim bezogen, also dass es ihm nicht gut täte, wenn seine doch so triste, negative Familie wieder zu ihm zurückkehren würde.

    Aber ich kann Dir nur zustimmen: Mendel täte es bestimmt gut wenn er sich in irgendeiner Form beschäftigen, in der neuen Welt einbringen würde. In seinem Viertel scheint er immerhin angekommen zu sein.

    Vielleicht gehen wir zu sehr von unserem individualisierten Menschenbild aus? Oder von Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied ist?

    Ich kämpfe ganz sicher damit, mein modernes Menschenbild in den Hintergrund zu schieben und mich in die Welt Mendels und seiner Familie sowie der damaligen Gesellschaft einzudenken.


    Natürlich ist da noch die jüdische Herkunft, die meiner Meinung mehr hineinspielt als die Zeit an sich.

    Das ist vermutlich so - die orthodoxe Welt ist ja bis heute so extrem konservativ. Und damit für uns so extrem fremd.

    Hat jemand von euch wirklich geglaubt, dass Mendel auf einmal zu einem aktiven, anpackenden Mann wird, bloß weil sie jetzt in Amerika sind?

    Geglaubt nicht, aber vielleicht ein wenig gehofft für die Familie? Immerhin wollte er nach Amerika um seiner Tochter zu helfen. Vermutlich bin ich da wieder auf meine eigene Erwartungshaltung reingefallen.

    Aber so ein richtiges Bemühen um Verständnis sehe ich auch nicht.

    Nein, das ist nicht da. Weswegen ich mich mittlerweile frage, warum er wirklich mit Mirjam und Deborah ausgewandert ist.

    Ich habe so ein Gefühl, als würde Roth die ganze Geschichte wie ein Gleichnis erzählen, die Chraktere passend dazu überzeichnet, um am Ende die Botschaft überbringen zu können, wie der richtige Lebensweg auszusehen hätte.

    Ein einziger richtiger Lebensweg? Für so eingeengt halte ich Roth eigentlich nicht, ohne dass ich das begründen könnte

    Wie seht ihr eigentlich die Tatsache, dass Roth ja auch ein die Heimat verlassender war. Glaubt ihr, dass er sich ebenfalls in der Fremde nicht so wohl fühlen konnte, und dies mit Mendel deshalb nachfühlen könnte bzw mit verarbeitet hat?

    Ich weiß nicht so arg viel über Roth, aber glücklich war er nicht in der Fremde. Das kommt in "Ostende" deutlich rüber. Ob das 1929, als er "Hiob" schrieb, schon so war, kann ich nicht genau beurteilen, aber ich vermute es. Insgesamt bin ich mir nicht sicher, ob Roth nicht generell ein sehr unglücklicher Mensch war. :-k


    Dieses Dahin-Leben ohne rechten Sinn kann phasenweise (bei Depressionen z.B.) schon passieren. Aber bei Mendel findet das gefühlt schon sehr lange statt.

    Ich glaube nicht, dass Mendel depressiv ist. Ich glaube, für ihn ist sein Leben das einzig richtige - er will so leben wie er es tut: beten, Gott gehorsam sein, die Thora lehren ohne über sie nachzudenken. Und sein nicht-Handeln empfindet er nicht so

    Aber kann man/er das Weggehen (auch wenn es noch so begründet war) verzeihen? Ich kann mir vorstellen, das doch irgendwo ein Stachel sitzt und er sich fragt warum sie ihn zurückließen. Er wird es sicher auch mit seiner Krankheit/Behinderung in Verbindung bringen. Und das ist doch echt grausam :cry: .

    So wie Menuchim beschrieben wird, glaube ich nicht, dass er sich diese Gedanken macht. Menuchim ist Gefühl, nicht Denken. Ob er sich Verlassen fühlte in dem Moment als die Familie ging? Bestimmt. Ob dieses Gefühl anhält? Ich glaube nicht, da ihm die Familie Bille so gut tut.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Zu Kapitel 10

    Und die "Entschuldigung" es sei halt damals so üblich gewesen, lasse ich auch nur bedingt gelten.

    Du hast das Wort "Entschuldigung" in Anführungszeichen gesetzt; richtig. Wenn ich solche misogynen Äußerungen mit dem Zeitgeist erkläre, ist das nämlich keine Entschuldigung, sondern einfach nur eine Feststellung.

    Natürlich ist da noch die jüdische Herkunft, die meiner Meinung mehr hineinspielt als die Zeit an sich.

    Ich vermute, Du meinst dieses orthodoxe, patriarchalische Judentum, das Mendel vertritt? Denn ansonsten müsste ich jetzt gleich VETO schreiben und z. B. von meiner Großtante (Großgroßtante?) erzählen :wink: !

    Wie seht ihr eigentlich die Tatsache, dass Roth ja auch ein die Heimat verlassender war. Glaubt ihr, dass er sich ebenfalls in der Fremde nicht so wohl fühlen konnte, und dies mit Mendel deshalb nachfühlen könnte bzw mit verarbeitet hat?

    Ich finde den Vergleich mit Ashaver/ewig wandernder Jude (ich glaube drawe du hast es geschrieben) sehr passend.

    Ja, ich war das, und ich muss immer wieder an dieses Bild denken. Mendel verkörpert für mich diesen Ahasver: den ewig Wandernden und immer heimatlosen Juden. Und dieses Bild passt auch zur jüdischen Geschichte und zu ihrer jahrhundertelangen Sehnsucht nach dem Gelobten (= versprochenen) Land.

    Wenn er gut angekommen wäre, könnte er ja versuchen, wieder selbst Thoraunterricht zu geben, wird ja doch einige Juden geben, die für ihre Kinder gerne auch in Amerika einen entsprechenden Lehrer hätten.

    Eben. Das meinte ich ja. Daher verstehe ich diese Untätigkeit nicht ganz.

    Mendel ist schließlich erst Mitte 40, fühlt sich aber offensichtlich wie Mitte 80.

    taliesin sagte es schon: er bleibt ein Außenseiter.


    Dein Hinweis auf die Frauenrechtlerinnen hat mir noch deutlicher gemacht, wie sehr Mendel aus der Zeit gefallen ist. Als ob die Zeit eines Tages über ihn hinweggehen würde. Ein komplett unreflektierter Gestriger.

    In meiner Gegenwart hat das auch noch niemand geäußert, aber dann würde es auch ziemlich knackige Auseinandersetzungen geben.

    Ha, da wäre ich gerne dabei! Ob Du mir bitte vorher Bescheid geben könntest??


    Was ich erlebt habe, sind eher diese indirekten Sexismen (nennt man das so?). Zum Beispiel wenn ich gefragt wurde, wer sich denn um die Kinder kümmert, wenn ich beruflich durch Bayern touren musste. Meine männl. Kollegen wurde das nie gefragt. Oder wenn selbstverständlich und stillschweigend davon ausgegangen wurde, dass der Mann-Kollege den Vorsitz hatte.


    Ich kann mir vorstellen, das doch irgendwo ein Stachel sitzt und er sich fragt warum sie ihn zurückließen. Er wird es sicher auch mit seiner Krankheit/Behinderung in Verbindung bringen. Und das ist doch echt grausam

    Ja. Auf der anderen Seite hat er in seiner Kindheit schon viel Grausames erlebt und musste sich an allerhand gewöhnen.

    Ich stimme Dir trotzdem zu. Er hat sicher Heimweh nach seiner Familie und fühlt sich verlassen. Aber offenbar muss er diese Phase durchleiden, damit er zu einer Art Messias für Mendel und Deborah wird. Mendel wartet ja buchstäblich auf ihn wie auf den Erlöser.

    Ich weiß auch nicht, ob Roth

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Guten Morgen😉


    mir ist da heute Nacht eine Theorie in den Sinn gekommen:


    Squirrel: das Mendel depressiv ist, war auch nicht gemeint, nur das dieses -sein-Verhalten bei Depressionen häufig auftritt. :uups:


    Ich hatte bei dem Satz tatsächlich an Menuchim gedacht, so wie Du es erklärt hast. Aber den Gedanken von drawe mit Mendel fand ich dann auch sehr interessant und habe darüber nachgedacht.

    Mendel wird es gut tun, das Wiedersehn, sicher in mehr wie einer Hinsicht.

    Bei Menuchim bin ich etwas zwiegespalten.

    Vielleicht empfindet er auch so etwas wie Genugtuung (seht her wer Euch hilft in der Not: der verlassene "Krüppel). Ich könnte es ihm nicht verdenken. Aber er wird als musikalischer Mensch mehr von seinen Gefühlen geleitet werden und diesem Fall vom Verzeihen (und evtl. Freude?).


    Das Frauenbild von Mendel sehe ich jetzt nicht unbedingt seiner jüdischen Herkunft geschuldet, eher dem ultra-orthodoxem Judentum. Aber das wurde ja schon von Euch erklärt. Bei vielen christlichen Strömungen...Baptisten, Mennoniten wird auch noch ein eher traditionelles Frauenbild geprägt...oder den Amish....

    Naja und wer kocht bei Euch den Kaffee oder räumt die Spülmaschine aus - auf der Arbeit? Und wer schaut blöd, wenn es mal nicht gemacht wird? :pale:

    Ok das sind jetzt noch nicht soooo schlimme Sachen. Nerven aber auch. Und blöde Sprüche habe ich mehr wie genug mit bekommen und erlebt. Heutzutage gibt es nen fetten Spruch zurück :eye:

    "Wo Freundlichkeit herrscht, gibt es Güte, und wo es Güte gibt, da ist auch Magie" (Walt Disney) :montag:

  • Naja und wer kocht bei Euch den Kaffee oder räumt die Spülmaschine aus - auf der Arbeit? Und wer schaut blöd, wenn es mal nicht gemacht wird?

    Echt? Das finde ich ja allerhand. Habe ich nicht erlebt, da habe ich wohl wieder mal unverdientes Glück gehabt.

    Aber es passt zu den anderen Sachen, die ich oben beschrieben habe.


    Jetzt muss ich meinen angefangenen Satz zu Ende schreiben, da knallte das reale Leben bei mir rein :lol: :


    Ich weiß nicht, ob Roth sich an die Vorlage des Alten Testaments hält oder ob er sie abwandelt, das steht ihm ja alles frei.

    Im AT kommen drei Freunde und versuchen ihn zu trösten, aber sie bringen ihn nicht davon ab, von Gott Gerechtigkeit einzufordern.

    Das sehe ich hier nicht. Ihr vielleicht?

    Die Handlung ist recht hölzern, vielleicht geht es doch Richtung Legende?


    Übrigens bedeutet Hiob "der Angefeindete". Das passt ja zu unserer Einstellung :wink: .

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ja, ich war das, und ich muss immer wieder an dieses Bild denken. Mendel verkörpert für mich diesen Ahasver: den ewig Wandernden und immer heimatlosen Juden. Und dieses Bild passt auch zur jüdischen Geschichte und zu ihrer jahrhundertelangen Sehnsucht nach dem Gelobten (= versprochenen) Land.

    Tatsächlich passt es auch zu Roth, der ja ebenfalls die Heimat verließ und dann nicht mehr richtig zur Ruhe kam.

    Ha, da wäre ich gerne dabei! Ob Du mir bitte vorher Bescheid geben könntest??

    Falls dafür die Zeit bleiben sollte, dann gerne :lol:

    Was ich erlebt habe, sind eher diese indirekten Sexismen

    Die kennen wir wohl alle zur Genüge, leider

    Vielleicht empfindet er auch so etwas wie Genugtuung (seht her wer Euch hilft in der Not: der verlassene "Krüppel). Ich könnte es ihm nicht verdenken. Aber er wird als musikalischer Mensch mehr von seinen Gefühlen geleitet werden und diesem Fall vom Verzeihen (und evtl. Freude?).

    Ich bin da extrem unsicher, halte Menuchim wie gesagt nicht zum Denken in unserem Sinne befähigt. Ich mag mich täuschen, aber bisher war da nichts in Sicht.

    Bei vielen christlichen Strömungen...Baptisten, Mennoniten wird auch noch ein eher traditionelles Frauenbild geprägt...oder den Amish....

    Und bei den radikalen christlichen Strömungen, die zur Zeit wieder stark aufkommen, wird es nicht viel anders sein. :-#

    Aber wir sind uns wohl alle einig, dass wir Mendel stark vom orthodoxen Judentum geprägt empfinden.

    Ich weiß nicht, ob Roth sich an die Vorlage des Alten Testaments hält oder ob er sie abwandelt, das steht ihm ja alles frei.

    Du bist wie immer gut im Spekulieren - lies mal weiter :-,

    Übrigens bedeutet Hiob "der Angefeindete". Das passt ja zu unserer Einstellung :wink: .

    Oh, und wie das passt!


    So, jetzt zieh ich mich erstmal an und geh auf den Markt "frühstücken" :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich mach mal mit Kapitel 11 weiter ehe ich mich vielleicht doch noch ans Fensterputzen mache :rambo:


    Ein aufschlussreiches Kapitel, wie ich finde, denn als allererstes bekommen wir eine wichtige Information: wir alle haben Mendel für etwa Mitte 40 gehalten, dabei ist er fast 60. Das erklärt für mich schon einiges, denn damit ist er für damalige Verhältnisse armer Menschen wirklich alt und alte Menschen tun sich nochmal schwerer mit Veränderungen. Deshalb auch seine Lethargie und sein Stillhalten, nicht arbeiten wollen oder können, nicht mit den Entwicklungen mithalten. Sicher ist das auch manifest in seinem Charakter, aber eben auch nochmals verstärkt durch sein Alter. Er kann einfach nicht mehr, ist ausgelaugt, mag nicht mehr, wartet auf den Tod.


    Das bedeutet aber nicht, dass er gar nichts mehr mitbekommt: er weiß schon, dass Mac Mirjam heiraten möchte, geht ja auch davon aus, dass sie vielleicht schon mit ihm zusammenlebt. Ihm ist bewusst, dass die beiden nur warten bis er gestorben ist, aber ein wenig gehässig klingt es schon, wenn er denkt "Ich habe Zeit. Ich warte auf Menuchim." Warum gibt er den jungen Leuten nicht einfach sein Einverständnis?


    Ich frage mich jetzt: wie alt ist Deborah? Gleich alt oder jünger? Ich vermute jünger, als junge Frau an den entschieden älteren und ältlichen Lehrer verheiratet und darüber nicht glücklich. Sie stellt sich um, passt sich an, scheint glücklich im "Gelobten Land", das so ganz anders ist als die alte Welt, als die orthodoxe Welt. Da steht die gesamte Familie im Gegensatz zu Mendel - alle sind angekommen außer ihm, der nachts am Fenster steht, von Russland träumt, den Sternenhimmel sucht und vermisst (was ich nachvollziehen kann) und sein momentanes Glück kaum fassen kann. Deshalb hält er still, will Gott nicht versuchen, erzürnen durch eitles Leben. Er hält still in Verhältnissen, die wir uns nicht vorstellen können, ganz gleich wie genau Roth das beschreibt (mich kribbelt es überall wenn ich das lese :pale: ).


    Doch das Glück hält nicht an: der Krieg bricht aus just in dem Moment, in dem Mac Menuchim nach Amerika holen will (wieso eigentlich glauben jetzt alle, dass Menuchim eine Einreiseerlaubnis bekäme?). Der Krieg, der alles zunichte macht, die Hoffnung zerstört, grausame Bilder der toten Söhne heraufbeschwört und in Mendel die absolute Glaubens- und Seinskrise auslöst. Er befürchtet und erkennt, dass er mehr hätte tun müssen als Psalmen beten, dass Beten alleine und sonstiges Nichts-tun doch nichts bewirkt, keine Alternative ist. Keiner kann ihm widersprechen als er feststellt: "Vor einem Jahr, nachdem der Brief kam, hätte ich zu Menuchim fahren sollen". Doch jetzt ist es zu spät.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Zu Kapitel 11

    außer ihm, der nachts am Fenster steht, von Russland träumt, den Sternenhimmel sucht und vermisst

    Er ist der Heimatlose, er ist in Amerika nicht zu Hause. Sein Zuhause verbindet er mit Menuchim.


    in Mendel die absolute Glaubens- und Seinskrise auslöst.

    Die Fassungslosigkeit Mendels wird durch die Wiederholungen so schön deutlich: "In Europa ist der Krieg ausgebrochen. --- Der Krieg ist ausgebrochen." Und noch mehrmals wird das Wort "Krieg" wiederholt. Mendel gerät wirklich, wie Du sagst, in eine Krise, aus der ihn auch die gut gemeinten Besuche der Familie nicht herauskommen lassen.


    Die Qual Mendels und seine Selbstzweifel sind groß. Er fühlt sich schuldig und erkennt, dass Psalmensingen nicht genug ist, aber was hätte er tun können?


    Der Erzählton in diesem Kapitel ist wieder so getragen-gehoben, wie in einem Märchen oder einem biblischen Kapitel. Die Parallelkonstruktionen zu Beginn haben mir gut gefallen:


    "Die Sorgen verließen ihn, den Toder näherte sich ihn. Sein Bart war weiß, sein Auge war schwach. Der Rücken krümmte sich, und die Hände zitterte." und so fort.

    Sehr originell finde ich auch die Aufzählung eine Seite weiter, wenn er sich die Vorzüge Amerikas hersagt, ja fast herbetet: Amerika ist das Land Gottes etc.

    Mir kam diese lange Aufzählung vor wie eine Litanei oder ein Gebet, mit dem er bei jeder Aussage eine Gebetsperle weiterschiebt.


    (mich kribbelt es überall wenn ich das lese

    Und die Wanzen rücken militärisch geordnet zu ihrem Angriffsziel vor, "blutlüstern" - auch eine Art Krieg...

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).