Uwe Wittstock - Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur

  • Kurzmeinung

    Abroxas
    Eindrückliche und detailgenaue Darstellung eines dramatischen und bewegenden Kapitels der Geschichte
  • Nach Wittstocks Buch über den Exodus deutscher Literaten aus Deutschland nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 (Titel: Februar 1933. Der Winter der Literatur) legt der Publizist und Journalist Uwe Wittstock nach und schreibt über die Situation der nach Frankreich Geflohenen, die sich nach der Niederlage Frankreichs abermals in Lebensgefahr befinden. Es ist auch eine Schilderung der mutigen Bestrebung des Emergency Recue Comittees, die vor Ort unzähligen Leuten beim Verlassen des Landes Unterstützung gewährt hat.


    Eine vielstimmige Momentaufnahme


    Wittstock gliedert scheine Schilderung in "Tagebucheinträge" (jedoch in der nüchternen Perspektive der dritten Person), die entweder mit einem einzelnen Datum oder einer Zeitspanne von wenigen Tagen überschrieben sind. Jeder Eintrag ist höchstens wenige Seiten lang, manchmal auch weniger als eine Seite. Zu Beginn beschreibt er, wie einige der Flüchtenden die Tage vor und während der Invasion der Wehrmacht erlebt haben. Durch den schnellen erzählerischen Rhythmus, den Wittstock auf diese Weise erzielt, fängt er die Grundstimmung, die dieser Tage geherrscht haben muss, geschickt ein. Der Überfall der Wehrmacht und der nahezu ungehinderte Vormarsch auf Paris hat die meisten Zeitgenossen überrumpelt, selbst die aufmerksameren Beobachter. Und nach der Aufteilung Frankreichs in eine besetzte und eine unbesetzte Zone kamen tagtäglich neue Schreckensmeldungen über neue Erlasse und behördliche Verfügungen hinzu, die für die Ausreisewilligen zu einer Angelegenheit von Leben und Tod wurden.


    Wittstock wechselt dabei stets die Perspektive und fängt damit die Schicksale einer Vielzahl illustrer Flüchtlinge ein, darunter u.a. Lion Feuchtwanger, Heinrich & Golo Mann, Anna Seghers, Walter Mehring, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Franz Werfel. Auch diese vielen Wechsel tragen zum Tempo der Erzählung bei.


    Eines er eindrücklichsten dieser kurzen Kapitel findet jedoch in Deutschland statt: Es ist eine Episode, die Varian Fry als frisch gebackener Chefredakteur einer renommierten Politzeitschrift namens The Living Age erlebte, während er Anfang der 1930er Jahre in Berlin persönliche Eindrücke von Land und Leute sammelte. Unversehens wurde er Zeuge einer heftigen Ausschreitung gegen jüdische Bürger auf dem Kurfürstendamm, die vom Ausmaß der Gewalt her an ein Progrom gemahnte. Bereits an dieser Stelle spielt Wittstock mit seinen journalistischen Muskeln, denn seine Darstellung dieses Erlebnisses ist eindrücklich, lebendig und fesselnd, wie eine raffiniert geschrieben Reportage, aber zugleich nüchtern und sachlich.


    Das Emergency Rescue Committee: Die Geschichte des Varian Fry und seiner Unterstützer


    Varian Fry ist es auch, der im Laufe dieses Buches zu einem Fixpunkt wird. Unmittelbar vor der Invasion Frankreichs gründete Fry zusammen mit Paul Hagen (mit bürgerlichem Namen Karl Frank) eine Organisation, deren Aufgabe es war, Intellektuellen, Schriftstellern und Philosophen, die wegen ihrer jüdischen Abstammung oder wegen künstlerischer bzw. politischer Haltungen von den Nazis verfolgt wurden und nach Frankreich geflüchtet waren, bei der Flucht zu helfen. Geldmittel sollten zur Verfügung gestellt werden, während man ihnen dabei hilft, die nötigen Papiere in Frankreich zu erlangen. Notfalls waren auch illegale Fluchtwege zu beschreiten.


    Varian Fry beschließt mangels eines geeigneten Kandidaten, selber nach Frankreich aufzubrechen, um vor Ort für die Organisation tätig zu werden, die den Namen "Emergeny Rescue Committee" erhielt. Zusammen mit weiteren Mitarbeitern, die er vor Ort rekrutieren musste, und der Hilfe des Diplomaten Harry Bingham Jr. baute er in Windeseile eine Struktur auf, mit der er Hilfesuchenden Unterstützung gewähren konnte. Er baute auch Verbindungen zu Schleusern auf, die einen Weg über die Pyrenäen kannten, der an die Zollbeamten vorbeiführte.


    Bei der Beschreibung der Arbeit Frys verringert sich das Tempo geringfügig, entsprechend der teilweise zähen Bemühungen darum, einzelnen Klienten die Ausreise zu ermöglichen. Fluchtwege versperrten sich so schnell, wie sie sich auftaten, das Vichy-Regime bemühte sich zusehends, den Fluchtbewegungen einen Riegel vorzuschieben. Fry selber überwarf sich mit den in New York verbliebenen Kommitee-Mitgliedern, von denen er sich sabotiert fühlte. Er beschloß, auf eigene Faust in Frankreich zu bleiben. Die letzten Monate dieser Aktion entwickelten sich zu einer zähen Kraftprobe, bei der Fry scheinbar nur noch seinen engsten Mitarbeitern vertrauen konnte. Nichtsdestotrotz findet Wittstock auch hier den Raum, um die Geschichte einiger verbleibender Flüchtlinge und der Mitstreiter Frys zu erzählen.


    Fazit


    Marseille 1940 ist eine packende und faszinierende Lektüre, die mit journalistisch geschulter Präzision und Eingängigkeit von dramatischen Schicksalen zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs berichtet. Es öffnet Augen für die Verzweiflung und die bitteren Überlebenskämpfe, die die Flüchtenden, obwohl teilweise vermögend, gebildet und gut vernetzt, auszufechten hatten, wirft aber auch ein Licht auf den Mut und Hilfsbereitschaft der Mitglieder des Emergency Rescue Committees, die viel aufs Spiel gesetzt haben, um diesen Menschen bei der Flucht zu helfen. Mögliche wäre es oftmals gar nicht gewesen, wenn nicht an zahlreichen Stellen einzelne Beamte oder Kommandanten aus den verschiedensten Motive ihre Ermessensspielräume ausgereizt oder gar übertreten hätten, um die Flüchtenden weiter ihrer Wege ziehen zu lassen, anstatt sie zu verhaften und an die Nazis auszuliefern.

    Kurzum, es ist ein großartiges Buch, das mich gefesselt wie auch nachdenklich gemacht hat.

  • Autor: Uwe Wittstock
    Titel: Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur
    Seiten: 351
    ISBN: 978-3-406-81490-7

    Verlag: C. H. Beck

    Autor:

    Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.


    Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

    Inhalt:
    Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

    Rezension:

    In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus', der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

    Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

    Nach seinem Werk "Februar 33 - Der Winter der Literatur" nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.


    Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

    Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.


    Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

    Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

    Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

    Auch hier hat man, wie in "Februar 33" erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.


    Eine unbedingte Leseempfehlung.

  • REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock das dramatische Kapitel deutscher Literaturgeschichte fortgeschrieben, das er zwei Jahre zuvor mit seinem Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hatte. Mittels tragischer Einzelschicksale bekannter Schriftsteller wie Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin und anderer, die nach Machtergreifung der Nazis in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, erzählt Wittstock nun in seinem neuen Band, wie diese nach Besetzung und der Kapitulation der Grande Nation unter schwierigsten Bedingungen in den Monaten zwischen Mai 1940 und Oktober 1941 versuchten, in das nicht von den Nazis besetzte Südfrankreich und schließlich nach Marseille, dem einzigen noch freien Hafen an der Atlantikküste, zu kommen, um von dort nach Übersee fliehen zu können. Vor allem aber würdigt Wittstock den selbstlosen Einsatz des jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907-1967), dem es nach Gründung eines von ihm in New York mit finanzieller Unterstützung wohlhabender Amerikaner initiierten „Emergency Rescue Committee“ gelang, in diesen 18 Monaten mit Hilfe seines in Marseille aufgebauten Rettungsnetzwerks „Centre Américain de Secours“ etwa 2 000 deutschsprachige Kulturschaffende zur Flucht aus Frankreich zu verhelfen.

    Wittstock schildert, journalistisch anhand von Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews recherchiert - zwar chronologisch geordnet, aber szenarisch wechselnd - den Mut mancher, aber auch die Selbstaufgabe anderer Exilanten wie im Falle des fast 70-jährigen Heinrich Mann. Dass Frys Wirken nicht immer Erfolg hat, zeigt der Suizid des verzweifelten Walter Benjamin. Andere entwickeln eine unbedingte Entschlossenheit zur Weiterflucht wie Anna Seghers, die sich über hunderte Kilometer zu Fuß auf den Weg macht.

    Während über die Schicksale der Exilanten vieles bekannt ist, geriet der heldenhafte Einsatz des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry in Vergessenheit. Im Gegenteil: Schon während seines Einsatzes in Marseille bekam er zunehmend Schwierigkeiten mit dem New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn 1940 nach Frankreich entsandt hatte. Man warf ihm seine Arbeit als illegaler Fluchthelfer vor, statt nur Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Schließlich fordert man ihn sogar zur Rückkehr in die USA auf. „Fry ist empört. Angesichts der Situation in Marseille erscheinen ihm solche Anweisungen unzumutbar, zumal wenn sie von Leuten kommen, die in Amerika in warmen Wohnungen an reich gedeckten Tischen sitzen und keine persönlichen Risiken eingehen.“ An seine Frau schreibt er: „Dieser Job ist wie der Tod – unumkehrbar. Wir haben hier etwas begonnen, das wir nicht ohne Weiteres beenden können.“

    Erst 1994 wurde ihm eine angemessene Ehrung als erster amerikanischer „Gerechter unter den Völkern“ in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem zuteil sowie 1998 als Ehrenbürger Israels. Im Epilog seines Buches „Marseille 1940“ wundert sich auch Wittstock über die bis heute anhaltende Missachtung dieses Fluchthelfers: „Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und seine Leute in Deutschland gefunden haben, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken hat.“ Nicht einmal die von ihm Geretteten schrieben mehr als ein paar Zeilen in ihren Autobiografien. Auch der Varian Fry gewidmete Essay "Der Engel von New York" der ins Pariser Exil verbannten Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982) wurde bislang nicht veröffentlicht.

    Deshalb kann man den Band „Marseille 1940“ nun als angemessene Würdigung dieses „amerikanischen Schindlers“ ansehen. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen Wittstocks lebendiger Schilderung der bewegenden Einzelschicksale, die nur stellvertretend für viele andere Exilanten stehen, ist dieser Band unbedingt lesenswert. „Marseille 1940“ ist zwar ein für Literaturkenner interessantes Sachbuch - und doch noch mehr: Es ist eine für jedermann leicht lesbare und spannend geschriebene Erzählung über ein vielleicht vielen noch unbekanntes düsteres Kapitel deutscher Geschichte.