Eduard von Keyserling - Landpartie

  • Ich habe gerade mit dem ersten Band der Schwabinger Ausgabe begonnen, die Eduard von Keyerserlings Erzählungen enthält.

    Zum hundertsten Todestag hatte der Manesse-Verlag drei kommentierte Bände herausgebracht; Band 2 befasst sich mit seinen Romanen (Wellen, Abendliche Häuser, Fürstinnen und Feiertagskinder), Band 3 bündelt seine Feuilletonsbeiträge.


    Nachdem ich in den letzten Monaten Kurzgeschichten und Erzählungen von Stefan Zweig, Joseph Roth und Heinrich Böll las, möchte ich in den nächsten Wochen abends 1-2 Geschichten von diesem Grafen lesen, der mir deutlich weniger bekannt zu sein scheint.


    Der erste Teil der dreibändigen Werksausgabe ist schon mal prima ausgestattet:

    37 Erzählungen, teilweise erstmals seit der Erstveröffentlichun in einer Zeitung vor über hundert Jahren nun in einem Sammelband gedruckt. Dazu ein Kommentarteil zu Textvarianten, Rezeption, Entstehungsgeschichte - auch wenn es weniger umfangreich ausfällt wie bspw in der Salzburger Ausgabe mit Stefan Zweigs Erzählungen. Der Grund liegt daran, dass Eduard von Keyserling testamentarisch angeordnet hatte, alle Skizzen, Briefe, etc zu vernichten. Dadurch gingen leider eine Menge Informationen betreffend Textgenese (Entwürfe, Skizzen, Manuskripte) verloren.


    Das Nachwort von Florian Illies habe ich zuerst gelesen, glücklicherweise. Er nennt sein Nachwort "Eine kleine Gebrauchsanleitung für Abende mit Keyserling". Natürlich nicht ganz so ernst zu nehmen, aber passt zu meinem Vorhaben und spannende Hinweise gibt es dazu: beispielsweise wusste ich nicht mal, dass EvK krankheitsbedingt erblindete und ab 1905 seine Texte diktierte.

    "Der leise Hauch von Traurigkeit", "die Sinnlichkeit in den Schilderungen eines Sommernachmittags" - das alles mit "höchster Konzentration und Präzision aus den Tiefen des Gedächtnisses"... Ich werde mal darauf achten, wie sich sein Stil im Laufe der Zeit, auch mit Hinblick auf seinen Sehverlust hin, ändert.


    Zuletzt noch der Hinweis, dass natürlich auch eine editorische Notiz, Quellenverzeichnis, Bilder mitsamt Verzeichnis, Zeittafel, etc vorhanden ist. Meinen Anspruch an eine fundierte, kommentierte Ausgabe erfüllt das Buch, ohne einen anstregenden, wissenschaftlichen Eindruck zu hinterlassen.


    Bisher kenne ich von Eduard von Keyserling nur die Novelle "Schwüle Tage", die ich vor 5 Jahren las (übrigens ebenfalls in dieser Sammlung enthalten).

    Hier im Thread werde ich nicht alle Erzählungen kommentieren, vielmehr ein paar erwähnen, die mir besonders gut gefallen. Das hatte ich bei meiner Lektüre der Kurzgeschichten von Heinrich Böll bereits geplant, dann aber keine Zeit und Lust mehr gehabt. Aber ich versuche es nochmals und frage auch: welche Kurzgeschichte von Eduard von Keyserling hat Euch am besten gefallen?

  • Nungesser

    Hat den Titel des Themas von „Eduard von Keyerserlings - Landpartie“ zu „Eduard von Keyserling - Landpartie“ geändert.
  • Dann starte ich doch direkt mit der ersten Erzählung:


    Nur zwei Tränen, 13 Seiten, Erstveröffentlichung am 05. März 1882 in der Wiener Allgemeine Zeitung

    Der 27-jährige Keyserling reicht sie damals bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb ein und erzielt den Zweiten Preis; leider steht nicht dabei, wer den Ersten Platz machte...


    Der Ich-Erzähler berichtet von einer Schulstunde, als die Klasse das 7. Kapitel des IV. Buches von Xenophons "Anabasis" durchnehmen. Darin jubeln die Soldaten "Thálatta, Thálatta!", also "Das Meer, das Meer". Und plötzlich erinnert sich der Erzähler an ein Erlebnis am Meer: der Wind, die Wellen, das salzige Wasser, an Strandurlaub - und an Lotte, des Strandwächters Tochter, und was an jenem Tag geschah. In Gedanken daran kullern dem Erzähler während des Unterrichts zwei Tränen über die Wangen, die nicht unbemerkt bleiben. Mitschüler denken, er sei weinerlich, möglicherweise weil der Lehrer ihn als "Esel" beschimpft, weil der Junge nicht aufgepasst hat - aber der Erzähler und die Leser wissen es besser...


    Eine tragische Sommergeschichte, verschachtelt in einer Rahmenhandlung, überraschend leicht zu lesen und gar nicht angestaubt. Im Kommentarteil wird auf das Motiv des Meeres hingewiesen, auf Herkunft des Autors und spätere Werke mit dem Leitmotiv (bspw den Roman "Wellen").

  • Aus dem gleichen Jahr (1882) ist die Erzählung "Mit 14 Tagen Kündigung", 7 Seiten lang:


    Frau Pinapel aus dem Haus gegenüber macht selten einen Spaziergang. Nun macht sie sich doch schick gekleidet auf den Weg. Darauf vom Hausmeister angesprochen, meldet die ältere Dame, dass sie spüre in 14 Tagen zu sterben. Sie wolle nochmals ihr wichtige Orte besuchen und er solle nach einer geeigneten Nachmieterin Ausschau halten...

    Von der Aussage neugierig geworden, folgt ihr der Nachbarsjunge an einen der offenbar wichtigen Orte: ein Ausflugslokal, mittlerweile heruntergekommen, sicher nicht mehr der Ort, den die alte Dame anzutreffen hoffte, es hat sich einiges verändert...


    Gleich nochmals eine traurige, melancholische Geschichte, diesmal mit Handlungsort Wien, wo EvK seit 1878 studierte.

  • Meinen Vorsatz die Erzählungen in chronologischer Reihenfolge zu lesen, habe ich gestern abend bereits fallen lassen. Anstatt 2-3 kürzere Geschichten zu lesen, unternahm ich einen Re-read der tollen Novelle "Schwüle Tage" aus dem Jahr 1904, im Sammelband 50 Seiten plus 5 Seiten Kommentarteil.

    Hierzu gibt es bereits eine Rezi, und mein Kommentar von vor 5 Jahren gilt weiterhin

    Als Leser muss man sich eben darauf einlassen, die poetische Sprache und den Sommer auf dem Land genießen. Man kann die Geschichte gerne als schleichenden Niedergang des Adels verstehen. Für mich stand mehr die Vater-Sohn-Beziehung im Vordergrund. Der zu Beginn abweisende, gefühlskalt wirkende Vater erfährt in den Augen seines Sohnes eine komplexe Entwicklung, die ich spannender fand als den Hochmut der Großgrundbesitzer und das Leben der Landarbeiter.

    Neue Einblicke für mich gab der Kommentarteil, zahlreichen Blumen aufgezählt wurden und welche Bedeutung sie haben, zudem Hinweise zu Verfilmungen, Übersetzungen zu Lebzeiten, Neuauflagen, usw

    Ein klarer Lesetipp, falls man es mit einem Text von Eduard von Keyserling mal versuchen möchte.

  • Mittlerweile habe ich doch den grössten Teil der Erzählungen gelesen, ohne dass ich hier die Lust verspürte weitere Texte zu kommentieren. Dennoch möchte ich quasi zum Abschluss noch ein paar Worte loswerden.


    Empfehlenswert ist von Keyserling auf jeden Fall, und dieser Sammelband bietet eine hervorragende Gelegenheit seine Erzählungen kennenzulernen. Die Kommentare im Anhang beschränken sich leider überwiegend auf Übersetzungen französischer Ausdrücke und ein paar Erklärungen fremdsprachiger Wörter, die eigentlich auch im Zusammenhang des Textes verständlich sind. Textgenese und damalige Rezeption, weitere Hintergrundinfos findet man seltener; jedenfalls nicht so häufig, wie ich es mir gewünscht hätte.


    Die Erzählungen des Impressionisten strotzen nur so von Eindrucksbeschreibungen: den Blick über die Wiesen, der Geruch von Blumen, den Eindruck, den spielende Kinder auf die älteren Beobachter machen, usw Allerdings empfand ich es nicht übertrieben oder schwülstig, da hatte ich bspw hier bei Hesse schon Schlimmeres gelesen. Stark im Kontrast zu den leuchtenden Feldern, der Ernte, dem Herrschaftssitz auf dem Land, der jugendlichen Liebe, etc ist dann jedesmal der Verfall, der Tod, die Einsamkeit, die in diesem Idyll versteckt liegt. Ich will nicht sagen "hereinbricht", denn es schwelt bereits im beschriebenen Zustand, die "Katatstrophe / der Schicksalsschlag" liegt in der Luft und tritt dann eben zu Tage.


    Ich will nicht sagen, dass alle Geschichten den selben Aufbau haben oder im gleichen Milieu spielen, aber eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich nicht von der Hand weisen, und es war vielleicht ein Fehler, über 30 Erzählungen eines Autors so rasch nacheinander zu lesen. Andererseits spricht es auch wieder für den Schriftsteller.

    Ich habe jedenfalls für den Rest des Jahres genug von EvK, und möchte mich doch fröhlicherer Lektüre zuwenden.


    Im Nachwort wird von Keyserling übrigens mit Giuseppe Tomaso di Lampedusa und dessen Roman "Der Leopard" verglichen: beides schreibende Aristokraten, die das Erzählen vom Ende beherrschen, feinsinnig, selbstironisierend, ohne sich dem Spottbedürfnis nichtadliger Leser auszusetzen: die antiquierten Standestugenden verkommen, es folgt Mangel an Zucht und Charakter und eine fatale "Sehnsucht nach den Wonnen der Gemütlichkeit". Vielleicht ist EvK auch eine Empfehlung für Jene, denen der Leopard gefallen hat (und umgekehrt).


    Abschliessen möchte ich noch mit einem Zitat, welches ziemlich gut die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Glück beschreibt. Ausgerechnet in der Erzählung "Seine Liebeserfahrung" beobachtet ein Schriftsteller , nachdem er eine hübsche, interessante Frau traf, einzelne Spaziergänger, die sich die Zeit vertreiben.

    Zitat von Eduard von Keyserling

    Im Heimgehen fiel es mir ein: Natürlich, das ist es, nur das. Wir gehen allein in dunkler Einsamkeit, das ist unser Beruf. Und singen in die Dunkelheit hinein. Und plötzlich antwortet einer - singt mit - wir glauben, die Einsamkeit fällt von uns ab - nur das. Alle die Paare, da in der Allee auf den Bänken, saßen nah beieinander, indem sie sich ein Leben zu zweien phantasierten. Diese Formulierung beruhigte mich.