Michel Bergmann - Mameleben oder Das gestohlene Glück

  • Klappentext:


    Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Er erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte dieser eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Mameleben“ ist ein Buch, das mich immer wieder sprachlos machte. Schon im 1. Kapitel setzt sich Bergmann mit Aussagen seiner Mutter auseinander, mit denen er von Kindheit an konfrontiert wurde: „Da überlebt man, und das ist der Dank!“


    So etwas sagt eine Mutter zu ihrem Kind? Ja, so etwas sagte Charlotte Bergmann, und der Autor beginnt sein Buch verständlicherweise mit den religiösen Geboten zur Elternliebe, mit denen er sich zeit seines Lebens auseinandersetzen musste.


    Michel Bergmann schreibt keine Biografie im üblichen Sinn, sondern im Zentrum steht seine sehr persönliche Reflexion über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter. Charlotte Bergmann hat Schlimmes durchstehen müssen. Sie wuchs in einem großbürgerlichen jüdischen Haus bei Nürnberg aus und floh kurz vor dem Abitur nach Paris. Ihre Mutter und ihr Vater, Träger des Eisernen Kreuzes, wurden in Auschwitz ermordet. Sie selber wurde durch die Vichy-Regierung in Gurs interniert und sie entkam der drohenden Deportation durch die Flucht in die Schweiz, wo sie wiederum als illegal eingereiste Ausländerin interniert wurde. An dieser Stelle spart Bergmann nicht mit deutlichen Hinweisen auf die empörende und menschenverachtende Rolle, die die Schweiz gegenüber den Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland einnahm. In der Schweiz trifft sie auf einen Bekannten aus Paris, der ihr Ehemann und Vater des Autors werden wird. Bei Kriegsende reist das Ehepaar zurück nach Deutschland, um das Textilgeschäft der Familie aufzubauen, während das neugeborene Kind über ein Jahr in einem Kinderheim zurückgelassen wird.

    Ist das Mutterliebe?, fragt sich der Autor.


    Er zeichnet seine Mutter als erfolgreiche Geschäftsfrau, begehrte Gesellschafterin, umschwärmt, verehrt, eine schöne und extravagante Frau – und auf der anderen Seite eine übergriffige Mutter, die ihr einziges Kind nicht schonte und die ihren Sohn nicht so nehmen konnte, wie er war. Statt dessen hatte sie große Erwartungen an ihn, was seinen Beruf und seinen sozialen Stand anging, wohingegen sein Gemütsleben ihr völlig gleichgültig war. Sie straft ihn lebenslang dafür ab, dass er einen anderen Weg ging als den, den er ihrer Meinung nach zu gehen hatte: sie kritisiert, sie mäkelt, nichts kann er ihr recht machen, sie überschüttet ihn mit Vorwürfen, macht ihn für ihre eigenen Kümmernisse verantwortlich, mindert seine Leistung, er erfährt keinerlei Wertschätzung – und hinter all dem steht für den Autor immer die Frage: Ist das Mutterliebe?


    Am Ende des Buches kann er diese Frage für sich beantworten. Da wird nämlich deutlich, wieso der Autor, viele Jahre nach dem Tod seiner Mutter, dieses Buch schreibt. Er vermeidet den Begriff der transgenerationalen Traumatisierung, aber er erkennt die bewusstseinsverändernden Auswirkungen der Shoa, die auch ihn betreffen. So sieht er, dass er wie seine Mutter jede Selbstreflexion vermeidet. Inzwischen hat er es gelernt – und so kann er seine Mutter von einem anderen Standpunkt aus ansehen. Und jetzt kann er sich auch die Frage beantworten, ob seine Mutter ihn geliebt habe: ja, aber eben auf ihre recht reduzierte und egozentrierte Weise.


    An diesem Punkt erhellt sich die Bedeutung des Untertitels: „Das gestohlene Glück“. Es ist das Glück seiner Mutter, dass ihr durch die Zeitläufte gestohlen wurde und es ist das Glück des Sohnes, das ihm durch die empfundene Lieblosigkeit seiner Mutter gestohlen wurde.


    Ein sehr bitteres Buch – und zugleich durch das hohe Maß an Reflexion ein sehr versöhnliches Buch: der Autor kann sich seiner Mutter in Liebe erinnern.


    Fazit: eine posthume Annäherung an die Mutter. Sehr lesenswert!


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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Autor: Michel Bergmann

    Titel: Mameleben oder das gestohlene Glück

    Seiten: 244

    ISBN: 978-3-257-07225-9

    Verlag: Diogenes


    Autor:

    Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.


    Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.


    Inhalt:

    Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig - Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus.


    Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte dieser eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist. Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)


    Rezension:

    Schmunzeln, um im nächsten Moment zu verschlucken, da einem das Lachen im Halse stecken bleiben muss. Für Werke, die dies können, lohnt es sich zu lesen und ein solches liegt unbedingt mit "Mameleben oder das gestohlene Glück", des Filmemachers und Autoren Michel Bergmann vor. Er erzählt in einer Mischung aus Romanbiografie, Psychogram und Portrait von der Frau, die ihm über lange Zeit am nächsten Stand und doch kaum zu begreifen war. Seiner Mutter.


    Wer war diese Frau, die in ihren jungen Jahren stetig auf der Flucht war vor jenen, die ihr nach dem Leben trachteten, die dem Schicksal vieler entrinnen konnte und die viel zu späten Momente des Glücks schon alleine dadurch nicht genießen konnte? Wer war diese Mutterfigur, die ihrem Sohn Zeit ihres Lebens Vorwürfe der Ungenügsamkeit machen, kaum Stolz und Anerkennung zukommen lassen sollte?


    Zitat

    Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.


    Der Autor verfolgt die Spuren eines bewegenden Lebens, ihren Kreuzungen und Wegmarken, versucht Erklärungen zu finden, für Gefühle, Taten, Erlebtes. Dabei schon er seine Mutterfigur nicht, lässt sie jedoch auch in allen Farben leuchten. Momente des Einfühlens wechseln mit nüchterner Betrachtung der Ereignisse. Und hat dabei den Zwiespalt einer ganzen Generation Überlebender des Holocausts und ihrer Nachfahren zu Papier gebracht.


    Wir folgen der Mutter, der Hauptprotagonistin, auf ihren Weg über Jahrzehnte, streifen Orte und Ereignisse. Nach und nach schälen sich Widersprüche, Ecken und Kanten heraus. Charlotte ist ob des Erfahrenen verkühlt, bis zuletzt nur selten fähig, sich selbst ihren Nächsten gegenüber zu öffnen, fallen zu lassen. Der Sohn Michel "Mimi" schaut zu ihr auf und sucht doch seinen Weg zu finden.


    Wie die Handlungsorte wechseln die Farben des Romans. Frohsinn, Melancholie, Streitsucht, Versöhnung. Bergmann hat es geschafft auf wenig Seiten so viel unterzubringen. Vielleicht kann man die Hauptprotagonistin als kompliziert bezeichnen. Wer ist dies nicht? Erzählungen über Unkompliziertes lohnt sich ja kaum, möchte man beim Lesen des Romans meinen.


    Zitat

    Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.


    Mit beiden Figuren, die des Autoren, der sich alles um seiner Selbstwillen von der Seele geschrieben hat, wie auch mit Charlotte fühlt man mit. Ganze Passagen treffen einem im Inneresten, lassen nicht los und geben Stoff zum Nachdenken. Es passiert ja auch immer etwas. Das beschriebene Leben aus Tälern und Bergen bestehend, allzu oft sind es erstere, die hier die Grundstimmung vorgeben.


    Immer wieder schwenkt der Blick zurück in die Vergangenheit, mal um wenige Jahre, dann um Jahrzehnte, um sofort wieder ins Jetzt zu gelangen, was das Erzähltempo bestimmt, ohne jedoch den Faden zu verlieren. Die Erzählperspektive ist die des Sohnes, der die Geschichte seiner Mutter gleichsam eines Puzzles zusammensetzt, sich Zeit nimmt um zu ergründen, was er vorher nicht verstehen oder nachvollziehen konnte.


    Zitat

    Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. [...] Wir alle wären andere. Und unsere Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.


    Er tut dies mit einer sehr bildhaften Sprache. Schauplätze und Ereignisse erscheinen sehr lebendig. Hier kommt das Talent des Filmemachers zum Tragen. Und so ist "Mameleben" ein Schriftstück, welches stellvertretend für eine ganze Generation Überlebender und ihrer Nachfahren steht, für Kinder auf der Suche nach den Beweggründen ihrer Eltern und Denkmal für jene, die wir erst viel zu spät begreifen, "A jiddische mame" halt.