Anthony Doerr - Wolkenkuckucksland / Cloud Cuckoo Land

  • Durch Zeiten und Geschichten


    Der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Anthony Doerr ist eine Hommage an die Werke der Antike, an Bibliotheken und Bücher, die Natur, an unsere Welt - großartig!

    1453 wird das christliche Konstantinopel belagert und nach fast 1000 Jahren werden die starken Mauern erstmals fallen. Hinter diesen Mauern lebt die kleine Waise Anna, die als Stickerin arbeitet. Draußen vor der Mauer muss Omier die Osmanen bei der Eroberung der Stadt unterstützen.

    2020 kann Seymour die Zerstörung der Umwelt nicht mehr ertragen und will ein Bauunternehmen in Idaho schädigen, indem er in der benachbarten Bibliothek eine Bombe platziert.

    In einer fernen Zukunft ist Konstance in einem Raumschiff unterwegs, um gemeinsam mit ihren Eltern und anderen Passagieren, einen neuen Planeten zu besiedeln.

    Diese Schicksale sind durch einen antiken Roman verbunden, in welchem der (Anti-)Held auf der Suche nach der Stadt in den Wolken ist.

    Wow, was für ein Buch. So viele Geschichten, so viele Charaktere und so eine unglaublich breit gefächerte Handlung.

    Der Roman ist komplex angelegt, da nicht nur die drei Erzählstränge abwechselnd aufgegriffen werden, sondern diese auch noch durch Einschübe aus dem antiken Roman gegliedert werden. Zudem gibt es noch Zeitsprünge innerhalb der einzelnen Erzähltstränge, die Abschnitte werden nicht chronologisch erzählt.

    Was zunächst etwas verwirrt, entfaltet bald eine unglaubliche Sogwirkung, denn Doerrs Charaktere sind so tief, besonders und glaubwürdig gezeichnet, dass man ihnen und ihren Geschichten einfach folgen muss. Wir können bis in das Innerste der Figuren schauen. Der dichte, atmosphärische Schreibstil und die Detailfreunde des Autors lassen das mittelalterliche Konstantinopel ebenso vor dem geistigen Auge lebendig werden, wie die Zustände im Raumschiff.

    Die antike Mythologie, ihre Romane und Helden spielen als Unterbau eine wichtige Rolle im Roman. Es gibt viele Anspielungen, die das Lesevergnügen noch steigern. So heißt z.B. die künstliche Intelligenz im Raumschiff Sybil, nach der antiken Seherin/Prophetin Sibylle. Daneben werden Umweltzerstörung und globale Technologie thematisiert.

    Im Mittelpunkt stehen aber die jungen Protagonisten in den verschiedenen Jahrhunderten, die alle an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen.

    Das Buch ist wahrlich umwerfend konstruiert und geschrieben, ein Leckerbissen für Literaturfans. Man sollte aber gerade zu Beginn nicht der Versucherung erliegen, immer nur kleine Häppchen zu lesen, da sich dies wegen der kurzen Kapitel anbietet. Lieber für den Einstieg etwas Zeit nehmen und sich mit allen Erzählsträngen vertraut machen, dann kann man das Buch kaum noch aus der Hand legen.

    Eine absolute Leseempfehlung und fünf Sterne für Wolkenkuckucksland in seinem wunderschönen Cover.

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Anthony Doerr - Wolkenkuckucksland“ zu „Anthony Doerr - Wolkenkuckucksland / Cloud Cuckoo Land“ geändert.
  • Die beiden mir bekannten Romane von DOERR zeichneten sich durch hohe sprachliche und emotionale Intensität aus. Deshalb konnte und wollte ich mich ganz schnell ins Wolkenkuckucksland führen lassen. Ich habe mich für die Hörbuch-Variante entschieden.


    Der Roman ist kunstvoll konstruiert: Er findet nicht nur auf drei Zeitebenen statt, sondern umfasst in diesen Epochen (Mittelalter, Gegenwart und nahe Zukunft) jeweils auch noch längere Zeitabschnitte, die – zu allem Überfluss – auch nicht immer chronologisch abgearbeitet werden. Als erste Aufgabe an die Leser/innen steht da ein wenig Orientierungsarbeit ins Haus.

    Wie sich das für einen solchen komplexen Plot gehört, gibt es natürlich ein verbindendes Element: den fragmentarisch überlieferten altertümlichen Text vom Wolkenkuckucksland, dessen Weg durch die Jahrhunderte zu einer eigenen Geschichte in den Geschichten wird.

    Eins wird im Laufe der Erzählung immer deutlicher: DOERR zelebriert mit diesem Roman nicht nur dieses spezielle schriftliche Zeugnis, sondern die Literatur, das Lesen, die Bücher schlechthin.


    In diesem beeindruckenden historischen Panorama streckt ein ganzes Kaleidoskop an Themen, Ideen und menschlichen Grunderfahrungen: Es geht um Armut, Krieg, Willkür, Grausamkeit, Wissensdurst, Solidarität, Mitgefühl, Loyalität und Liebe.

    Da, wo der Autor seine Schwerpunkte setzt, tut er das mit einer – oft geradezu schonungslosen – Detailtiefe. Wir erleben z.B. die Belagerung Konstantinopels so hautnah, als hätten wir selbst die neuen Kanonenwaffen mit unseren Ochsen herangeschleppt; ebenso teilen wir das Bangen und die verzweifelte Gegenwehr der Eingeschlossenen. DUERR geht nicht nur dicht heran, sondern benutzt seine Sprachkünste auch zur Vermittlung der Härte des Lebens und des Leidens der Protagonisten.


    Egal in welche Zeit wir schauen: die Figuren, die wir kennenlernen, sind alle keine glänzende Helden; sie sind geprägt durch biografische Belastungen und Brüche. Doch sie tragen auch eine innere Orientierung in sich, sind geerdet und geprägt in einem ureigenen Wertesystem. Dabei spielt weniger Intellektualität eine Rolle, es ist eher die „Weisheit der Herzen“ (oder „die Kraft der unmittelbaren Menschlichkeit“), die wir in und durch die Protagonisten gezeigt und vorgelebt bekommen.

    Natürlich gibt es zahlreiche Bezüge zwischen der verbindenden „Ur-Geschichte“ vom Wolkenkuckucksland und den Handlungssträngen des Romans. Dieses Buch ist so überbordend gefüllt mit Metaphern, Bildern, Anspielungen und philosophischen Ideen, das man es sicher mehrfach lesen (oder hören) müsste, um dem wirklich gerecht zu werden.


    Dieses Buch lädt zum Eintauchen und Verweilen ein. Es ist keine leichte und schnelle Kost. Es nimmt einen mit in den Schlamm, den Schmerz, die Ohnmacht – und zeigt gleichzeitig auch die Kraft und die Sinngebung zum Weiterleben.

    So wie der Text des Wolkenkuckucksland über die Generationen und Jahrhunderte überliefert wurde, ist vielleicht auch das Leben des Einzelnen nur eine kleine Stufe auf der historischen Treppe der Menschheit. Sollten wir uns möglicherweise selbst nicht so fürchterlich wichtig nehmen?


    Die Grundcharakteristik des Romans ist möglicherweise auch eine (kleine) Schwäche: Man muss schon Gefallen finden an solch einer verschachtelten Komposition, man muss Vergnügen daran finden, sich in die Stränge hineinzuarbeiten – sonst kann es auch als verwirrend, anstrengend oder gar als Zumutung empfunden werden.

    Auch die Detailtiefe kann schon mal nervig werden: Wieviel Geduld hat man als Leser/in bei der (gefühlt stundenlangen) Begleitung des Ochsengespanns Richtung Konstantinopel?



    Sich dieses Buch als Hörbuch zu gönnen, ist ganz sicher keine schlechte Idee. Frank ARNOLD ist ein toller Sprecher, der mit seiner Stimme ein absolut stimmiger Erzähler für diese ausladende Geschichte ist.

    (Ein kleiner Tipp: Legt euch in der ersten Stunde einen kleinen Zettel bereit, auf dem ihr kurz die Namen der Protagonisten, die Zeit bzw. den Handlungsort notiert. So sind dann die Wechsel der Ebenen leichter nachzuvollziehen. Später ist das dann kein Problem mehr…).

  • Eine Geschichte, die verbindet

    Es gibt Bücher, in denen Geschichten Jahrhunderte ja Jahrtausende überdauern. Sie werden gehütet, behütet, bewahrt und beschützt. Sie spenden mit ihren Geschichten Trost und Hoffnung. Sie helfen schrecklichen Lebensumständen zu entfliehen und die eigene Wirklichkeit zu ertragen. Sie sähen Hoffnung, wo diese längst zu Grabe getragen ist. Sie entflammen ein Feuer der Sehnsucht in den Herzen der Leser und lassen, die Hoffnung sprießen und gedeihen.



    Eben jenem Wunder und die Macht der Bücher und welche Wirkung, diese auf Menschen zu verschiedenen Zeiten haben können, nimmt sich der Autor hier an. Durch die vielen Handlungsstränge, ist es allerdings Anfangs alles andere als leicht in diese Geschichte einzutauchen. Nicht zu letzt oder gerade weil der Autor so gefühlskalt und nüchtern schreibt.



    Die Handlung erstreckt sich über viele Jahrhunderte. Ein und das gleiche Buch taucht in verschiedenen Epochen unserer Weltgeschichte auf. Dieses Buch wird gelesen, vorgelesen, übersetzt, gerettet und wieder belebt. So viele Menschen sind daran beteiligt es nicht nur vor dem Verfall nein auch vor der Vernichtung und dem Vergessen zu retten. Als Leser taucht man mal für kurz oder für länger in die Verschiedenen Epochen ein und lernt nicht nur die Geschichte, die erzählt wird, sondern auch die der Figuren kennen.



    Die Vielzahl der Figuren ist Anfangs fast ein wenig viel für den Leser. Bis man sie sich alle so sortiert hat dauert es eine ganze Weile. Mit der Zeit bewegen sich die Erzählstränge und damit auch die Figuren auf einander zu und kreuzen ihre Lebenswege. Ganz ehrlich Anna und Omeir´s Geschichte war zwar interessant vor allem gegen Ende, aber war es zeitweise wirklich sehr mühsam sich durch ihre Abschnitte zu kämpfen. Andere Abschnitte von Zeno, Seemoure und Konstance habe ich dagegen regelrecht verschlungen. Womöglich liegt es auch einfach daran, dass mir die Zeitabschnitte, für die diese Figuren stehen, mir einfach ein wenig näher sind. Allerdings hätte ich mir ähnlich wie bei der Handlung auch etwas mehr Tiefe bei den Figuren gewünscht. Diese bereits nüchterne und gefühlskalte Erzählweise schlägt sich leider auch bei den Figuren nieder. Sich ihnen zu näheren, macht es dadurch nicht gerade einfacher.



    Fazit: Ein alles andere als einfaches Buch. Nicht nur das es sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckt, bietet es auch Raum für viele Zeitepochen. Von der Antike über das Mittelalter, unsere Gegenwart und ein Ausblick auf eine mögliche Zukunft. Der gefühlskalte Erzählstil erschwert es Anfangs doch sehr in diese Geschichte einzutauchen. Doch irgendwann packt es einen und man kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Da diese Geschichte doch sehr speziell ist und verschiedene Genres miteinander verbindet, ist durchaus für jeden Geschmack etwas dabei. Aber seit euch auch bewusst, dass es auch immer wieder Abschnitte geben wird, die euch so einiges abverlangen werden.

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  • Die uralte Geschichte eines Reisenden auf der Suche nach dem sagenumwobenen "Wolkenkuckucksland" ist im alten Griechenland entstanden und war jahrhundertelang verschollen, bis Fragmente des Manuskripts während der Belagerung von Konstantinopel der abenteuerlustigen Anna in die Hände fallen, die sich nicht damit zufriedengeben will, brav Handarbeiten zu machen und fromm zu sein und bloß nicht aufzufallen. Draußen umherstreifen und spannende Geschichten lesen ist viel eher ihre Sache, doch diese Vorlieben tragen nicht nur ihr, sondern auch ihrer Schwester große Probleme ein und bringen sie in Gefahr.


    Etwa zur gleichen Zeit wird im heutigen Bulgarien Omeir mit einer Gaumenspalte geboren, was als schlechtes Omen gilt und dafür spricht, das Baby einfach auszusetzen und seinem Schicksal zu überlassen. Nur seinem Großvater hat er zu verdanken, dass er leben darf, obwohl es in seiner Familie zu Unglücksfällen gekommen ist, die nach landläufiger Meinung dafür sprechen, dass dieses Kind nichts Gutes verheißt.


    In Idaho dringt ein Jugendlicher in die Stadtbibliothek ein, um einen Anschlag zu verüben. In einem Nebenraum des Gebäudes probt der betagte Zeno Ninis, Koreakriegsveteran mit einem spät entdeckten Faible für Literatur und Sprache, gerade mit einer Gruppe von Kindern eine Aufführung des uralten griechischen Stückes, das ihm aus bestimmten Gründen ganz besonders am Herzen liegt.


    Und in der nicht allzu fernen Zukunft ist das Mädchen Konstance an Bord eines interstellaren Raumschiffs auf dem Weg zu einem fernen Planeten, der die neue Heimat der Menschen werden soll, weil die Erde unbewohnbar geworden ist. Als an Bord eine Notsituation ausbricht, flüchtet sich Konstance in die bewährte VR-Bibliothek der Raumfahrer und findet ganz unerwartet Trost in einem Text, der Jahrtausende alt sein muss.


    Die griechische Legende, die nur noch in fragilen Bruchstücken erhalten ist, bildet die große Klammer, die die verschiedenen Erzählstränge des Romans zusammenhält. Jedes der 24 Überkapitel wird durch eines dieser Fragmente eingeleitet und springt dann zwischen den einzelnen Protagonisten und Zeitebenen hin und her, was zunächst erst einmal Fragezeichen aufwirft, bis dann immer klarer wird, wo die Verbindungen liegen. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Lebenswelten verbindet die Hauptfiguren die Macht der Sprache und der Geschichten und die Tatsache, dass alle in bewegten Zeiten leben und mit großen Umbrüchen fertigwerden müssen.


    Das Buch ist vielschichtig und komplex und schneidet viele interessante Themen an, ohne aber dabei überfrachtet zu wirken. Das liegt sicherlich auch an Doerrs glasklarer Sprache, die einfach wirkt und trotzdem besonders ist, unsentimental und gerade deshalb berührend. Nicht zuletzt dadurch entwickelt der Roman eine enorme Sogwirkung, so dass ich ihn kaum aus der Hand legen mochte.


    Für Leser:innen, die gerne lineare, actionreiche Geschichten mögen, ist "Cloud Cuckoo Land" vermutlich eher nichts, aber ich habe das Buch sprachlich wie inhaltlich sehr genossen, und es ist bei mir ziemlich weit oben auf dem diesjährigen persönlichen Bücher-Olymp gelandet.


    Als nüchtern und gefühlskalt habe ich das Buch übrigens nicht im geringsten empfunden. Doerr ist aber keiner, der sich in langen gefühligen Schilderungen ergeht, er bringt vieles sehr präzise mit ganz wenigen Worten auf den Punkt.