Kazuo Ishiguro - Damals in Nagasaki (ab 01.07.2021)

  • Der beschwerliche Weg zur Hütte ist mir beispielsweise gar nicht aufgefallen, das finde ich aber interessant.

    Mir auch nicht, aber das kann ich gut nachvollziehen.

    Ich würde jetzt nicht von "dissoziativer Persönlichkeit" sprechen wollen, weil ich Diagnosen anhand eines Textes nicht unbedingt für angebracht halte, aber wenn ich das für mich mit "Erinnerungsschwierigkeiten" oder "unzuverlässigen, verschwimmenden Erinnerungen" ersetze, passt es für mich wieder.

    Ich kann Deine Probleme mit quasi umgangssprachlichen Diagnosen sehr gut nachvollziehen. Mir geht es immer so, wenn jemand meint, heute sei er "depressiv". Da kann ich nur mitleidig gucken und ihm wünschen, dass er niemals im Leben erleben muss, was eine Depression ist.


    Trotzdem: Bei "Erinnerungsschwierigkeiten" hätte ich wiederum Probleme, viele metaphorische Komplexe (wie eben der Weg zur Hütte, das Seil, die Kindstötungen etc.) unterzubringen. Für mich ist die Vorstellung eines Alter Ego oder einer Projektion hilfreicher. Das ist nur meine persönliche Ansicht, wobei es mir gefällt, wenn man zu ein und derselben Sache BEGRÜNDET anderer Meinung ist.


    Übrigens vergleicht die Verfasserin des Nachworts den Roman mit "Fight Club" von Chuck Palahniuk. Auch dieser Roman arbeitet mit Andeutungen, die sich beim zweiten Lesen als so offensichtlich herausstellen, dass ich nicht verstehen konnte, wie ich das überlesen konnte.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Interessant ist die Stelle, an der er sich über die Gestaltung seines neuen Romans Gedanken macht.

    Danke für das Zitat! Damit verabschiedet sich Ishiguro, wenn ich ihn richtig verstehe, von einer chronologischen und handlungslogischen Erzählweise, die wir in dieser MLR dauernd gesucht haben.

    Seine Erzähllogik liegt im Psychologischen, in der Selbstwahrnehmung und -täuschung etc. Das ist sicher ein spannender Ansatz, aber für den Leser nicht leicht.

    Aber dass es gelingt, zeigt er ja mit diesem Buch.


    Danke für Deine Informationen.

    Wenn die MLR zu "Der begrabene Riese" startet, werde ich das Buch mit tieferem Verständnis lesen.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Trotzdem: Bei "Erinnerungsschwierigkeiten" hätte ich wiederum Probleme, viele metaphorische Komplexe (wie eben der Weg zur Hütte, das Seil, die Kindstötungen etc.) unterzubringen. Für mich ist die Vorstellung eines Alter Ego oder einer Projektion hilfreicher. Das ist nur meine persönliche Ansicht, wobei es mir gefällt, wenn man zu ein und derselben Sache BEGRÜNDET anderer Meinung ist.

    Für mich ist einfach "dissotiative Persönlichkeit" in Bezug auf Belletristik inzwischen ein rotes Tuch geworden, seit gewisse Thrillerautoren das genutzt haben, um ihren Mörder zu verschleiern. :roll: In Bezug auf Etsukos Erlebnisse ist das sicherlich keine vollkommen unwahrscheinliche Diagnose, aber ich finde auch, dass eine Diagnose in dem Fall unnötig ist.


    Mit "Alter Ego" oder "Projektion" kann ich mich durchaus anfreunden - mich stört nur das Festlegen auf eine bestimmte Diagnose. Man kann auch an Erinnerungsverlust nach erlittenen Traumata leiden (PTBS, dissotiative Amnesie...), ohne eine dissotiative Persönlichkeit zu haben. Tatsächlich reibe ich mich mehr am Begriff "Persönlichkeit" als an "dissotiativ". "Persönlichkeit" impliziert für mich eine Dauerhaftigkeit (sag ich jetzt so als Laie), bei Etsuko scheinen mir das Phasen zu sein.


    Und persönlich kannte ich auch mal jemanden mit einer "dissotiativen Identitätsstörung" und das war etwas ganz anderes, als wir es bei Etsuko erleben. Man geht ja auch davon aus, dass so einer Störung, die sehr selten ist, ein schweres Trauma in der Kindheit vorausgeht, was bei Etsuko ja auch nicht der Fall ist. (Soweit wir wissen.)

  • Man geht ja auch davon aus, dass so einer Störung, die sehr selten ist, ein schweres Trauma in der Kindheit vorausgeht, was bei Etsuko ja auch nicht der Fall ist. (Soweit wir wissen.)

    Wir wissen nur vom Trauma des Krieges und der damit einhergehenden Krise.

    Übrigens nutzte Frau Kühmel diesen Begriff der "dissoziativen Persönlichkeit" wortwörtlich, der ist also nicht das Ergebnis meiner Zusammenfassung.

    Ich denke auch, dass es jetzt nur um Worte geht, mit der man die Befindlichkeit Etsukos/Sachikos fassen kann.

    Mir hat die Aussage von Frau Kühmel gut gefallen, dass Etsuko nur aufgrund dieser Spaltung in der Lage ist, ihre Biografie zu greifen/begreifen.

    Da geht es mir wie mit einer Fallgrube: die Geschichte wandert so dahin, und auf einmal öffnet sich eine Senke und man starrt in ein schreckliches Loch. Wie hier in Etsukos Biografie.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Mir hat die Aussage von Frau Kühmel gut gefallen, dass Etsuko nur aufgrund dieser Spaltung in der Lage ist, ihre Biografie zu greifen/begreifen.

    Auch da gefällt mir persönlich "Übertragung" oder "Projektion" besser, denn eine Spaltung hat wirklich ganz krasse Folgen für die Persönlichkeit. Aber das sind ja wirklich nur Begrifflichkeiten - mit der Aussage stimme ich absolut überein. Nur so ist es ihr möglich, sich zu erinnern und bis zu einem gewissen Grad Schuld einzugestehen und damit zu leben.

  • Danke für das Zitat! Damit verabschiedet sich Ishiguro, wenn ich ihn richtig verstehe, von einer chronologischen und handlungslogischen Erzählweise, die wir in dieser MLR dauernd gesucht haben.

    Ja, nur bezieht sich dieses Zitat auf seinen zweiten Roman, was mich gewundert hat, denn diese Methode wendet er doch schon in seinem Debütroman an. Schon bin ich wieder verunsichert, was die Identität von Sachiko angeht. :lol:

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer