Kazuo Ishiguro - Damals in Nagasaki (ab 01.07.2021)

  • Was ist mit dem Nachwort?

    Lohnt es sich zu lesen?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • hast Du die Neuausgabe von Blessing?

    Ja!

    12 Seiten.

    Darf ich das einscannen und hier hineinstellen?

    Oder soll ich berichten, was drin steht?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Darf ich das einscannen und hier hineinstellen?

    Meinetwegen gerne, könnte aber ein Urheberrechtsproblem sein. Vielleicht fasst Du das Wichtigste zusammen, wenn Dir das nicht zu viel Arbeit ist?


    Ich mag die neuen Ausgaben übrigens gern, ich habe davon "Alles, was wir geben mussten".

  • Vielleicht fasst Du das Wichtigste zusammen, wenn Dir das nicht zu viel Arbeit ist?

    Nein, ist es nicht. Ich melde mich dann wieder!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Beim begrabenen Riesen wäre ich sofort dabei. Immer noch mein Lieblingsroman

    von Ishiguro.

    Dass ist eines der Bücher, die lange in mir gären.

    Eine einfach geniale Parabel.

    Eine Leserunde mit Dir wäre sehr schön.

    Danke für die Erwähnung dieses Buches, September wäre toll, bin gerne dabei, müsst mich vielleicht einfach wieder mal per PN daran erinnern wenn ich es überlesen sollte.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Da bin ich ja gespannt, in der älteren Taschenbuchausgabe gibt es kein Nachwort.


    Ich würde gern noch meine Meinung zu dem Buch äußern, ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen.
    drawe glaubt, dass Etsuko und Sachiko ein und dieselbe Person sind, für *Katrin* sind es zwei verschiedene Personen und Naraya fände eine unbewusste Persönlichkeitsspaltung (die ja pathologisch wäre) als Erklärung etwas zu einfach. Herr Ishiguro würde sagen, was auch Naraya früher schon mal gesagt hat: Es ist gar nicht wichtig, ob Etsuko und Sachiko dieselbe Person ist oder nicht.


    Ishiguro ist kein realistischer Schriftsteller. Es geht ihm nicht um die Abbildung der Wirklichkeit oder um logische Zusammenhänge. Auch die zeitgeschichtliche Perspektive oder die seelische Verfassung eines bestimmten Volkes in einer bestimmten Periode sind bei ihm nie das Hauptthema. Zwar spielen einige seiner Bücher direkt nach dem zweiten Weltkrieg, also in einer Zeit des Umbruchs, der Orientierungslosigkeit und des Versuchs einer Neuorientierung, auch in „Der begrabene Riese“ ist eine Zeit der Veränderung angebrochen, aber Ishiguro geht es um universellere Themen: um die Ergründung ethischer Dimensionen und vor allem um die Psychologie seiner Romanfiguren. Sehr subtil, nur andeutend und immer in der Schwebe lassend, beschreibt er das Innenleben seiner Protagonisten, die Motive für ihr Handeln, ihre schwankenden Überzeugungen, ihre Fehlentscheidungen. Seine vorrangigen Themen sind Zeit und Erinnerung, daneben auch Entfremdung und die Suche nach Identität. Etsuko scheint wie alle Romanfiguren bei Ishiguro immer etwas außerhalb zu stehen, sie hat zu niemandem eine wirkliche Bindung, nicht einmal zu ihrer Tochter Nikki.


    In Ishiguros Romanen finden sich immer wieder surreale Züge, paradoxe Situationen und Traumpassagen. Auch „Damals in Nagasaki“ folgt nicht einer realen Logik, sondern einer Traumlogik, denn Erinnerung und Traum arbeiten nach demselben Prinzip: Sie sind nebelhaft, verdrängen, verfälschen, deuten um und verschlüsseln. Diese Mordserie an Kindern oder die Schnur, die sich um Etsukos Fuß gewickelt hat, habe ich schon beim Lesen für symbolische Verschlüsselungen gehalten, nicht für reale Vorgänge, Etsuko erinnert sich über einen langen Zeitraum hinweg und verwechselt dabei immer wieder Traum und Wirklichkeit.


    Vielleicht existierte Sachiko wirklich, aber wie sie tatsächlich war, wissen wir nicht, sondern wir wissen nur, was Etsuko uns wissen lassen will. Sie benutzt Sachiko, um ihr die eigene Schuld in die Schuhe zu schieben, aber es gibt immer wieder Brüche, weil zwischendurch dann doch die Wahrheit durchscheint, sodass plötzlich Etsuko an die Stelle von Sachiko tritt.


    Ebenso gut könnte Sachiko das alter Ego von Etsuko sein. Sie spricht von einer Frau, die sie einst kannte. Dann kommt der etwas merkwürdige Satz: „Ichkannte sie, als ich in Nagasaki lebte, wenn du das meinst“. Das klingt, als ob sie von einem früheren Selbst redet, das sie nicht mehr ist und nicht mehr sein will, von dem sie sich also distanziert. Wahrscheinlich hat Etsuko nach der Trennung von ihrem Mann wirklich ein bisschen über die Stränge geschlagen, ist ausgegangen, in Bars, zum Tanzen, wollte einen netten Mann kennenlernen, sich ein bisschen amüsieren, einfach Spaß haben und hat dabei ihre Tochter vernachlässigt. Aber ich habe immer das Gefühl, dass Etsuko im Grunde doch eher die konventionelle Frau geblieben ist, als die sich am Anfang darstellt, und sich für die Zeit als „Sachiko“ verurteilt.

    Übrigens drawe , ich glaube nicht, dass Etsuko damals mit Nikki schwanger war, sondern tatsächlich mit Keiko. Frau Fujiwara erkennt, dass Etsuko unglücklich ist und sagt ihr, wenn erstmal das Kind da wäre, würde sie sich besser fühlen. Das ist er der Rat einer zwar taffen, aber noch einer anderen Zeit angehörenden Frau, für die die Mutterschaft noch die Erfüllung war. Ihr Rat hätte doch gar keinen Sinn, wenn schon ein Kind dagewesen wäre. Mir scheint, dass die Schuldgefühle Etsukos nicht erst mit der Zeit nach der Trennung einsetzen, sondern schon mit der Zeit ihrer Schwangerschaft. Sie lebte in einer unglücklichen Ehe und hat sich nicht auf das Kind gefreut, sondern es eher als Belastung empfunden, weil es sie noch stärker an Jiro gebunden hat. Das hat sie dann wahrscheinlich unbewusst Keiko spüren lassen.


    Der Schluss des Buches ist auch stark: Er wirkt versöhnlich, aber zugleich unendlich traurig.

    :study: Olga Tokarczuk - Gesang der Fledermäuse

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Übrigens drawe , ich glaube nicht, dass Etsuko damals mit Nikki schwanger war, sondern tatsächlich mit Keiko. Frau Fujiwara erkennt, dass Etsuko unglücklich ist und sagt ihr, wenn erstmal das Kind da wäre, würde sie sich besser fühlen. Das ist er der Rat einer zwar taffen, aber noch einer anderen Zeit angehörenden Frau, für die die Mutterschaft noch die Erfüllung war. Ihr Rat hätte doch gar keinen Sinn, wenn schon ein Kind dagewesen wäre.

    Das würde doch dann aber bedeuten, dass Keiko definitiv nicht auf dem Ausflug gewesen sein kann und Etsuko sich hier irrt? Wer war dann das Kind auf eben jenem Ausflug, wenn Mariko nicht existiert - was ist Deine Theorie dazu?


    Und danke für Deinen ausführlichen Beitrag!

  • Das würde doch dann aber bedeuten, dass Keiko definitiv nicht auf dem Ausflug gewesen sein kann und Etsuko sich hier irrt?

    Nicht wenn man die die Geschichte als Mischung von Traum und Erinnerung deutet, wobei die Erinnerung stark von Verdrängen, Vergessen, Fälschen oder Umdeuten, aber eben auch von Verwechseln und Verschwimmen bestimmt ist. Es könnte doch sein, dass sie einen späteren Ausflug mit Keiko in den früheren Ausflug mit Sachiko und Mariko hineinprojeziert. Sie spricht ja auch von einem "glücklichen Tag", aber dieser Vorfall zwischen Mariko und Akira lassen ihn mir nicht so sonderlich glücklich erscheinen.

    Ich muss jetzt arbeiten, melde mich später noch einmal.

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  • Nicht wenn man die die Geschichte als Mischung von Traum und Erinnerung deutet, wobei die Erinnerung stark von Verdrängen, Vergessen, Fälschen oder Umdeuten, aber eben auch von Verwechseln und Verschwimmen bestimmt ist.

    Was mir ja zupass kommen würde, da ich glaube, dass Sachiko und Mariko durchaus existiert haben. :loool: Nur blöd für drawe s Theorie...

  • Nur blöd für drawe s Theorie...

    Ach, sowas halte ich gerne aus :lol: , ich will doch nicht unbedingt Recht haben, sondern Eure Meinung hören. Meine Theorie ist auch nur der Versuch, das Ganze irgendwie auf die Reihe zu bekommen, irgendwie eine durchgängige und in sich schlüssige Handlung zu erkennen.


    ich glaube nicht, dass Etsuko damals mit Nikki schwanger war, sondern tatsächlich mit Keiko. Frau Fujiwara erkennt, dass Etsuko unglücklich ist und sagt ihr, wenn erstmal das Kind da wäre, würde sie sich besser fühlen.

    Mit diesem meinem Erklärungsversuch bin ich selber nicht sehr glücklich. Ich hatte eher das Gefühl, dass sich hier nicht nur die Persönlichkeiten, sondern auch die Zeitebenen gegeneinander verschieben. Nach wie vor denke ich, dass Etsuko und Sachiko identisch sind - irgendwie jedenfalls -, oder dass Etsuko in Sachiko Teile ihrer Persönlichkeit erkennt und ihr Trauma via Sachiko benennt. Sachiko wäre Etsukos Alter Ego, aber zu einer anderen Zeit; und eine retrospektive Erzählweise des Erinnerns lässt solche Verschiebungen zu.

    Leider - denn der Leser, der eine chronologische Geschichte lesen will, tut sich schwer damit.


    Edit: Kann ja sein, dass das Nachwort Hinweise gibt, aber auch das Nachwort hat keinen Gesetzescharakter :) !

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    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Der Schluss des Buches ist auch stark: Er wirkt versöhnlich, aber zugleich unendlich traurig.

    Ja.

    Niki ist selber zerrissen: sie tröstet ihre Mutter wegen Keiko, sucht nach (weiteren?) Schuldigen, lebt ein sehr westliches Leben und betont die Selbstbestimmtheit, auch die ihrer Mutter.

    Ich denke, sie erkennt die Schuld ihrer Mutter - daher auch das Gedicht, das die Freundin schreiben will.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Mit diesem meinem Erklärungsversuch bin ich selber nicht sehr glücklich. Ich hatte eher das Gefühl, dass sich hier nicht nur die Persönlichkeiten, sondern auch die Zeitebenen gegeneinander verschieben.

    Aber die Zeitebenen wären ja auch verschoben, wenn es sich um die mit Keiko schwangere und unglückliche Etsuko handelte, die sich nicht auf ihr Kind freuen kann, und dann - sieben Jahre später - um die von ihrem Mann getrennte Etsuko, die sich ausleben will und ihre Tochter vernachlässigt. Es steht nirgendwo geschrieben, aber ich habe das Gefühl, dass Niki erst in England geboren wurde

    Niki ist selber zerrissen: sie tröstet ihre Mutter wegen Keiko, sucht nach (weiteren?) Schuldigen, lebt ein sehr westliches Leben und betont die Selbstbestimmtheit, auch die ihrer Mutter.

    Ich denke, sie erkennt die Schuld ihrer Mutter - daher auch das Gedicht, das die Freundin schreiben will.

    Versöhnlich wirkt der Schluss, weil Niki die Mutter tröstet und ihr sogar eine Art Absolution erteilt ("Du hast genau das Richtige getan. Du kannst nicht einfach zusehen, wie Dein Leben dahingeht"), und traurig, weil Niki überrascht war, als sie sich beim Weggehen noch einmal umdreht und sieht, dass ihre Mutter noch an der Tür steht und ihr nachsieht. Sie scheint solche liebevollen Gesten gar nicht gewohnt zu sein, was die Distanz zeigt, die auch zwischen Etsuko und ihrer zweiten Tochter besteht (deren Charakter nach Meinung Etsukos sehr dem von Keiko gleicht).

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  • Aber die Zeitebenen wären ja auch verschoben, wenn es sich um die mit Keiko schwangere und unglückliche Etsuko handelte, die sich nicht auf ihr Kind freuen kann, und dann - sieben Jahre später - um die von ihrem Mann getrennte Etsuko, die sich ausleben will und ihre Tochter vernachlässigt.

    Ja, genau das meine ich. Möglich wird das durch das Erinnern.

    Sie scheint solche liebevollen Gesten gar nicht gewohnt zu sein, was die Distanz zeigt, die auch zwischen Etsuko und ihrer zweiten Tochter besteht

    Etsuko ist eine Heimatlose geworden, eine Unbehauste: auch das Haus, in dem sie zusammen mit ihrer Familie wohnte und das ihr so typisch englisch vorkommt, will sie verlassen. Und auch die Beziehung zur Tochter, ist nicht innig; Etsuko scheint Nähe zu suchen und sie bedrängt Niki, noch länger zu bleiben (was ich nicht bei Jiro als Höflichkeit aufgefasst habe) - aber Niki entzieht sich der Mutter und den Haus, in dem sie sich nicht wohlfühlt. Niki hat ihr verziehen, das wohl, aber Niki konnte nur das verzeihen, von dem sie wusste.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Das Nachwort

    stammt von Miku Sophie Kühmel. Ihr Debut "Kintsugi" stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.


    Diegetischer Ausgangs- und Orientierungspunkt des Nachworts ist die Kernspaltung bzw. der Atombombenabwurf über Nagasaki, der Heimatstadt des Autors.


    Im Einzelnen:

    Der Atombombenabwurf verändert die Wahrnehmung der Welt und der Zeit, und die Relativität der Zeit ist daher ein häufiges Motiv im Roman. Die postapokalyptische Situation wird in Bezug auf die Stadt, auf die Menschen und deren Zeitempfinden immer wieder beschrieben: sie erleben "eine unwirkliche Zeit" (S. 213), die schwer zu greifen ist aufgrund der "Unzulänglichkeiten unseres Erinnerungsvermögens" (ebda.). Der Roman enthält daher Leerstellen.

    Immer immanent ist der Vorgang der Kernspaltung, den der Autor als metaphorischen Komplex in seine Diegese aufnimmt.

    Die Kernspaltung hinterlässt Figuren, deren Biografie in ein Vorher - Nachher gespalten ist. Auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind gespalten. So versucht Sachiko eine Emanzipation und träumt von (Nord-)Amerika als Land der Verheißung, ohne zu wissen, ob sie dieses Land und ihre Ziele je erreichen wird. Frau Fujiwara dagegen gelingt im Zuge der Kriegsereignisse ihre Emanzipation: sie ist eins mit sich und schaut nach vorne, während ihre Umgebung eher ihre Abspaltung, d. h. den Verlust ihres bisherigen gesellschaftlichen Status' wahrnimmt.

    Hinter den gespaltenen Figuren stehen gespaltene Weltbilder. So spaltet sich das Individuum ab vom tradierten Kollektiv, Demokratie wird als Abspaltung von tradierten Werten empfunden etc.


    Auch Etsuko ist gespalten, sie ist eine dissoziative Persönlichkeit, und nur so kann sie ihre Biografie begreifen, ihren Wunsch nach einer Grenzüberschreitung, nach Selbstentfaltung und Selbstbestimmung.

    Die Übergänge zwischen den beiden Seiten ihrer Persönlichkeit werden als beschwerlich geschildert: so ist der Weg von Etsukos Haus zu Sachikos Hütte von Beschwernissen und Widrigkeiten (Insekten, Maden etc.) geprägt.

    Die gespaltene Persönlichkeit zeigt sich an unterschiedlichen Merkmalen. Erscheint Etsuko als sanft, höflich und an tradierte Werte angepasst, so ist Sachiko barsch und betont das harte Leben als Mutter (diesen Aspekt übernimmt Niki, die das Mutter-Sein ablehnt). Sachiko erkennt sehr genau den geschlechtsspezifisch bestimmten und begrenzten Zugang zur Bildung und damit zur Welt, und davor will sie ihre Tochter schützen.

    Das gelingt ihr nicht. Mariko sträubt sich wie die kleinen Katzen, und die Tötung der Kätzchen durch Sachiko ist eine symbolische Tötung der Tochter (die Katzen haben sprechende Namen, z. B. Ader, Sehne).

    ---------------------------------------


    Soweit das Nachwort.

    Über das Phänomen der Spaltung siehe Beitrag 148, allerdings würde ich nach wie vor nicht so weit gehen, das mit der Kernspaltung zu verbinden.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • stammt von Miku Sophie Kühmel. Ihr Debut "Kintsugi" stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

    "Kintsugi" möchte ich auch noch unbedingt lesen, es liegt immerhin schon auf dem SuB.


    Über das Phänomen der Spaltung siehe Beitrag 148, allerdings würde ich nach wie vor nicht so weit gehen, das mit der Kernspaltung zu verbinden.

    Das geht mir auch ein wenig zu weit, aber ansonsten bin ich mit dem Nachwort eigentlich recht einverstanden, was sagt ihr? Ich würde jetzt nicht von "dissoziativer Persönlichkeit" sprechen wollen, weil ich Diagnosen anhand eines Textes nicht unbedingt für angebracht halte, aber wenn ich das für mich mit "Erinnerungsschwierigkeiten" oder "unzuverlässigen, verschwimmenden Erinnerungen" ersetze, passt es für mich wieder. Der beschwerliche Weg zur Hütte ist mir beispielsweise gar nicht aufgefallen, das finde ich aber interessant.


    Danke für Deine Mühe, drawe ! :applause:

  • Danke für Deine Zusammenfassung, drawe , vor allem aber dafür, dass Du mich darauf aufmerksam gemacht hast, dass die Beiträge nummeriert sind. Das ist mir in all den Jahren hier im Forum noch nie aufgefallen. :uups:


    Ishiguro überlässt immer seinen Lesern die Deutungshoheit, das mag ich besonders an seinen Geschichten. Dass hier eine Spaltung vorliegt, ist offensichtlich. Ob diese Spaltung komplett ist, Etsuko und Sachiko also ein und dieselbe Person sind, oder ob es sich nur um das Abspalten des "schuldigen" Teils und dessen Übertragung auf eine reale Person in einer ähnlichen Lebensituation handelt, ist meiner Meinung nach zweitrangig. Ich neige auch der ersten Interpretation zu, kann aber auch mit der anderen leben.


    Es heißt immer, "Damals in Nagasaki" sei Ishiguros japanischstes Buch. Ich habe jetzt das Vorwort zu dem "Maler der fließenden Welt" gelesen, das noch auf meinem SUB liegt. Ishiguro bezeichnet darin diesen Roman als seinen japanischsten, nicht nur weil er von Anfang bis Ende in Japan und nur unter Japanern spielt, sondern auch weil Ishiguro versucht hat, die japanischen Ausdrücke und Wendungen direkt ins Englische zu übersetzen. Aber er schreibt auch, dass der Roman zwar in Japan nach dem zweiten Weltkrieg spiele, aber sehr von dem sozialen und politischen Druck geprägt sei, der Anfang der 80ger Jahre im England der Maggie Thatcher-Ära zu spüren gewesen sei. Das ist auch wieder eine Hinweis darauf, dass es Ishiguro nie primär um die zeitgeschichtliche Perspektive geht.


    Interessant ist die Stelle, an der er sich über die Gestaltung seines neuen Romans Gedanken macht.

    Zitat

    "Ich könnte eine Szene von zwei Tagen zuvor direkt neben eine von vor zwanzig Jahren stellen und den Leser aufforden, über die Beziehung zwischen beiden nachzusinnen. Oft würde nicht einmal der Erzähler die tieferen Gründe für eine bestimmte Reihung wissen müssen. Ich sah eine Art des Schreibens vor mir, welche die vielen Schichten der Selbsttäuschung und Verleugnung andeutete, den Schleier, durch den jeder Mensch sich selbst und seine Vergangenheit wahrnimmt."

    Komischerweise findet Ishiguro, der zu jener Zeit als Drehbuchautor arbeitete, dass "Damals in Nagasaki" einem Drehbuch "entsetzlich ähnlich" sei, Anweisung - Dialog - dann wieder Anweisung. Meiner Meinung nach hat er die im Zitat beschriebene Erzählweise schon im ersten Roman angewandt. Ich bin jetzt jedenfalls sehr gespannt auf den "Maler".

    :study: Olga Tokarczuk - Gesang der Fledermäuse

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer