Original : Russisch, 2016
INHALT :
Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen?
In der Tradition großer russischer Autoren wie Michail Bulgakow und Fjodor Dostojewski entfaltet Jewgeni Wodolaskin am Schicksal eines Einzelnen ein faszinierendes Panorama Russlands.
(Quelle: Produktbeschreibung amaz.)
BEMERKUNGEN :
Ziemlich schnell ist klar, was passiert ist : Jener Innokenti wurde tatsächlich – gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse seiner Zeit - « eingefroren ». Das als Gefangener auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer und um als Versuchskaninchen zu dienen. Seine Rückkehr ins Leben unter der Begleitung von Arzt Geiger nach nahezu achtzig Jahren geschieht nach und nach im ersten Teil (von zweien), in dem Innokenti der Ich-Erzähler, bzw Chronist ist: er soll auf Einladung von Arzt Geiger hin quasi festhalten, was in ihm vorgeht.
Viele Leser merkten an, dass es sich vor allem um eine Revue des XX.Jahrhunderts in Rußland handeln würde. Ich stimme dem nur teilweise zu. Sicherlich geht es um den Übergang in den 10er Jahren vom Zarenreich hin zur Oktoberrevolution und in das bolschewistische Rußland. Da gibt es überaus reiche und gute Schilderungen über Charaktäre in der Auflösung, auch über das beginnende Gulag-System auf den Solowkiinseln (dazu siehe auch meine Rezis zB : Mariusz Wilk - Schwarzes Eis. Mein Russland ; Sachar Prilepin - Archipel Solowki / Obitjel / L'Archipel des Solovki ; Olivier Rolin, Jean-Luc Bertini – Solovki: La Bibliothèque disparue ;
Aber die, oder zumindest eine, wesentliche Frage ist hier : WAS wird eigentlich erinnert ? Nimmt Geschichte und historisches Drama wirklich den ersten Platz beim Betroffenen ein ? Welche Art von Erinnerung kommt bei Platonow immer wieder hoch ? Die Vergangenheit als Wunde ? Was bleibt im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes (erinnerungswert)? Tja, und hier treffen wir auf ein « Universum », das umso viel mehr ist als eine rein chronische Geschichtsschau : Der Wachwerdende erinnert sich an jene Gesten, Momente, die voll poetischer Andeutung, ja Fülle sind. Allem voran die kindlich-jugendliche Liebe zu Anastassja, der etwas älteren Nachbarinstochter. Sie leben auf ihre Art ein Idyll, eine Nähe, die einfach zauberhaft und voller Zärtlichkeit ist. Ja, und dann nimmt in der Rückschau das Geschehen seinen Gang : Verleumdung, Verbannung…, Solowki !
Gleichzeitig erzählt der Autor geschickt diese Jetztzeit des Erwachens, des allmählichen Bewußtwerdens des zeitlichen Abstandes. Verbunden mit Lernprozeßen, die aber bei Weitem nicht so dramatisch oder grotesk ausfallen, wie man es sich woanders vorstellen könnte. Es sei denn, dass Innokenti glasklar auch besonders wahrnimmt, was an unserer heilen Welt so garnicht heile ist... Ist vielleicht auch in dieser Jetztzeit (Ende der 90iger Jahre in St.Petersburg) etwas anderes viel wichtiger und wesentlicher ? Auch hier stehen nicht zunächst die äußeren, eigentlich ja eingreifenden, Veränderungen an erster Stelle ?!
So wie es im ersten Teil eine Form des Erwachens gibt bis hin zu einem hier nicht weiter erzählten Neuanfang, so gibt es vielleicht im zweiten Teil einen unmerklichen Niedergang. Doch den Inhallt wiederzugeben ginge an dieser Stelle zu weit. Stilistisch wird dieser zweite Teil quasi parallel von den drei Hauptpersonen geschildert. Dies führt zu Überschneidungen und immer mehr zu einer Zusammenführung, in der sich die Stimmen ergänzen, immer ununterscheidbarer werden.
Was Wodolaskin hier mit einem phantastisch-utopisch anmutendem Thema macht ist einfach umwerfend. Dieser Autor – wie mir heute in einem Gespräch jemand von den russischen Schriftstellern sagte – will nicht einfach nur unterhalten und erzählen, sondern stellt sich - wie alle « große Russen » - dauernd die Frage : Und wozu das Ganze ? Was macht den Menschen aus ?
AUTOR :
Jewgeni Wodolaskin, 1964 in Kiew geboren, ist Geschichtswissenschaftler, Mittelalterforscher, Philologe, Schriftsteller und Literaturkritiker. Er arbeitet seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Er hat zahlreiche akademische Werke und Artikel publiziert. Aufgrund von Forschungsstipendien der Alfred Toepfer- und der Alexander von Humboldt-Stiftung verbrachte er mehrere Jahre in Deutschland. Sein zweiter Roman Laurus ist ein internationaler Erfolg, der in 17 Ländern erschiein (ich habe ihn hier, unter einer anderen Transkribierung des Autorennamens - also quasi unauffindbar für viele - schon kommentiert: Evgenij Vodolazkin -Laurus / Lavr .
Jewgeni Wodolaskin lebt mit seiner Familie in St. Petersburg.
Gebundene Ausgabe: 429 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 1. (15. März 2019)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 335103704X
ISBN-13: 978-3351037048