Ivan Ertlov - Mutation

  • Einleitende Anmerkung 1:
    Diese Rezension steht in Kontext mit Daniela_Barbara s Rezension von "Generation 23" und der dort angemerkten Humorlosigkeit. Eigentlich wollte ich mich kurz fassen, aber nachdem ich jetzt weiß, dass der Autor mitliest, gebe ich mir Mühe.


    Einleitende Anmerkung 2:
    Ich habe lange überlegt, ob das hier in "Humor & Parodie" oder in "Science Fiction" soll. Aber auch "Politik" oder "Krieg" wären eine passende Kategorien.


    Einleitende Anmerkung 3:
    Eigentlich wäre ich schon viel eher fertig gewesen. Allerdings kam meine bessere Hälfte dazwischen: Nachdem ich ihr eine Stelle laut vorlas, beschlagnahmte sie den Kindle und rückte ihn erst wieder raus, als sie mit dem Buch fertig war. Und sie mag eigentlich keine Science Fiction. Sie mag auch keine Fantasy, vergöttert aber Terry Pratchett. Dieses Detail ist dann im Fazit wichtig.

    Kindle Ausgabe, gelesen über KU-Entleihe
    Seitenanzahl: 354
    Erschienen: April 2019

    Über den Autor erspare ich mir, das ist in der "Generation 23" Rezension von Daniela besser zusammen gestellt.


    Klappentext (Amazon):

    Die Venus - gegen jegliche wissenschaftliche Prognose, Wahrscheinlichkeit und Vernunft erfolgreich terrageformt - hat ein Problem:
    Der Sauerstoffgehalt der Luft beginnt langsam zu sinken, und sowohl Mensch als auch gentechnisch optimiertes Tier scheinen mehr davon zu verbrauchen als bisher. Fieberhaft wird an einer Lösung gearbeitet, doch kurzfristig scheint Hilfe von Außen unvermeidlich. Das autonome Kollektiv, eine geldlos utopische Gesellschaft aus Freidenkern, verrückten Wissenschaftlern, Gelehrten und Studenten, muss sich zähneknirschend dem Außenhandel öffnen, um die Krise zu meistern.

    John Harris, ehemaliger Captain der UN Streitkräfte, hat ebenfalls ein Problem - er ist pleite. Wieder einmal. In einem Sonnensystem, dessen Handel weitestgehend von allmächtigen Konzernen gesteuert wird, ist nicht mehr viel Platz für einen einfachen Freihändler. Und schon gar nicht, wenn sich dieser weigert, Aufträge anzunehmen, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen könnten.

    Sein einziger nennenswerter Besitz ist die Avatar, eine Phobocaster, ein legendärer Schiffstyp des vorletzten interplanetaren Krieges. Ihr Wert alleine könnte aus John einen wohlhabenden, sogar reichen Mann machen - doch ein Verkauf kommt nicht in Frage. Denn die Avatar ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Geisterschiff...

    Fazit:

    "Was für ein Ritt!"
    Besser kann man das Gefühl nicht beschreiben, wenn man es dann durch hat und den Reader beiseite legt. Auch wenn ich den Onur Zyklus von IvanErtlov als eine der besseren Sci-Fi Reihen der letzten Jahre einstufe und ich "Generation 23" als knallhart, aber sehr gut empfand, ist "Mutation" ein ganz anderes Kaliber. Und ich verstehe jetzt, warum sich einige Leser von Generation 23 über den mangelnden Humor beschwert haben. Aber alles der Reihe nach...

    Prinzipiell bin ich skeptisch, wenn in Reviews mit Superlativen um sich geworfen wird. Phantastisch Lesen hat Mutation auf einen Thron neben Terry Pratchett und Douglas Adams gehievt, irgendwo wurde es sogar als "besser als der Anhalter" beschrieben. Da will man erstmal lautstark protestieren, egal ob man das Buch gelesen hat oder nicht.

    Und tatsächlich macht es Ertlov dem Leser nicht leicht: Auf einen poetischen, aber irgendwie überflüssig wirkenden Prolog und eine wunderbare, erstmals Humor zeigende Einstiegs-Szene folgt eine doppelte Rückblende, in die eine Unmenge von Informationen gepackt wird. Sie ist zu keinem Zeitpunkt langweilig, hat ihre eigenen Action-Szenen, aber ich denke doch, dass dies eine Stelle ist, wo so mancher Leser geistig aussteigen könnte. Drei Zeitebenen sind hier eine zu viel.


    Aber, sobald man da durch ist, entfaltet das Buch eine Sprach- und Bildgewalt, die ihresgleichen sucht. Mit eleganten, langen und doch leicht lesbaren Sätzen malt der Autor dem Leser Bilder und Filmszenen in den Kopf. Er wechselt von beschreibender Poesie zu Stakkato und Gegenwartsform, um Action noch dramatischer zu machen. Aus einem simplen Botenflug durch unser Sonnensystem wird ein Kriminalfall. Aus dem Kriminalfall eine alles umspannende politische Verschwörung. John Harris muss plötzlich gegen manche alten Freunde kämpfen - und auf die Hilfe von anderen hoffen.


    John wendet sich zwischendurch an den Leser, ohne die vierte Wand zu durchbrechen. Er trifft gescheiterte Existenzen und

    Humor und Gesellschaftskritik hageln ganz beiläufig auf den Leser ein, von subtil bis brachial. Es gibt Anspielungen auf unsere Gesellschaft und einige Popkultur-Referenzen, aber diese wohldosiert. Teilweise schleicht sich absurde Situationskomik in knallharte Handlungen. Aber immer so geschickt in die spannende Krimi-Thriller-Schnitzeljagd Handlung eingewoben, dass alles wie aus einem Guss wirkt.


    Da liegt die Stärke und Qualität des Romans. Während der Anhalter ein paar Seitenhiebe in seine bizarre Komik und Melancholie einbaut, oder ein "Roboter weinen heimlich" einfach nur lustig und abgefahren sein will (und das auch schafft, war ein richtig gutes Buch), ist Mutation am Ende des Tages mehr als die Summe seiner Teile. Es ist eine Science Fiction Geschichte, in der Military und auch Gewalt ungeschönt vorkommen. Es ist ein Krimi und Polit-Thriller, der die Gier der Menschheit schön vor Augen führt. Er hat Elemente von Dystopie und Utopie und ist in beidem glaubwürdig. Er hat sympathische Protagonisten, die sich damit nicht abfinden wollen, wie ungerecht die Welt um sie herum ist. Er ist stellenweise nachdenklich ernst, stellenweise zum Brüllen komisch.

    Genau diese Kombination (wenn auch ohne deren Raumschiffe und Plasmakanonen) erinnert dann frappierend an "Der fünfte Elefant" von Terry Pratchett. Und ist um keine Spur schlechter. Das erklärt, warum meine Gattin so begeistert war.
    Ich bin es auch. Für mich bisher das Buch des Jahres, auch wenn es aufgrund des Einstiegs keineswegs perfekt ist. Das wäre besser und schlanker gegangen.

    Trotzdem, Gratulation an IvanErtlov und :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Also, zuallererst danke für die Rezension. Wie an anderer Stelle verlautbart, freue ich mich über alles von konstruktiver Kritik bis Jubelgesängen.

    Und natürlich, 5 Sterne sind 5 Sterne und immer etwas Besonderes.


    Hier allerdings habe ich ein gewisses Unbehagen. Zum einen - ich mag Vergleiche mit anderen Autoren generell nicht. Ich weiß, dass dies Kollegen gerne auch selbst und untereinander machen, um sich gute Zitate für die Werbung zu liefern. Und natürlich habe ich auch die phantastisch-lesen und VLP "Profi-Rezensionen", die Douglas Adams und Pratchett erstmals ins Spiel brachten, fürs Marketing verwendet.

    Ich wäre dumm, wenn nicht.


    Trotzdem ist ein Buch, ebenso wie ein Gemälde oder Musik, immer höchst subjektiv. Einen quantitativen Vergleich kann machen, offensichtliche Fehler durchaus vergleichen (Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass auch in der aktuellsten Fassung von Mutation mehr Rechtschreibfehler als in jeder Goldmann Ausgabe eines Pratchetts stecken), aber einen qualitativen Vergleich abseits des "hat mir besser gefallen als" halte ich für fragwürdig.


    Außerdem hatte ich das Privileg, für ein Computerspieleprojekt zumindest kurzfristig mit dem mittlerweile verstorbenen Meister zusammen zu arbeiten, und finde daher gerade diesen Vergleich etwas unangenehm. Da liegen in Punkto Talent und Handwerkskunst noch Welten dazwischen.

    Trotzdem, vielen Dank.

  • Und ich verstehe jetzt, warum sich einige Leser von Generation 23 über den mangelnden Humor beschwert haben.

    Told you so.


    Für mich bisher das Buch des Jahres

    Für mich auch, obwohl ich hoffe, dass der Nachfolger noch was drauflegen kann. Immerhin fällt die ganze Erklärung (eben der Einstieg) dann ja weg.

    Der war in der Tat etwas zu lang und verflochten. Aber ja, klare :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: