Psychopathische Rache
Das Amazon Vine Programm ist für büchersüchtige Leseratten wie mich eine wahre Wohltat. Obwohl ich aus dem letzten Newsletter auch mal ein Produkt einer anderen Kategorie zum Testen auswählte, wäre ich nicht ich, wenn das Zweite dann nicht doch wieder aus der Kategorie Bücher käme. Diesmal zog mich „Schnitt“ von Marc Raabe magisch an. Es erscheint im Mai 2012 und ich durfte es vorab lesen.
Thriller gehören seit jeher zu meinem Lieblingsgenre. Und wenn dann auch noch Psychothriller auf dem Cover steht, dann wird das Buch noch mal interessanter. Auch die
Kurzbeschreibung:
„Ein kleiner Junge beobachtet einen grausamen Mord. Und er vergisst. Dreißig Jahre lang. Bis seine Freundin in die Hände eines gefährlichen Psychopathen gerät. Nur wenn er sich erinnert, kann er sie retten. Doch das bringt ihn in tödliche Gefahr.“
traf meinen Nerv. Allerdings sagte mir der Name des Autors wieder einmal überhaupt nichts. So kam ich um eine kurze Recherche im Netz nicht drum rum.
Marc Raabe
wurde 1968 in Köln geboren, wuchs unweit davon in einer Kleinstadt namens Erfstadt auf und lebt heute mit seiner Familie wieder in Köln. Schon als kleiner Junge hat er spannende Geschichten geliebt und nachts heimlich unter der Bettdecke gelesen. Heute ist er Geschäftsführer und Gesellschafter einer Fernsehproduktionsfirma. „Schnitt“ ist sein Debüt als Schriftsteller. Mehr über ihn und seinen Werdegang kann man sehr schön auf seiner Internetseite marcraabe.de nachlesen.
Jedenfalls war ich so gespannt auf das Buch, dass ich es schon kurz nach dem Eintreffen – ich hatte gerade eins aus meinen SuB Beständen fertig – zur Hand nahm.
Gabriel
Das Buch beginnt im Oktober 1979 23:09 Uhr in Westberlin. Der 11-jährige Gabriel ist wohl aufgrund eines lauten Streites in der Küche aufgewacht. Seinen jüngeren Bruder hat er eingeschlossen, damit ihm nichts passiert. Gabriel scheint ein großer Star Wars Fan zu sein und sein großes Idol ist Luke Skywalker. Im Keller befindet sich das Labor seines Vaters, welches für den Rest der Familie ein absolutes Tabu ist. Bislang war die Tür des Labors immer verschlossen. Diesmal jedoch, das hat Gabriel von Eingang zum Keller gesehen, ist sie offen. In dem kleinen Jungen kämpfen Angst vor der Dunkelheit und Neugier…
Sehr eindrucksvoll führt der Autor mich als Leser mit diesem Prolog, einer Szene aus der Vergangenheit, in seinen Roman ein. Es herrscht eine bedrückend, beängstigende Atmosphäre. Die beschriebene Kulisse ist sofort im Kopf, jedes Treppenknarzen hört man mit. Hierbei ist es dem Autor gelungen, mir als Leser das Grauen rüber zu bringen, ohne dass er blutige Details ausschmückt. Bereits im Labor des Vaters hat der Junge schreckliche Dinge gesehen, die ganz sicher nicht für Kinderaugen bestimmt sind, dann passiert noch viel Schrecklicheres, doch ich als Leser habe keinen Schimmer was. Ein grandioser Einstieg.
Was geschah am 13. Oktober 1979?
Fast 29 Jahre später, am 1. September in Berlin. Gabriel arbeitet seit 20 Jahren in einer Security Firma und hat auch bis vor kurzem in einem kleinen „Loch“ auf dem Firmengelände gewohnt. Mittlerweile ist er mit seiner inzwischen schwangeren Lebensgefährtin Liz zusammen gezogen. Liz ist eine kompetente Journalistin und arbeitet im Filmbusiness. Hier hat wohl der Autor ein Metier gewählt, in dem er sich bestens auskennt. Irgendjemandem, man meint in Gabriels relativ kleinem Umfeld, scheint diese Beziehung jedoch gehörig gegen den Strich zu gehen. Doch wem?
In der Nacht vor Liz Geburtstag passieren in Gabriels Firma eigenartige Dinge. Eigentlich hatte Yuri, der große Chef, ja die strikte Anweisung gegeben, dass sein Kollege der Sache nachgehen soll, doch da dieser gesundheitliche Probleme hat, übernimmt Gabriel und sagt dafür eine Verabredung mit Liz ab. Diese geht noch eine Runde durch den naheliegenden Park und wird überfallen. Sie kann jedoch noch telefonischen einen Hilferuf zu Gabriel durchgeben, der daraufhin die Polizei ruft und selbst zum Park eilt. Als er endlich dort eintrifft ist von Liz keine Spur zu finden, dafür gibt es aber eine männliche Leiche…
Auch in der Gegenwart geht es verdammt spannend weiter. In Gabriels Kopf klafft für diesen Tag eine riesige Lücke. Doch derjenige, der Liz entführt hat, verlangt, dass er sich erinnert und will Rache, doch wofür und wer ist er? Dazu kommt, dass die Angelegenheit nicht spurlos an Gabriel und seinem Bruder vorbeigegangen ist. Die Brüder haben sich entzweit.
Von Anfang bis Ende lässt sich dieser in der Erzählperspektive geschriebene Psychothriller leicht und flüssig lesen. Für den permanenten Erhalt der Spannung nutzt der Autor gekonnte Wechsel zwischen den Schauplätzen mit den jeweiligen verschiedenen Protagonisten. Informationen zu der Nacht und der Zeit danach werden nur häppchenweise raus gelassen. Obwohl mir Gabriel sehr sympathisch ist, macht mir seine zweite Persönlichkeit hin und wieder Angst. Allerdings sind die Dinge, die ihm in der Vergangenheit passiert sind, teilweise so haarsträubend, dass die zweite Persönlichkeit sein Schutzschild war, um die Dinge überhaupt überstehen zu können.
Das Schicksal seines Bruders David war da ein klein wenig leichter, doch in der letzten Zeit läuft irgendwie alles schief, so als ob die Vergangenheit auch ihn einholt. Allerdings ist eine Annäherung der Geschwister nach so langer Zeit schwierig. Sie haben verschiedene Dinge sehr unterschiedlich empfunden und richtiges Vertrauen ist auf keiner Seite vorhanden. Liz kämpft in der Zwischenzeit. Ihr ist klar, dass ihr Überleben von ihrem Entführer nicht geplant ist und versucht sich selbst aus ihrer ausweglosen Situation zu befreien.
Die Anzahl der Protagonisten ist übersichtlich. Es sind genug, um Mehrere zumindest der Mittäterschaft verdächtigen zu können, aber nicht so viele, dass man irgendwann die Übersicht verlieren könnte. Obwohl einige sehr spektakuläre Aktionen vorkommen, die in der Realität so definitv nicht passieren können, waren sie im Moment des Lesens für mich stimmig und ließen mich mit fiebern. Dabei kam es vor, dass mir bei aller Dramatik, auch hin und wieder ein hämisches Grinsen im Gesicht stand.
Der Showdown war nochmals extrem packend und dort kamen dann auch noch die letzten entsetzlichen Hintergründe der grauenvollen Nacht von vor fast 30 Jahren ans Licht. Tiefe Abgründe, die eigentlich nichts Menschliches haben. Auch die Erkenntnis, dass viel Geld in den meisten Fällen den Charakter verdirbt. Die für mich aussagekräftigste Message des Buches ist für mich jedoch, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit fürchterliche Dinge erlebt hat, nicht automatisch zum Psychopathen werden muss.
Im Nachgang könnte ich jetzt zwar noch das eine oder andere Haar in die Suppe bringen. So ist es z. B. doch ein bisschen sehr unrealistisch, dass sich alle Gesetzeshüter ähnlich verhalten. Auch dass der Autor das Thrillergenre nicht neu erfunden hat und doch das eine oder andere Klischee auftaucht. Aber eigentlich will ich das gar nicht, denn „Schnitt“ hat mir etliche hochspannende Lesestunden beschert. Dem Autor ist es gelungen, mich von Anfang bis Ende an sein Werk zu fesseln und ich wollte unterhalten werden, von meinem eigenen Alltag abschalten. Das ist mir mit dem Buch von Marc Raabe bestens gelungen.
Daher bekommt dieses Thriller-Debüt von mir auch 4,5 Bewertungssterne und eine Leseempfehlung.