Meinen Vater hat ein großer, gutaussehender Jude mit breiten Schultern und dem mächtigen Rücken eines makkabäischen Kämpfers getötet.
Im Warschau des Jahres 1937 sitzt der 17-jährige Mojzesz Bernstein bei einem Boxkampf, es geht Juden gegen Polen, in der jüdischen Ecke Jakub Shapiro, der gerade Mojsesz' Vater getötet hat. Im Tel Aviv des Jahres 1987 sitzt der 67-jährige Mojzesz Bernstein, nun unter dem Namen Mosche Inbar, General der israelischen Armee, vor seiner Schreibmaschine und schreibt auf, wie er Jakub Shapiro traf, den Mörder seines Vaters.
Jakub nimmt Mojzesz unter seine Fittiche. Für den Jungen bedeutet das eine Eintrittskarte in ein besseres Leben, denn Jakub Shapiro ist nicht nur Boxer, sondern auch die rechte Hand von Jan Kaplica, seines Zeichens Pate von Warschau und glühender Sozialist. Die politischen Irrungen der Zeit machen aber auch vor Kaplicas Imperium nicht halt: Sozialisten und Nationaldemokraten stehen sich in blutiger Feindschaft gegenüber, die Nationalisten führen Grabenkämpfe, rechte Kräfte planen einen (historisch nicht verbürgten) Putsch. Juden wie Jakub und Mojzesz sehen sich außerdem zunehmendem Antisemitismus ausgesetzt. Warschau ist eine geteilte Stadt, ein Teil wohlhabend, westlich orientiert und christlich, der andere ärmlich, dem Osten zugewandt und jüdisch. Die Spaltung wird nur noch tiefer. Vor diesem Hintergrund steigt Jakub Shapiro zum König der Unterwelt auf; Król, also König, heißt auch das polnische Original. Ein etwas treffenderer Titel, denn geboxt wird im Buch nur wenig.
Mojzesz Bernstein ist ein anstrengender Erzähler. Er greift vor, er greift zurück, betont immer wieder, was er zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht wusste und erst später erfahren hat. In längeren Einschüben erinnert er sich an seine Zeit in der Armee, an seinen Beitrag zum Nahost-Konflikt, oder meint sich zumindest zu erinnern. Die Zeitebenen vermischen sich, die Grenzen zwischen Mojzesz und Shapiros Geschichte verwischen und über allem schwebt ein irreales Element, das der Erzählung eine expressionistische Qualität verleiht.
Der Genre-Mix wird vermutlich nicht jedem gefallen. Für die Liebhaber des American Noir ist Der Boxer vielleicht zu prätentiös, vielleicht kommt die Handlung auch zu langsam in Gang. Für Fans historischer Romane bleiben die geschichtlichen Ereignisse vielleicht zu vage. Die Erzählung deutet den historischen Hintergrund nur an, erst Übersetzer Olaf Kühl gibt am Ende des Buches einen kurzen Abriss über den geschichtlichen Zusammenhang. Für jemanden, der wie ich mit der Geschichte Polens nur wenig vertraut ist, taugt dieser aber eher als Stichwortgeber für die eigene Recherche. (Für polnische Leser wiederum handelt es sich wahrscheinlich um Allgemeinwissen, das keiner näheren Erklärung bedarf.) Für Belletristik-Leser schließlich ist das Buch vielleicht doch zu sehr in den Konventionen der klassischen Gangsterballade verhaftet. Das wird vor allem anhand der Charaktere deutlich. Twardoch fährt durchaus interessantes Personal auf, Pantaleon zum Beispiel mit seinem ganz persönlichen Teufel, oder Tjutschew, den stillen Russen (ein gutes Namensgedächtnis ist hier übrigens von Vorteil). Aber die Figuren sind recht eindimensional, entweder überlebensgroß wie der unbesiegbare Boxer Shapiro, oder erbärmlich wie einige feindliche Gestalten. Insbesondere die Frauenfiguren bleiben blass, ihre Rollen sind klar aufgeteilt: Hure, Heilige, Femme Fatale. Es ist kein Männerbuch (was immer das ist), aber doch ein sehr männliches Buch, in einer Männerwelt, in der Frauen nur Randfiguren sind.
Sprachlich ist das Buch eine reine Freude. Twardoch schreibt detailversessen, ist verliebt in Kleidung, Waffen, Straßennamen; das kann nerven, aber ihm gelingen doch immer wieder immens schöne Sätze. Die genretypische Brutalität fehlt ebenfalls nicht und kommt dabei so lakonisch und in unerwarteten Momenten daher, dass sie selbst mich hartgesottene Leserin getroffen hat. Aber die Gewalt ist nie schockierender Selbstzweck; Twardoch glorifiziert nichts, seine Welt hat wenig Glorreiches. Noir eben, mit Literatur-Beimischung. Ich weiß nicht, ob jeder von Twardochs literarischen Tricks notwendig ist oder ob sie die Geschichte am Ende nicht doch überfrachten. Während des Lesens haben mich diese Tricks jedenfalls wenig gestört.
Ich habe ein wenig was anders bekommen als ich erwartet habe, aber was ich bekam, hat mir sehr gut gefallen. Jetzt möchte ich möglichst bald auch Morphin lesen. Das klingt nach etwas, das ich noch mehr mögen könnte.
Klappentext
Jakub Shapiro ist ein hoffnungsvoller junger Boxer und überhaupt sehr talentiert. Das erkennt auch der mächtige Warschauer Unterweltpate Kaplica, der Shapiro zu seinem Vertrauten macht. Doch rechte Putschpläne gegen die polnische Regierung bringen das Imperium Kaplicas in Bedrängnis; er kommt in Haft, als ihm ein politischer Mord angehängt wird. Im Schatten dieser Ereignisse bricht ein regelrechter Krieg der Unterwelt los. Jakub Shapiro muss die Dinge in die Hand nehmen: Er geht gegen Feinde wie Verräter vor, beginnt – aus Leidenschaft und Kalkül – eine fatale Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts, muss zugleich seine Frau und Kinder vor dem anschwellenden Hass schützen – und nimmt immer mehr die Rolle des Paten ein.
Der Aufstieg eines Verbrecherhelden zwischen Gewalt, Eleganz und Laster, seine Verletzlichkeit als Jude im Vorkriegs-Warschau: «Der Boxer» ist grandios angelegt und fast filmisch erzählt, ein Panorama mit Sportlern und Schurken, einem Mann mit zwei Gesichtern, glamourösen Huren und charismatischen Gangstern. Ein überragender, thrillerhafter Roman, der eine eruptive Epoche geradezu körperlich erlebbar macht.
Über den Autor
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der polnischen Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den ebenfalls hochgelobten Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt. Bei polnischen Lesern wie Kritikern übertraf «Der Boxer» diese Erfolge sogar noch. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.