Szczepan Twardoch - Der Boxer / Król

  • Meinen Vater hat ein großer, gutaussehender Jude mit breiten Schultern und dem mächtigen Rücken eines makkabäischen Kämpfers getötet.


    Im Warschau des Jahres 1937 sitzt der 17-jährige Mojzesz Bernstein bei einem Boxkampf, es geht Juden gegen Polen, in der jüdischen Ecke Jakub Shapiro, der gerade Mojsesz' Vater getötet hat. Im Tel Aviv des Jahres 1987 sitzt der 67-jährige Mojzesz Bernstein, nun unter dem Namen Mosche Inbar, General der israelischen Armee, vor seiner Schreibmaschine und schreibt auf, wie er Jakub Shapiro traf, den Mörder seines Vaters.
    Jakub nimmt Mojzesz unter seine Fittiche. Für den Jungen bedeutet das eine Eintrittskarte in ein besseres Leben, denn Jakub Shapiro ist nicht nur Boxer, sondern auch die rechte Hand von Jan Kaplica, seines Zeichens Pate von Warschau und glühender Sozialist. Die politischen Irrungen der Zeit machen aber auch vor Kaplicas Imperium nicht halt: Sozialisten und Nationaldemokraten stehen sich in blutiger Feindschaft gegenüber, die Nationalisten führen Grabenkämpfe, rechte Kräfte planen einen (historisch nicht verbürgten) Putsch. Juden wie Jakub und Mojzesz sehen sich außerdem zunehmendem Antisemitismus ausgesetzt. Warschau ist eine geteilte Stadt, ein Teil wohlhabend, westlich orientiert und christlich, der andere ärmlich, dem Osten zugewandt und jüdisch. Die Spaltung wird nur noch tiefer. Vor diesem Hintergrund steigt Jakub Shapiro zum König der Unterwelt auf; Król, also König, heißt auch das polnische Original. Ein etwas treffenderer Titel, denn geboxt wird im Buch nur wenig.


    Mojzesz Bernstein ist ein anstrengender Erzähler. Er greift vor, er greift zurück, betont immer wieder, was er zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht wusste und erst später erfahren hat. In längeren Einschüben erinnert er sich an seine Zeit in der Armee, an seinen Beitrag zum Nahost-Konflikt, oder meint sich zumindest zu erinnern. Die Zeitebenen vermischen sich, die Grenzen zwischen Mojzesz und Shapiros Geschichte verwischen und über allem schwebt ein irreales Element, das der Erzählung eine expressionistische Qualität verleiht.


    Der Genre-Mix wird vermutlich nicht jedem gefallen. Für die Liebhaber des American Noir ist Der Boxer vielleicht zu prätentiös, vielleicht kommt die Handlung auch zu langsam in Gang. Für Fans historischer Romane bleiben die geschichtlichen Ereignisse vielleicht zu vage. Die Erzählung deutet den historischen Hintergrund nur an, erst Übersetzer Olaf Kühl gibt am Ende des Buches einen kurzen Abriss über den geschichtlichen Zusammenhang. Für jemanden, der wie ich mit der Geschichte Polens nur wenig vertraut ist, taugt dieser aber eher als Stichwortgeber für die eigene Recherche. (Für polnische Leser wiederum handelt es sich wahrscheinlich um Allgemeinwissen, das keiner näheren Erklärung bedarf.) Für Belletristik-Leser schließlich ist das Buch vielleicht doch zu sehr in den Konventionen der klassischen Gangsterballade verhaftet. Das wird vor allem anhand der Charaktere deutlich. Twardoch fährt durchaus interessantes Personal auf, Pantaleon zum Beispiel mit seinem ganz persönlichen Teufel, oder Tjutschew, den stillen Russen (ein gutes Namensgedächtnis ist hier übrigens von Vorteil). Aber die Figuren sind recht eindimensional, entweder überlebensgroß wie der unbesiegbare Boxer Shapiro, oder erbärmlich wie einige feindliche Gestalten. Insbesondere die Frauenfiguren bleiben blass, ihre Rollen sind klar aufgeteilt: Hure, Heilige, Femme Fatale. Es ist kein Männerbuch (was immer das ist), aber doch ein sehr männliches Buch, in einer Männerwelt, in der Frauen nur Randfiguren sind.


    Sprachlich ist das Buch eine reine Freude. Twardoch schreibt detailversessen, ist verliebt in Kleidung, Waffen, Straßennamen; das kann nerven, aber ihm gelingen doch immer wieder immens schöne Sätze. Die genretypische Brutalität fehlt ebenfalls nicht und kommt dabei so lakonisch und in unerwarteten Momenten daher, dass sie selbst mich hartgesottene Leserin getroffen hat. Aber die Gewalt ist nie schockierender Selbstzweck; Twardoch glorifiziert nichts, seine Welt hat wenig Glorreiches. Noir eben, mit Literatur-Beimischung. Ich weiß nicht, ob jeder von Twardochs literarischen Tricks notwendig ist oder ob sie die Geschichte am Ende nicht doch überfrachten. Während des Lesens haben mich diese Tricks jedenfalls wenig gestört.


    Ich habe ein wenig was anders bekommen als ich erwartet habe, aber was ich bekam, hat mir sehr gut gefallen. Jetzt möchte ich möglichst bald auch Morphin lesen. Das klingt nach etwas, das ich noch mehr mögen könnte.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:


    Klappentext
    Jakub Shapiro ist ein hoffnungsvoller junger Boxer und überhaupt sehr talentiert. Das erkennt auch der mächtige Warschauer Unterweltpate Kaplica, der Shapiro zu seinem Vertrauten macht. Doch rechte Putschpläne gegen die polnische Regierung bringen das Imperium Kaplicas in Bedrängnis; er kommt in Haft, als ihm ein politischer Mord angehängt wird. Im Schatten dieser Ereignisse bricht ein regelrechter Krieg der Unterwelt los. Jakub Shapiro muss die Dinge in die Hand nehmen: Er geht gegen Feinde wie Verräter vor, beginnt – aus Leidenschaft und Kalkül – eine fatale Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts, muss zugleich seine Frau und Kinder vor dem anschwellenden Hass schützen – und nimmt immer mehr die Rolle des Paten ein.
    Der Aufstieg eines Verbrecherhelden zwischen Gewalt, Eleganz und Laster, seine Verletzlichkeit als Jude im Vorkriegs-Warschau: «Der Boxer» ist grandios angelegt und fast filmisch erzählt, ein Panorama mit Sportlern und Schurken, einem Mann mit zwei Gesichtern, glamourösen Huren und charismatischen Gangstern. Ein überragender, thrillerhafter Roman, der eine eruptive Epoche geradezu körperlich erlebbar macht.


    Über den Autor
    Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der polnischen Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den ebenfalls hochgelobten Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt. Bei polnischen Lesern wie Kritikern übertraf «Der Boxer» diese Erfolge sogar noch. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Tolle Rezi, muss ich mir wohl merken! Aus Polen kommt doch leider nicht zuviel bei uns an, von Stasiuk und einigen Ausnahmen abgesehen...?!

    Ich kenne mich da wirklich nicht aus. Ich kenne nur noch Sapkowski, und der schreibt Fantasy...

    Vielen Dank für die gelungene Rezi! Ich werde mal nach Büchern des Autors Ausschau halten...

    Auf Deutsch ist neben Morphin noch Drach erschienen, die Geschichte einer schlesischen Familie. Ich glaube, sonst nichts.


    Ich bin am 12.03. auf der Buchvorstellung von Der Boxer, mit Autor und Übersetzer. Falls Interesse besteht, berichte ich gerne.

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    Roberto Bolaño

  • Ich kenne mich da wirklich nicht aus. Ich kenne nur noch Sapkowski, und der schreibt Fantasy...

    Den wiederum kenne ich nicht. Aber es gibt da halt den Stasiuk, die Olga Togarczuk, den Mariusz Wilk...


    Zitat von FreakMLikeMe

    Ich bin am 12.03. auf der Buchvorstellung von Der Boxer, mit Autor und Übersetzer. Falls Interesse besteht, berichte ich gerne.

    Yep! Interessiert!

  • Ich bin am 12.03. auf der Buchvorstellung von Der Boxer, mit Autor und Übersetzer. Falls Interesse besteht, berichte ich gerne.

    Magst Du die Veranstaltung vielleicht hier genauer einstellen, es könnte ja noch mehr interessieren, die in der Nähe wohnen :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • So, hier eine kleine Zusammenfassung zur Buchvorstellung gestern Abend.


    Übersetzer Olaf Kühl führte durch den Abend, interviewte Twardoch und übersetzte. Schauspielerin Katrin Lewinsky (? bin nicht sicher, ob sie sich so schreibt), hat Auszüge aus dem Roman gelesen. Die Diskussion ging nicht sehr in die Tiefe, wurde aber auch dadurch erschwert, dass man einige interessante Elemente nicht diskutieren kann, ohne das Buch zu spoilern. In diesem Zusammenhang: Macht besser einen Bogen um die Rezension auf Deutschlandfunk.de, die verrät echt alles :|


    Es kamen dennoch einige interessante Aspekte zur Sprache. Twardoch erzählte unter anderem, dass es die von ihm beschriebene jüdische Gangsterorganisationen in ähnlicher Form tatsächlich gab. Auch die Figur des "Paten" Kaplica beruht auf einer wahren Vorlage. Allerdings erlebte diese Organisation ihre Blütezeit in den 20er/ frühen 30er Jahren, Twardoch hat sie für den Roman nach 1937 verlegt.
    Außerdem ging es um das Männlichkeitsbild im Roman. Ich hatte in meiner Rezension ja schon angemerkt, dass es ein sehr männliches Buch ist. Bei einigen Lesern und Rezensenten kam da wohl die Frage auf, warum sich Twardoch eigentlich so ausführlich dem männlichen Körper widmet. Er meinte, dass er ein sinnliches Buch schreiben wollte und daher dem männlichen Körper ebenso viel Raum eingeräumt hat wie dem weiblichen. (Sinnlich fand ich persönlich das Buch jetzt nicht. Aber für mich war es durchaus eine willkommene Abwechslung zu all den Büchern, die sich seitenlang der Beschreibung von Frauenkörpern widmen, während Männer halt irgendwie aussehen.)
    Einige Kritiker wollten in dem Roman nun Analogien zur aktuellen polnischen Politik und zum heutigen Antisemitismus in Polen erkennen. Twardoch meinte darauf, dass er keine Analogien schreiben würde. Wenn er die heutige Politik kritisieren wolle, würde er das tun, mittels anderer Medien, und diese Kritik nicht in Literatur verstecken. Der heutige Antisemitismus in Polen habe zudem andere Gründe und Auswirkungen als der Antisemitismus in den 1930er Jahren, deswegen könne man das nicht vergleichen. Schließlich sagte er noch, dass er nicht an politische Literatur glaube, also an Literatur, die versucht, eine politische Botschaft zu vermitteln, um irgendwas zu verändern.

    "Selber lesen macht kluch."


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    Roberto Bolaño

  • Danke sowohl für die tolle Rezension und den Beitrag, welche ich interessiert verfolge da heute Abend im SRF im Literaturclub unter anderem genau dieses Buch besprochen wird. Vor allem @Nungesser "anstubsen" - zugucken. :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Kann man die SWR Beiträge später auch in der Mediathek sehen?

    Tut mir leid das kann ich dir leider nicht beantworten, das müsste jemand sein der diesen Sender schaut.

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    Horst Lichter

  • Sorry, ich meinte SRF.

    Keine Sache :wink:Hier kannst du alle Sendungen sehen. Auf dem Sender 3Sat wird der Literaturclub jeweils ebenfalls ausgestrahlt.
    Ich hoffe es klappt, und du kannst dir ansehen was dich interessiert.

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    Horst Lichter

  • Ich möchte euch sagen, hört, seht den Literaturclub - bei diesem Roman läuf die Diskussionsrunde zu " "Höchstform" auf - es lohnt sich auf jeden Fall :wink: Ein Roman der begeistert.

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    Horst Lichter

  • Rasant, genial geschrieben und ausgesprochen brutal - in seinem neuen Roman «Der Boxer» geht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch über zahlreiche Leichen. Er zeichnet ein - ziemlich blutiges - Sittengemälde eines Gangsterlebens der Vorkriegszeit.


    Brachial, brutal, gewalttätig: Szczepan Twardochs neuer Roman «Der Boxer» ist Literatur noir mit einem schlagkräftigen Helden vom Kaliber eines Meyer Lansky. Denn der Jakub Shapiro, der Titelheld, ist nicht nur ein Boxer, er ist auch ein Gangster, die rechte Hand des «Paten» Kaplica. Der polnische Originaltitel des Buches ist «Der König» – und um zum König des kriminellen Warschaus aufzusteigen, ist Shapiro bereit, alles zu opfern.

    Twardoch schreibt über Machos und Gangster, Huren und prügelnde Kunden, über Zionisten und fromme Juden. Denn Shapiro, ein Jude, hat für den Paten das Sagen in den Straßen und Gassen des jüdischen Viertels, kassiert Schutzgeld auf dem Kerelec Markt, vollstreckt brutale Strafen, rächt aber auch misshandelte Prostituierte, die unter seinem Schutz stehen. Er ist einer, der im Maßanzug rumläuft, aber auch im armen Teil des jüdischen Warschau als «einer von uns» gesehen wird. Männer bewundern oder hassen ihn, und Frauen sind ihm nur zu gerne willig.


    In seiner Beschreibung des alten Muranow zeichnet Twardoch das Bild eines Warschaus, das im Zweiten Weltkrieg unterging, einer Stadt, in der Juden und Polen in zwei Welten lebten, die oft von gegenseitigem Misstrauen geprägt waren.Dieses alte Warschau existiert nicht mehr, aber für sein Gesellschaftsbild hat Twardoch sehr genau recherchiet.


    Der Großteil von "Der Boxer" spielt im Jahr 1937 – zwei Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Es war auch die Zeit, als in Polen die Nationaldemokraten das Sagen hatten mit einer Politik, die sozusagen "Polen first" zu ihrer Maxime machte - und Pole, das hieß nur katholisch. Die vielen ethnischen und religiösen Minderheiten , die in der Vorkriegsgesellschaft ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, waren "die anderen".


    In «Der Boxer» wird daher nicht nur flaschenweise Wodka getrunken und gekokst, geprügelt und gemordet – es geht auch um den 1937 eingeführten Numerus Clausus für jüdische Studenten an polnischen Hochschulen, um die sogenannten Ghetto-Bänke in Hörsälen. Die Frage der Emigration nach Palästina stellt sich auch für Shapiro – sein jüngerer Bruder, ein Zionist, drängt ihn ebenso, Polen zu verlassen, wie seine Frau Emilia. Seine ehemalige Geliebte dagegen, die Bordellschefin Ryfka, versucht ihm den Gedanken auszureden.


    Das Politische und das Persönliche vermischen sich für den Boxer zu einem Durcheinander, das zu einem Strudel der Gewalt führt. Denn sein im letzten großen Kampf im Ring bezwungener Gegner gehört zu den Kämpfern der extremen Rechten, dessen Vater, ein führender Staatsanwalt, gegen den «Paten» und Shapiro kämpft. Und dann ist da noch Anna, die Schwester des Kontrahenten, die sich Shapiro als Liebhaber nimmt, um den verhassten Vater zu provozieren.


    All das wäre schon temporeich, dramatisch und aktionsgeladen genug, um Leser zu fesseln. Doch Twardoch führt seine Leser auch noch mit seiner Erzählweise in die Irre. Wenn sein Ich-Erzähler Rückschau auf die Vergangenheit des Jahres 1937 hält, scheint der Verlauf der Erzählung eigentlich ganz klar zu sein.Und es gibt noch so manchen dramaturgischen Überraschungsmoment, den ich hier nicht verraten will.


    Die Sprache des Buchs ist ziemlich genial, da werden Bilder gezeichnet, die Teils an die Bilder von Marc Chagall erinnern und teils an die Filme von Tarrantino.Es liegt nicht allein am Gangstermilieu, dass das Blut manchmal von den Buchseiten zu triefen scheint. Sicher kein Buch für allzu sensible Gemüter, aber sehr kraftvoll, bildstark und eindringlich.