Franz Kafka - Amerika

  • Der 16jährige Karl Roßmann wird, nachdem er ein Dienstmädchen geschwängert hat, von seinen Eltern nach Amerika geschickt. Roßmanns erste Begegnung mit dem fremden Kontinent ist der Blick auf die Freiheitsstatue, die einen Schwert emporhält - ein Irrtum Kafkas, der nie den Atlantik überquert hat, oder ein Symbol der richterlichen Gewalt und der Macht?


    Roßmanns Ankunft in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist gleichzeitig der Beginn seines sozialen Abstiegs. Dieser wird in acht Kapiteln, die auch unabhängig voneinander da stehen könnten, geschildert.


    Seinen gewissen Niedergang verdankt er eigentlich seinem in der Schiffskabine vergessenen Regenschirm. Um diesen wieder zu erlangen, vertraut er seinen, die ganze Reise über wohlbehüteten Koffer einem Fremden an, verliert sich auf der Suche nach seiner Kabine in den endlosen Schiffsgängen, landet in der Kabine eines Heizers, der ihn fast zwingt ihm Gehör zu schenken, vergißt dabei den Koffer, den Regenschirm und sein anfängliches Mißtrauen gegenüber diesem fremden Deutschen, dem anscheinend Unrecht getan wurde.


    So inbrünstig wie er seinen Koffer, sein fast einziges Habe, bewachte, genauso leidenschaftlich setzt er sich für die Rechte des Heizers beim Kapitän ein, wo er seinem reichen, ihm unbekannten Onkel begegnet und mit diesem das Schiff verläßt, ohne Koffer, ohne Regenschirm und ohne Gerechtigkeit für den Heizer.



    Eigentlich sind die folgenden Kapitel eine Wiederholung des ersten.
    Die Menschen, denen er begegnet, die Plätze auf die er sich begibt sind neu, doch die Situationen bleiben gleich. Der Anfang ist hoffnungsvoll, es kommt zu Mißverständnissen, Roßmanns Entschlossenheit zerbröckelt und er steht vor dem Nichts.


    Trotz dieser desperaten Erfahrungen ist Roßmanns Entwicklung alles andere als pragmatisch. Solange er etwas (Koffer, Regenschirm, Photographie der Eltern ) oder jemanden hat, an den er sich klammern kann, scheinen die Ereignisse an ihm vorbeizulaufen, als sei er Statist in seinem eigenem Leben, in dem andere Regie führen und er unbetroffen die ihm
    zugewiesene Rolle spielt. Roßmanns Geschichten erinnern immer wieder an grauenvolle Alpträume, die den Schlafenden immer tiefer in den Sog der Grausamkeit und Wehrlosigkeit ziehen.
    Der junge Mann erwacht jedoch nicht schweißgebadet, dadurch gewinnt Amerika an Humor und die Parallele zu einem gewissen Märchen will mir auch gelingen, nämlich zu Hans im Glück.


    Obwohl Amerika kein realistischer Roman ist, werden doch soziale Mißstände erörtert. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse, der Verlust der Individualität des Arbeiters, die absolute Macht der kapitalistischen Herrschaft. Und ähnlich wie Charlie Chaplin 1936 in seinem Film modern times, die Misere der billigen Arbeitskräfte burlesk darstellt, so
    bleibt auch bei Kafkas Slapstick-Szenen einem das Lachen doch eher im Hals stecken.


    Das Ende, das eigentlich kein Ende ist, bringt eine unerwartete Wendung, ein weiteres Traumbild, diesmal voller Farben, Musik, Freude und Energie. So wie die anderen Teile des Romans den Leser immer wieder nach unten ziehen, erklingen hier Hunderte von Trompeten zum Himmel empor. Ist Roßmann angekommen…?

    [i][color=#000066][font='Verdana, Helvetica, sans-serif']Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand. [size=8](Erasmus von Rotterdam)

  • Das Ende, das eigentlich kein Ende ist, bringt eine unerwartete Wendung, ein weiteres Traumbild, diesmal voller Farben, Musik, Freude und Energie.


    Ein Traumbild voller Farben, Musik, Freude und Energie bei Kafka? Ich bin baff! Obwohl ich vom "Prozess" tief beeindruckt war, habe ich bis heute weder "Amerika" noch "Das Schloss" von Kafka gelesen. Danke für die schöne, interessante Vorstellung, Alixe, ich habe das Buch schon hervorgesucht! Hier noch ein schöner Satz von Kurt Tucholsky zu diesem Roman:


    "Am schönsten an diesem Werk ist die tiefe Melancholie, die es durchzieht: Hier ist der ganz seltene Fall, dass einer das Leben nicht versteht und Recht hat." (bei Amazon kopiert).


    Gruß mofre

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















    Einmal editiert, zuletzt von mofre ()

  • Hallo Mofre,


    ich bin schon gespannt auf deine Eindrücke.
    Beim Lesen von Amerika sah ich die "Bilder" schwarz-weiß, den Schluss wirklich in Farbe. Mich hat Amerika so beeindruckt, dass ich sogar nachts davon geträumt habe. Auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Kafka, ich fand ihn sogar spannend.


    herzlichst: Alixe

    [i][color=#000066][font='Verdana, Helvetica, sans-serif']Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand. [size=8](Erasmus von Rotterdam)

  • Danke für deine Einschätzung Alixe... ich glaube, das Teil muss noch einmal lesen.
    Bei mir ist schon einige Zeit ins Land gezogen, seitdem ich dieses Buch das letzte mal in Händen hielt, dass mein Urteil jedoch sehr positiv ausfiel, weiß ich noch genau. Die Stimmung war zwar verschieden zu anderen Kafka-Geschichten, aber dennoch sehr einnehmend.

    Die Menschen glauben alles, was sie unterhält, befriedigt oder ihnen irgendeinen Nutzen verspricht.
    G. B. Shaw