Die ganze Welt ist kartographisch erfasst, vermessen und bekannt. Die ganze Welt? Mitnichten.
Alastair Bonnet zeigt in seinem geographischen Kuriositätenkabinett „Die seltsamsten Orte der Welt“, dass es sehr wohl noch Orte auf oder auch unter der Erdoberfläche gibt, die auf Karten nicht oder nur sehr schwer zu finden sind. Dabei beschränkt sich der Autor nicht auf geographische und kartographische Fehlinterpretationen (wie Sandy Island vor der australischen Ostküste) sondern geht auch auf Orte ein, die nur zweitweise existieren- beispielsweise das ParkdeckE eines Parkhauses auf Flughafen von Los Angeles, wo sich eine Art Pendlersiedlung von Piloten und Flugbegleitern-/-innen gebildet hat.
Allein aus diesen beiden Beispielen merkt man, dass der Begriff „Ort“ hier sehr weit gefasst wird. Man merkt, dass Alastair Bonnet Professor für Soziale Geographie ist. Denn ein „Ort“ ist für ihn nicht nur ein real existierender Fleck Grund und Boden, sondern auch immer ein Platz, ein Gedanke, eine Idee in dem Kopf der Menschen. Und dieser Mensch ist geprägt von „Topophilie“, also der Liebe zum Ort und vom Bedürfnis, Orte zum schaffen.
Und so handelt es sich bei diesem Buch nicht nur um eine Weltreise an außergewöhnliche Orte, sondern auch um eine philosophische Betrachtung der Beziehung von Ort und Mensch. Außerdem ist es ein Reise- und Abenteuerbericht des Autors, denn viele der hier vorgestellten 47 Orte hat er selbst besucht, um einen hautnahen Eindruck des Ortes zu bekommen und –hier schließt sich der Kreis wieder- zu verstehen, was dieser Ort mit ihm als Menschen macht.
Neben dem Blick auf das real existierende lässt er aber auch den Blick schweifen- nicht nur in die Philosophie, sondern durch aus auch in die Geschichte. Worüber ich mir beispielsweise nie Gedanken gemacht habe: Was macht es mit einem Ort, wenn er von jetzt auf Gleich umbenannt wird? Als Beispiel nennt er hier Leningrad- einen geschichts- und schicksalsbehafteten Ort, der, bevor er zu „Leningrad“ wurde, St. Petersburg hieß und heute wieder so heißt. Aber was ist mit dem Ort, dem Gedanken, der Idee, die Leningrad hieß und war? Existiert sie noch im Bewusstsein der Menschen weiter oder verschwindet sie einfach? Zugegebenermaßen- es sind wirklich Fragen, auf die man so nicht kommen würde. Aber gerade das hat für mich den großen Reiz des Buches ausgemacht: Es nimmt einem die Scheuklappen ab, die man trägt, weil man dank all der Karten und Navigationsgeräte, mit denen wir durch die Welt reisen, vergessen hat, dass es doch noch so etwas wie „weiße Flecken“ auf unseren Karten gibt. Orte, die nie oder nur sehr selten jemand macht.
Und so gehören zu den Orten, die der Autor beschreibt und besucht, neben den erwähnten verlorengegangenen Orten und den nur zweitweise existierenden Orten auch Geisterstädte oder auch schwimmende Inseln auch Niemandsländer und versteckte Geographien. Besonders beeindruckt hat mich das Kapitel über Enklaven und abtrünnige Nationen. Hier beweist der Autor nicht nur sein Geschick im Auffinden wirklich außergewöhnlicher Orte, sondern auch eine besondere Empathie für die Menschen, die an diesen Orten leben und den Schwierigkeiten, die sich dadurch für sie ergeben. Er beschreibt, was es bedeutet, in einer Unterenklave zu leben (eine Enklave in der Enklave) oder noch grotesker: in der weltweit einzigen Unter-Unterenklave namens Dahala Khagrabari. Was es damit auf sich hat? Um das zu erfahren, bitte ich Sie, das Buch selbst zu lesen. Nur so viel: Beim Lesen konnte ich kaum glauben, dass es so etwas heute in unserer so strukturierten Welt noch gibt.
Man merkt: Dieses Buch steckt voller Überraschungen, Eigentümlichkeiten und Kuriositäten. Aber man erkennt auch, dass das Leben und die Welt eben nicht komplett erfasst und strukturiert sind und dass da draußen noch Unbekanntes darauf wartet, entdecktzu werden. Nach dem Lesen dieses Buches bekommt Lust darauf.