Xiaolu Guo - Ich bin China/ I Am China

  • Klappentext:
    In einem Land, in dem die Freiheit ein rares Gut ist, sind die beiden Liebenden Mu und Jian Teil einer subversiven jungen Künstlerszene. Mit Musik und Literatur wollen sie gegen die politische Unterdrückung kämpfen und für das Recht ihrer Generation, frei zu leben. Bis sie die zerstörerische Kraft der chinesischen Staatsmacht zu spüren bekommen und plötzlich nicht nur ihr gemeinsames Leben auf dem Spiel steht.In einem beeindruckenden Roman voller Kraft, Wut und Hingabe schlägt die gefeierte chinesische Autorin Xiaolu Guo den Bogen vom China der Neuzeit bis nach Europa und erzählt eine Geschichte, die uns alle berührt. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Xiaolu Guo wuchs in einer kleinen Stadt in Südchina auf und studierte an der Filmhochschule in Beijing. Nebenher schrieb sie Geschichten und Romane. Seit 2002 lebt sie in London. Sowohl in China als auch in ihrer britischen Wahlheimat machte sie sich als Filmemacherin und Schriftstellerin einen Namen. Mit "Kleines Wörterbuch für Liebende" gelang ihr der internationale Durchbruch. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: I am China
    Aus dem Englischen übersetzt von Anne Rademacher
    Erstmals erschienen 2014 bei Chatto & Windus, London
    Eine Mischung aus Tagebuchberichten von Jian und Mu, Briefen der beiden, erzählter Geschichte über beide zusammen und jeden einzeln und erzählter Geschichte über Iona, Übersetzerin der Tagebücher und Briefe
    Vorangestellt ist jeweils eine Monats- und Jahresangabe
    Mit Abbildungen aus den Briefen
    Erzählperspektive dem jeweiligen Genre angepasst
    424 Seiten, Zeittafel und Dank


    Persönliche Meinung:
    Vorweg ein paar Worte zur ungewöhnlichen Covergestaltung: Ein Schutzumschlag aus durchsichtig-rotem festem Plastik, der das Fotos eines schlafenden chinesischen Mädchens auf dem Buchumschlag durchscheinen lässt. Auf dem oberen Schnitt der Titel des Buches in dicken roten Großbuchstaben. Ein Buch also, das schon wegen seines Designs auffällt.


    Xiaolu Guo entwirft ihren Roman als Collage: Vor der Sinologin und Übersetzerin Iona, die in Sachen Liebe nie das erträumte Glück fand, umso erfahrener in Sachen beliebiger Sex ist, liegt ein Packen unsortierter Papiere, Tagebücher und Briefe mit handschriftlichen chinesischen Zeichen bedeckt, die sie von einem Verlag zur Übersetzung bekommen hat; eventuell soll daraus ein Buch entstehen.
    Ionas Geschichte, ihre Übersetzungen, ihr von Sex bestimmtes Leben und ihre Sehnsucht nach Nähe und Liebe sind das Gerüst, in dem sich die Liebesgeschichte zwischen Mu und Jian, deren Erinnerungen an die Zeit der Revolten und ihre Zukunft in und außerhalb von China aufbaut.


    Jian lebt für seine Musik, die er in China nur in Untergrund-Cafés oder –Kneipen spielen kann. Er träumt von einem freien Land, in dem seine Poesie und seine Lieder nicht nur geduldet, sondern auch gehört und auf der Straße laut gesungen werden können. Seine politischen Überzeugungen trägt er in einem Manifest zusammen, das er während eines Konzertes ins Publikum wirft. Erst im Laufe des Buches verdeutlicht sich, warum er nicht eingesperrt und verurteilt, sondern „nur“ ausgewiesen wird.
    Im Jahr bevor seine Tagebücher übersetzt werden, sitzt er in England im Übergangsquartier für Asylanten und wartet auf die Bearbeitung seines Falles vor den englischen Behörden.


    Mu wünscht sich auch ein freieres Leben, doch sie wägt Risiken eher ab als Jian. Immer noch ihrer bäuerlichen Herkunft verhaftet, wäre ihr die Gründung einer Familie und das Zusammenleben mit Jian schon fast genug. Doch das würde ihrem Freund nicht reichen.


    Von vorneherein ist klar: Es kommt zur Trennung. Doch das Wie und Warum enthüllen sich erst nach und nach, je weiter Iona mit ihren Übersetzungen kommt.
    Auch sie macht eine Entwicklung durch und erkennt, dass der schnelle Sex ihre Sehnsucht nicht stillen kann.


    Wenn Xiaolu Guo den Leser für die chinesischen Unfreiheiten und Zwänge, besonders Meinungsäußerung, Redefreiheit und künstlerische Unabhängigkeit sensibilisieren will: Es ist gelungen. Wenn sie das europäische, besonders das britische Asylverfahren kritisch beleuchtet: Gelungen. Wenn sie die Situation junger chinesischer Frauen im westlichen Ausland darstellt: Auch geglückt.
    Die Frage ist berechtigt, ob sie ihr Buch nicht überfrachtet hat, denn neben diesen großen gesellschaftlichen Problemen haben die Protagonisten weitere persönliche Katastrophen zu bewältigen.
    Ionas Suche nach Jian ist, wenn man die zeitlichen Abläufe betrachtet, zu melodramatisch konstruiert.


    Wer sich für chinesische Gegenwart, die Folgen der Revolte auf dem Tian’anmen-Platz und die aktuellen Lebensbedingungen junger Chinesen interessiert, kommt mit diesem Buch auf seine Kosten. Auch wenn es sich durch den ständigen Wechsel zwischen Personen, Zeit- und Handlungsebenen nicht leicht liest, setzt sich eine interessante Geschichte im Kopf des Lesers zusammen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Mein Leseeindruck:


    Der Roman arbeitet virtuos mit Brechungen. Die Geschichte der beiden chinesischen Hauptfiguren erschließt sich nur aus Tagebuchnotizen und Briefen, deren Rezeption wiederum durch Iona vermittelt und durch deren Übersetzung wiederum gebrochen wird – und die wiederum gebrochen wird durch die Tatsache, dass die Autorin, eine Chinesin mit britischem Pass, nicht in ihrer Muttersprache, sondern in ihrer Zweitsprache schreibt. Die wiederum in unsere Sprache übersetzt werden musste.


    Im Zentrum stehen vier Personen, zwei Paare: Jian und Mu, das östliche Paar, und Iona und Jonathan, das westliche Paar. Iona erscheint ebenso einsam wie später die Hauptfigur Jian; sie flüchtet vor emotionalen Bindungen und nähert sich erst im Laufe des Romans der zweiten männlichen Hauptfigur, Jonathan, an.

    So beobachtet der Leser die Geschichte der beiden Paare, von denen das eine sich aus den Augen verliert, während sich das andere einander annähert und zwar gerade über die unglückliche Geschichte des ersten Paares. Diese Parallelität hat mir gut gefallen.


    Die mehrfachen Brechungen spiegeln sich deutlich in der Struktur des Buches. Die Autorin zersplittert den Text in eine endlose Fülle an kleinen Kapiteln, die sie zudem nicht immer chronologisch anordnet. Dadurch gestaltet sich das Lesen zunächst mühsamer als gewohnt – aber die Mühe des Durchhaltens wird belohnt. Auch Iona selber findet zunächst den Zugang zu ihren Figuren zunächst nicht: „Aber es gelingt mir nicht, an sie heranzukommen.“ (S. 244), und auch ihr Durchhalten wird belohnt: „Ich habe mich immer mehr mit diesen beiden Menschen und ihrer Geschichte identifiziert, mich ganz auf sie eingelassen. Sie haben sich mir geöffnet, als wollten sie der ganzen Welt ihr Innerstes Offenbaren. Und ich bin Teil dieser Offenbarung geworden“ (S. 404). Dem Leser geht es genau so.

    Die Einbettung von „originalen“ Briefen in chinesischer Schrift und die Abbildung von Fotos suggerieren dem Leser historische Faktizität, die noch erhöht wird durch das „Mitspielen“ von historischen Figuren wie z. B. den Dichter Hai Zi (https://en.wikipedia.org/wiki/Hai_Zi), den Politiker Deng Xiaoping (https://de.wikipedia.org/wiki/Deng_Xiaoping) u. a.


    Dieser Kunstgriff verlebendigt die Geschichte des Paares und trägt mit dazu bei, dass sich vor dem Leser Schritt für Schritt ein großes, aber fein differenziertes Bild des modernen Chinas entfaltet, eines Landes, das sich im Konflikt mit seiner Vergangenheit befindet und in dem die persönliche Freiheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben den Bedürfnissen des Staates nach Stabilität, Ruhe und Ordnung untergeordnet werden.

    Der junge Musiker Jian zahlt einen hohen Preis für seine Nicht-Anpassung: er wird exiliert, zieht durch Europa und leidet unter dem Verlust seiner Heimat, seiner Sprache und vor allem seiner geistigen Welt so sehr, dass er sich aus der Welt verabschiedet. „Meine Wurzeln wurden ausgerissen und sind vertrocknet“ (S. 307). Damit gleichen seine Gestimmtheit und sein Schicksal dem vieler anderer Exilierter, von Heinrich Heine angefangen bis zu Stefan Zweig.


    Der Roman hat seine Schwächen:

    Das Verhältnis Ionas zu Jonathan wird nicht frei von Trivialität und unnötiger Dramatik erzählt, und Stellen wie „Sie (gemeint ist die Geschichte von Jians Familie) liegt, gemeißelt in einen geheimen Stein, für alle Zeiten in der eisigen Vergangenheit begraben“(S. 238) machen die Sache nicht besser.

    Darüber kann, muss man hinwegsehen zugunsten des Inhalts: „China ich habe dir alles gegeben und nun bin ich nichts.“


    Fazit: ein absolut lesenswerter Roman, dem es gelingt, trotz seiner gelegentlich spröden Gestaltung beeindruckende Lebensgeschichten zu erzählen.



    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:



    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).