Elfriede Jelinek - Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft

  • Klappentext:

    "Michael gehört zu den deutschen Namen, die im Geburtenregister und im Filmgeschäft ganz vorn rangieren. In Elfriede Jelineks ´Jugendbuch für die Infantilgesellschaft´ steht derselbe Name für einen ideologischen Misthaufen, auf dem einzig solche Träume gedeihen, die gesellschaftlich erwünscht und politisch nutzbar sind. Die Züchtung, früh genug begonnen, bringt nahezu wesenlose Kunsttraummenschen hervor, hier dargestellt durch zwei junge Mädchen. Sie führen in ein Bewußtseinsgrusical ein, in eine irre Landschaft, bestehend aus lauter Identifikationsangeboten, den fatalsten vielleicht, die die Massenmedien dem verunsicherten Individuum einzuverleiben haben ... Elfriede Jelinek setzt ihre jugendlichen Figuren radikal dieser künstlichen Weltmache aus, wodurch deren Einschätzung, was denn Realität ist, immer hilfloser wird" (Frankfurter Allgemeine Zeitung)




    Zur Autorin (direkt von der wikipedia-Seite der Autorin kopiert):

    Elfriede Jelinek (* 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag) ist eine österreichische Schriftstellerin, die in Wien und München lebt. Im Jahr 2004 erhielt sie den Literaturnobelpreis für „den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“.


    Elfriede Jelinek schreibt gegen Missstände im öffentlichen, politischen, aber auch im privaten Leben der österreichischen Gesellschaft. Dabei benutzt sie einen sarkastischen, provokanten Stil, der von ihren Gegnern („Nestbeschmutzer“-Diskussion), aber auch von ihr selbst mitunter als obszön, blasphemisch, vulgär oder höhnisch beschrieben wird.





    Meine Meinung zum Buch:


    Das 140 Seiten dünne Büchlein ist 1972 erstmalig erschienen. Was sofort auffällt, ist der rigorose Verzicht auf Großschreibung, Kommata, Trennstriche und Zeichen für wörtliche Rede sowie die Verwendung von ü statt y in Wörtern wie z.B. „dünamisch“; desweiteren die betuliche Sprache und der Einsatz von sinnlos wirkenden Gewaltbeschreibungen in ansonsten harmlos wirkenden Szenen und Erzählbruchstücken. Auch wenn man berücksichtigt, dass die deutsche Sprache 1972 etwas anders klang als heute, wirkt Elfriede Jelineks Stil ganz deutlich affig, ironisch und provokativ. Man spürt durchgehend auf extrem nervige und kratzige Weise den aggressiven Unterton, mit dem die Belanglosigkeiten in den (nach-)erzählten und die angebliche „Wirklichkeit“ wiedergebenden Abschnitten sowie in den direkten Anreden an irgendwelche „jugendlichen“ Leser begleitet werden - wobei „Unterton“ nicht der richtige Begriff sein dürfte, dazu erscheint er viel zu laut und zu schrill, er weist eine notorisch plärrende Qualität auf.


    Das Buch ist aus vielen kleinen, mehr oder weniger zusammenhängenden bzw. unzusammenhängenden Texten aufgebaut, in denen Frau Jelinek kleine (übertrieben) emotionale Szenen aus Serien wie „Flipper“ mit Elementen blinder und sinnloser Gewalt cholerisch durchsetzt; in anderen Teilen ist die Rede von einer ältlichen Schauspielerin „Inge Meise“ (Assoziation zu Inge Meysel?), die durch und durch verrückt und vulgär daherkommt; in anderen Teilen wiederum wird von der Autorin ein pädophiler Akt spöttisch verlächerlicht, und in anderen Abschnitten ist nicht unterscheidbar, ob es sich um Ausschnitte aus einer Familienfernsehserie oder der angeblichen „Wirklichkeit“ handelt, in der es um hässliche, weil zu dicke Lehrlingsmädchen in einem großen Kaffeeimperium geht, die entsprechend von allen gequält werden, von Sekretärinnen, deren Traum die unerreichbare Liebe des Chefs scheint, von der kitschigen Liebe zwischen der schönen Tochter des steinreichen Unternehmers und des tugendhaften und hart arbeitenden Michaels aus sehr bescheidenen Verhältnissen, etc.


    Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft hat mich beim Lesen unsäglich genervt, lange Zeit habe ich Frau Jelinek für „total neben der Spur“ gehalten (ich bin auch jetzt noch nicht ganz vom Gegenteil überzeugt, wenn ich ehrlich sein soll), weil mir die Absicht der Autorin irgendwie zu offensichtlich und zu aggressiv vorkommt: anscheinend wollte sie mal richtig die Schwerpunktsetzung im emotionalen Leben der breiten Bevölkerung aufzeigen mit deren notorischem Hang zu Morbidität, triefendem Kitsch und der klammheimlichen mentalen Ausrichtung ihrer aller Leben auf genau diese zentrale Traumschiff-, Rosamunde Pilcher- und GNTM-Achse.


    Den Wunsch nach einer stärker kritisch und selbstständig denkenden Bevölkerung kann ich zwar nachvollziehen, den entdecke ich sogar manchmal in mir selbst. Doch seien wir mal ehrlich, die Existenz eines solchen Wunsches ist noch lange kein Kriterium dafür, dass er berechtigt sein muss (oder andersherum ebensowenig für das Gegenteil). Eine entsprechende Argumentation wäre in jedem Falle wünschenswert, bevor man mit blindverbaler Wut ein Buch wie Michael in die Seiten kratzt. Ein Werk wie dieses wird außerdem sowieso von keinem einzigen aus der Bevölkerungsschicht mit Vorliebe fürs seicht Emotionale gelesen, das muss auch einer Autorin wie Frau Jelinek von vornherein klar gewesen sein.
    Aber was könnte dann der Grund für die Veröffentlichung des Buches gewesen sein? Affiges Getue um den „individuellen Schreibstil“ der Autorin? Intellektuelle Besserwisserei? Bewusste Abgrenzung des eigenen, angeblich „besseren“ Ichs gegenüber der restlichen Bevölkerung (die damit automatisch für minderwertig erklärt wird)? Unkontrolliertes Dampfablassen? Meiner Meinung nach samt und sonders keine sonderlich guten Gründe, ein besserer fällt mir jedoch nicht ein.


    Außerdem:
    Gab es die „Infantilgesellschaft“, wie sie Frau Jelinek zu definieren scheint, nicht eigentlich schon immer (mit Ausnahme des Zeitalters der Aufklärung vielleicht …)?
    War die Tess of the D’Urbervilles nicht ein Paradebeispiel für ein Mitglied einer solchen, als eine junge Frau, die sich die Flausen in den Kopf hatte setzen lassen, sie sei etwas Besseres und hätte deshalb Anspruch auf ein besseres Leben in Bezug auf materiellen Wohlstand und soziale Stellung? Sind unsere allbekannten Grimm’s Märchen nicht ein expliziter Ausdruck genau dieser heimlichen Wünsche auf ein materiell sorgenfreies Leben, verbunden mit der Bewunderung und Neid, die die Heirat mit dem Prinzen mit sich brachte? Worin unterscheidet sich denn bitteschön der Märchentraum „von der Spülküche ins Schloss“ von den Träumen der Sekretärin, die gerne vom Sohn des Fabrikbesitzers vor den Traualtar geführt würde (oder gleich vom Konzerneigner selbst, siehe das Paradebeispiel aus unserer Realität: von der österreichischen Hotelfachfrau zur Flick-Ehegattin), oder von den Träumen all der Tausenden Teilnehmer an modernen Castingshows (wobei die Teilnehmer mehrheitlich kein allzu hohes Bildungsniveau aufweisen dürften, nehme ich mal vorsichtig an)?
    Und wie schaut es aus mit Beispielen realhistorischer Herrscher wie Heinrich VIII oder Ludwig XIV?



    Nichts für ungut, aber in der infantil anmutenden Art, in der Elfriede Jelinek ihr Büchlein verfasst hat, taugt es meiner Meinung nach nicht viel. Wenn man schon der Meinung ist, man besäße einen berechtigten Standpunkt, dann sollte man ihn in einer Art und Weise als Buch an den Mann (und meinetwegen an die Frau) bringen, die als Zielgruppe genau die Bevölkerungsmassen anzusprechen erlaubt, die man so heftig kritisiert. Und eine entsprechend schlüssige und verständliche Begründung für die Kritik sollte ebenfalls nicht fehlen, damit die beabsichtigte Einsicht erleichtert wird. Ich brauche keine cholerisch-idiotische Belehrung zu diesem Thema; und irgendeine eitle Bestätigung, dass Frau Jelinek mit ihrer Meinung auf meiner Seite oder ich gar auf der Ihren stünde, brauche ich schon gar nicht ... bringt mir nichts, hab‘ ich nichts davon.
    Von mir gibt es deshalb nur :bewertung1von5::bewertung1von5: Sterne für dieses Büchlein.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Das ist zwar ein deutlicher Verriss, den du hier lieferst, @Hypocritia , aber dennoch bin ich neugierig geworden und würde das Buch sofort lesen, wenn es mir über den Weg läuft.
    (Außerdem: Aus einen gewissen Ehrgeiz, deine offenen Fragen zu beantworten --- so bescheiden bin ich heute :-, .)

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Das ist zwar ein deutlicher Verriss, den du hier lieferst, @Hypocritia , aber dennoch bin ich neugierig geworden und würde das Buch sofort lesen, wenn es mir über den Weg läuft.
    (Außerdem: Aus einen gewissen Ehrgeiz, deine offenen Fragen zu beantworten --- so bescheiden bin ich heute :-, .)


    Au ja, mach' mal. Vielleicht findest du das Büchlein ja sogar genial. Dann können wir den Streit, den die professionellen Literaturwissenschaftler und -kritiker aufgrund ihrer unterschiedlichen Meinungen zu Frau Jelinek ausfechten, auch hier im kleinen Rahmen unter uns im "Hobbykeller der Amateurkritiker" austragen ( :rambo::loool::friends: ).
    Auf eventuelle Antworten bezüglich eines vernünftigen Zwecks für dieses Büchlein wäre ich sowieso mehr als dankbar.
    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Frau Jelinek die Medien zu den ausschließlich Bösen und die Bürger zu verunsicherten und böswillig verführten Individuen erklären will, wie die FAZ das darstellt - Österreich war auch schon 1970 eine Demokratie, und es geht einfach nicht an, dass man seine Mitbürger für beinahe komplett medial unmündig erklärt, während man sich und seine Gleichgesinnten praktisch in die Überzeugung der einzig Mündigen in dieser Hinsicht hineininterpretiert ... egal, denn auch wenn man Frau Jelineks Absicht auf diese Weise auslegen würde, bleibt als logische Folgerung für mich nur eine echte Respektlosigkeit den Massenmedienkonsumenten gegenüber. Das empfinde ich sogar, obwohl ich selbst die meisten Fernsehserien und -filme als unerträglich platt und idiotisch empfinde und bei uns der Fernseher vielleicht einmal die Woche läuft, wenn's hoch kommt (und zwar ohne Fernsehverbot für die "Brut").

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    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Auf eventuelle Antworten bezüglich eines vernünftigen Zwecks für dieses Büchlein wäre ich sowieso mehr als dankbar.


    Im Österreichischen Fernsehen gibt es die nette Literatursendung "erlesen" da werden solche Bücher immer zum ausgleichen des wackeligen Tisches benutzt, wär das nicht eine sinnvolle Verwendung. :wink:

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Da der Verlag das Buch zur "Gegenwartsliteratur" zählt, hab' ich den Thread in den passenden Bereich verschoben :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier