Karl-Heinz Ott – Wintzenried

  • Original : Deutsch, 2011


    INHALT :
    Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau kommt zeitlebens nicht über ein Trauma hinweg: dass der Friseur Wintzenried den Platz im Bett seiner dreizehn Jahre älteren Geliebten Madame de Warens eingenommen hat. Gäbe es Wintzenried nicht, würde Rousseau glücklich sein, müsste nicht gegen die Welt toben und zum Wegbereiter der Französischen Revolution werden. Ohne Wintzenried wäre alles gut, glaubt er.


    Wahnsinn und Wahrheit, das Tragische und Bizarre sind im Leben des Jean-Jacques Rousseau nicht auseinanderzuhalten. Dass Verfolgungs- und Größenwahn zusammengehören, lässt sich nirgends besser sehen als an diesem epochemachenden Philosophen, der die ganze verrottete Menschheit auf die Anklagebank setzt. Für alle, mit denen er befreundet ist, entpuppt er sich früher oder später als Monster. Was nicht nur daran liegt, dass er seine fünf Kinder ins Waisenhaus steckt und zugleich eine Erziehungslehre schreibt, die zur Bibel jeder fortschrittlichen Pädagogik wird.
    (Quelle : Kurzbeschreibung bei amazon.de, leicht geändert, bzw gekürzt)


    BEMERKUNGEN :
    Dieses Werk könnte für manche durchaus als eine mögliche Romanbiographie des in Genf geborenen Rousseaus (1712 bis 1778 ) durchgehen, die circa beim Sechzehnjährigen einsetzt : nämlich als er bei Madame de Warens unterkommt. Die Zeit vor der Ankunft bei de Warens wird später teils in Rückblicken noch beschrieben. In fünfzehn Kapiteln sehr unterschiedlicher Länge (1-30 Seiten lang) geht es voran. Man möchte aber direkt hinzufügen, dass wir äußerst wenig Zeitbezüge erhalten und manchmal nicht genau wissen, wann genau diese oder jene Episode spielt. Es könnte dafür hilfreich sein, einen etwas ausgesprochen biographischen Artikel zu Hilfe zu ziehen, zB: http://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Jacques_Rousseau .


    Wintzenried, Titelgeber des Buches, steht meines Erachtens eigentlich als durch anderes ersetzbaren Grund der ständigen Flucht Rousseaus, bzw seines Gefühls der Niederlage und eines Komplottes gegen ihn. Der große (?) Mann wird hier von Ott nach meinem Empfinden ziemlich demontiert : Paranoia, Verantwortungslosigkeit, Eitelkeit, absolute Selbstüberschätzung, ein Fähnchen im Winde – und das alles oft in schönster Verbundenheit mit einem lächerlich wirkenden Hanswurst. Mir ist es dabei seltsam vorgekommen, dass ein Kommentar hier von der « leisen Komik Otts » spricht, wo sie doch so offensichtlich ins Spöttische und Ironische abgleitet.


    Die objektiven Daten verweisen auf eine in der Realität begründete Vorsicht angesichts des Philosophen und Pädagogen, dennoch sehe ich in Otts Sprach-, Stil- und Wortwahl eine zu eindeutige Geringschätzung und Bloßstellung. Ich habe die bisherigen Bücher dieses Autors (siehe hier im BT vorhandene Rezensionen!) sehr genossen : auch dort ging es teils um tragisch-komische Figuren. Wurde dieses Erzählen dort für mich akzeptabler durch die identifizierungsfördernde und irgendwie urteilslosere Wahl der Ich-Erzählung ? Hier in « Wintzenried » wählt Ott nun die distanzierte auktoriale Erzählweise. Sprachlich sicherlich erneut flüssig beherrscht, doch mich geistig nicht so ansprechend. Dementsprechend von mir hier nur :bewertung1von5::bewertung1von5: / :bewertungHalb: Sterne !


    Wie werdet Ihr es empfinden?


    AUTOR :
    Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen an der Donau geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer. Er studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft. Anschließend arbeitete er als Dramaturg an den Theatern in Freiburg, Basel und Zürich. 1998 erschien sein Romandebüt « Ins Offene », das mit dem Hölderlin-Förderpreis und dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde. Für seinen Roman Endlich Stille (2005) erhielt er den Alemannischen Literaturpreis, den Candide-Preis sowie den Preis der LiteraTour Nord. 2008 erschien sein dritter Roman Ob wir wollen oder nicht. Außerdem veröffentlichte er Heimatkunde. Baden (2007) und Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel (2008 ) und der Roman Wintzenried (2011). Im Jahr 2012 wurde ihm der Johann-Peter-Hebel-Preis verliehen. Karl-Heinz Ott lebt in Freiburg. (Quellen : Hoffmann und Campe – Autorenportrait ; amazon.de ; Ausführlicheres auch bei http://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Ott )


    Produktinformation
    Gebundene Ausgabe: 205 Seiten
    Verlag: Hoffmann und Campe (14. September 2011)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3455403115
    ISBN-13: 978-3455403114

  • Tut es gut, wenn man einen der ganz Großen der Geschichte zum Hanswurst herunterschreibt? Ist es ein Genuss darüber zu lesen? Nach der Lektüre dieses Buches und der Rezensionen aus professioneller und nichtprofessioneller Feder zu urteilen, behaupte ich mal schlicht ja. Alle LeserInnen hatten sich glänzend amüsiert mit dem Roman über diesen ach so großen Denker, der in Wahrheit jedoch offenbar ein ganz armseliges Würstchen war: hypochondrisch, egozentrisch bis zum gehtnichtmehr, überheblich, arrogant, wankelmütig, ein Misanthrop dem man sich nie zu begegnen wünscht. Und der Autor scheint frohgestimmt kein gutes Haar an Rousseau zu lassen. Könnte man nicht aus anderen Quellen etwas über ihn erfahren (oder vielleicht sogar schon etwas von ihm gelesen hat), würde man NIE ahnen, welch großen Einfluss dieser Mensch auf die westliche Welt ausübte.
    Ich gestehe, meine Kenntnis über Rousseau war eher, nun ja, marginal. So fragte ich mich, woher der Autor seine Informationen hatte oder ob es sich um ein reines Phantasieprodukt handelte. Keine der vielen Biographien, die im Netz kursieren, gibt auch nur annähernd Ähnliches wieder. Ja, die äußeren Fakten (Aufenthalte in bestimmten Städten, Tätigkeiten usw.) stimmten, aber sonst fand sich nichts. Bis ich auf ein Werk von Rousseau selbst stieß: Bekenntnisse. Seine Autobiographie, die erst posthum veröffentlicht wurde und in der er schonungslos über sich selbst schrieb, voller Selbstkritik und Offenheit. Hier finden sich Details wieder die in Otts Buch auftauchen, womit klar sein dürfte woher der Autor seine Informationen hatte. Selbst Otts Stil entspricht im Großen und Ganzen der Schreibweise Rousseaus, sodass ich letztendlich zu dem Schluss komme: Wintzenried scheint nichts Anderes als eine Zusammenfassung der skandalöstesten Ereignisse aus den 'Bekenntnissen' zu sein, angereichert durch die unermüdliche Anwendung der Hyperbel als Stilmittel.
    Begeistert hat mich das Buch durch diese beharrlichen Schmähungen nicht besonders. Statt dessen werde ich mich nun dem Original zuwenden: Die 'Bekenntnisse' sind sicherlich nicht weniger offenherzig und skandalös ;-), dafür aber garantiert nicht so einseitig. Und von den Gedanken, die Rousseau so berühmt machten, kann man auch etwas lesen.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling