• Einen „Meister des Bizarren und Unausweichlichen“ hat der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom den 1965 verstorbenen Schriftsteller Ferdinand Bordewijk genannt, dessen Bücher in seinem Heimatland bis in diese Tage zum Teil schon in der 40. Auflage gedruckt werden und fest im Lehrplan der dortigen Schulen verankert sind. Der C.H. Beck Verlag hat vor einigen Jahren den in den Niederlanden berühmten Roman „Charakter“ veröffentlicht, der hierzulande aber leider kaum beachtet wurde.


    Das Buch handelte nicht wesentlich von einem Charakter oder dem Unterschied von verschiedenen Charakteren, sondern es handelte von der Eigenschaft "Charakter" in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung, wo es so viel heißt wie schneiden, ausschneiden, gravieren.
    "Charakter", schrieb Cees Nooteboom in seinem Nachwort, "in diesem Sinne ist das eigentliche Thema des Buches, zwingend und unausweichlich sind Vater, Mutter und Sohn in ihren Charakteren gefangen, unerreichbar füreinander mit Liebe und letzten Endes auch nicht mit Hass."


    Bordewijk erzählt von Menschen mit einem solchen Charakter, Menschen, die anderen Menschen und Situationen ihren Stempel aufdrücken, ihr eingeschnittenes Zeichen - und doch zugleich armselige und bedauernswerte Gefangene sind ihrer Eigenart. Die Härte, mit der sie sich durchsetzen, beschädigt sie selbst oft am meisten.


    Ein solcher Mensch wird auch beschrieben in seinem kleinen hier vorliegenden Roman „Bint“, der in Holland sein bekanntester ist und den er vier Jahr vor „Charakter“ 1934 schrieb. Er handelt von einem Schuldirektor, der seine Schule mit eiserner Hand regiert, bis schließlich der Selbstmord eines Schülers eine Art Aufstand auslöst.


    Eine dichte Sprache und eine nicht weniger dichte Handlung machen, obwohl es heute an Schule Gott sei Dank anders zugeht, die Lektüre dennoch zu einer faszinierenden Lektion über Disziplin, Macht und Gehorsam und den Widerstand dagegen.

  • Hallo Winfried,


    das hört sich nach einem sehr interessanten Autor an! Ich vermißte in diesem Kommentar aber doch ein wenig ein ausführlicheres Eingehen auf das verlinkte Buch. Davon handeln dann mal gerade zwei Abschnitte (wenn sie auch sehr interessant sind). Die ersten drei behandeln ja ein anderes Buch, selbst wenn der Autor wohl einen ähnlichen Stil verwendet?!


    Vielleicht könntest Du noch etwas mehr zur Handlung, zum Aufbau von Bint, eventuell auch der Bio des Autors sagen? Danke!

  • Bereits 1934 erschien „Bint“, nach „Charakter“ der zweite ins Deutsche übersetzte Roman des niederländischen Schriftstellers Ferdinand Bordewijk. Dieser ist in Deutschland noch weitestgehend unbekannt, in den Niederlanden gehört er längst zu den modernen Klassikern, seine hinterlassenen Bücher sind Schullektüre und werden kontrovers diskutiert.


    Titelgebende Person der Erzählung ist Bint, Direktor an einer Schule in einer niederländischen Kleinstadt und als solcher der Schöpfer und Verfechter eines drakonischen Erziehungssystems aus Zucht, Disziplin und eisernem Gehorsam. Trotz der Anfeindungen von Seiten des Stadtrates und von Teilen der Elternschaft ist ihm die gesamte Lehrerschaft treu ergeben und unterstützt das Bint´sche System aus unerbittlicher Härte und Strenge, doch die Schülerzahlen gehen stetig zurück und es ist allenfalls eine Frage weniger Jahre, bis die Schließung der Schule droht.


    In diese autoritäre Schulgemeinschaft kommt der Aushilfslehrer de Bree, er soll die Klasse 4d, genannt „die Hölle“, übernehmen, nachdem diese seinen Vorgänger weggeekelt hat. Bereits in der ersten Schulstunde, nach einem vereitelten Streich und einer ersten Machtprobe der Schüler, erklärt de Bree seiner neuen Klasse den Krieg und fügt sich damit nahtlos in Bint´s Schulregime ein. Dessen Ziel ist die Gleichmachung der Schüler durch Selektion der Lern- und Charakterschwachen bei gleichzeitiger Kleinhaltung und Unterdrückung der Überflieger und überdurchschnittlich Begabten. Die Erziehung der Schüler zu freidenkenden Individuen ist abgeschafft, das Stellen von Fragen ist unerwünscht. Stattdessen regieren ein Befehlston im Unterricht, Gehorsam, Arbeitseifer und Disziplin, Zuwiderhandlungen werden mit Nachsitzen bestraft.


    Bint´s Musterklasse ist „die Hölle“, eine Ansammlung aus merkwürdig deformierten Schülern, von Bint persönlich zusammengestellt, in ihren Gesichtszügen und körperlichen Merkmalen monströsen Tieren gleichend und mit ( auch im Niederländischen … ) so abstrusen Nachnamen wie Bolmikolke, Klotterboke und Kiekertak ausgestattet. Das strenge Regime Bints hat bei den Schülern der 4d bereits erstaunliche Früchte getragen: jegliche Form der Individualität ist von ihnen abgefallen, trotz aller Wildheit und Unangepasstheit, welche hier und dort in den Augen und Gebärden noch durchschimmert. Die Klasse tritt nur noch als Kollektiv, als Körper auf, geprägt durch einen starken Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft, eine strenge Disziplin und Zielstrebigkeit im Unterricht und eine elitäre Haltung gegenüber den übrigen Klassen und der Lehrerschaft.


    Bints Erziehungsmethoden erfahren auch keinen Abbruch, als sich der Schüler van Beek aus einer Parallelklasse nach einem vernichtenden Zwischenzeugnis das Leben nimmt. Es kommt zu einer Belagerung der Schule und der Lehrerschaft, einem Aufstand durch die übrigen Schüler, doch Bint kann mithilfe seiner Meisterschüler aus der Hölle das Begehren und den Widerstand niederschlagen, denn diese instrumentalisiert er als Schrecken verbreitenden Schlägertrupp und Räumdienst.


    Trotz einer Normalisierung der Zustände in den Monaten danach, der Rückkehr zum Schulalltag ist es ausgerechnet Bint, der am Ende an seinem eigenen Anspruch an sich und sein System und an seiner menschlichen Schwäche scheitert, doch finden sich schnell geeignete Nachfolger, das Regime an der Schule fortzuführen ……..


    Spekuliert werden darf über die Aussage der Erzählung: Einerseits wirkt die ganze Handlung wie ein Abbild des sich 1934 im benachbarten faschichtischen Deutschland vollziehenden Umbaus der Gesellschaft. Hier wie dort ist es eine Führungselite, welche sich mit einem System aus Strenge, Zucht und Gehorsam, aber auch mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl seine Untergebenen zu einem blind folgenden Volks- bzw. Klassenkörper erzieht. Irritierend wirkt jedoch, wie nah der Erzähler seiner Hauptfigur ist und sich merkwürdigerweise nicht so von ihm distanziert, wie es vielleicht zu erwarten wäre. Auch soll Bordewijk, in seinen jungen Jahren selbst als Lehrer tätig, in Interwiews mit autoritären Führungsstilen geliebäugelt haben. So kann „Bint“ eben auch als Ausdruck der Faszination Bordewijks für eine harten, mitleidlosen Erziehungs- und Führungsansatz gelesen werden. Oder aber als Warnung dafür, was die beschriebenen Macht- und Unterdrückungshierarchien aus Menschen machen können, bzw. wie sie Menschen zu formen und zu beeinflussen vermögen.


    Die letztendliche Deutungshoheit bleibt jedoch dem Leser überlassen. Als wertvolle Ergänzung wurde dem Roman ein Nachwort von Maarten´t Hart angehängt, in welchem die oben erwähnten Ansätze, aber auch erklärende Darstellungen zur Rezeptionsgeschichte des Romans beschrieben sind.


    Mein Fazit: Ein unbedingt lesenswertes Buch mit vieldeutigen Erklärungsansätzen, faszinierend nicht zuletzt aufgrund des Stils einer extrem verkürzten, ruppigen Sprache, der permanenten Suggestion einer unterschwelligen Atmosphäre aus Beklommenheit und Gefahr und der stetigen Nähe des Textes zum Grotesken und Makabren.