Hilary Mantel - Der riesige O'Brien / The Giant O'Brien

  • Klappentext:
    Man schreibt das Jahr 1782, und Charles O'Brien flüchtet vor dem Hunger aus Irland nach London. O'Brien ist nicht nur von außerordentlicher Gestalt, er ist auch ein Barde, ein Mann der Balladen und Geschichten, der von den alten Mythen erzählt, von irischen Königen und Feen. In London, so verspricht ihm sein Freund und Impresario Joe, wird er eine Sensation sein - in jenem fernen glänzenden London der Geschäftemacher und der Wissenschaftler.
    Als "der riesige O'Brien" bietet er sich dar, und gegen gutes Geld begaffen ihn die sensationslüsternen Massen. Unter den Besuchern ist aber auch ein Mann, dessen scharfer Blick O'Brien Angst einjagt - es ist John Hunter, der Anatom und Sezierer, für seine Experimente berühmt und fieberhaft auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens.
    Als O'Brien eines Tages entdeckt, dass er erneut anfängt zu wachsen, weiß er, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Und inzwischen hat sich auch das Publikum einer anderen, neuesten Kuriosität zugewendet, die Einnahmen bleiben aus. Wieder erscheint Hunter. Er bietet O'Brien Geld für das Recht an seiner Leiche. Ein makabrer Wettstreit um seine Knochen beginnt.
    (von Amazon kopiert)


    Zur Autorin:
    Hilary Mantel wurde 1952 in Derbyshire in England geboren und hat mehrere Jahre in Afrika und im Nahen Osten gelebt. Für ihre insgesamt acht Romane wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hawthornden-Literaturpreis für das vorliegende Buch. Im Fischer Taschenbuch erscheint auch ihr Roman "Regen über der Wüste" (Bd. 15295). Ihr neuester, historischer Roman "Der riesige O'Brien" liegt im Krüger Verlag vor.


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: The Giant O’Brien
    Erstmals erschienen 1998 im Verlag Fourth Estate, London
    Übersetzt von Charlotte Breuer
    12 Kapitel und Nachwort auf 248 Seiten
    Wie die Autorin im Nachwort schreibt, hat die Person des Charles O’Brien ein historisches Vorbild in Charles Byrne, und auch der Arzt John Hunter ist eine historische Figur. Hier(englischsprachiger Artikel) kann man sich über die tatsächliche Verbindung zwischen den beiden Männern informieren.


    Inhalt:
    Mit einer Gruppe Freunde und Joe Vance, seinem selbsternannten Manager, flieht O’Brien aus Irland nach London, wo er gegen Gebühr zur Schau gestellt wird. Doch es gelingt nicht, aus der Armut zu entfliehen. Schon nach kurzer Zeit giert das Londoner Publikum nach neuen Attraktionen, und Charles stellt fest, dass er weiter wächst, und er weiß, dass seine Knochen, seine Muskeln und Gelenke das Mehrgewicht nicht länger tragen können. Dennoch geht er auf Hunters Angebot nicht ein: In dem Glauben an die leibliche Auferstehung der Toten fürchtet er um sein ewiges Leben, wenn sein Leichnam nicht mehr vollständig wäre.


    Eigene Meinung / Beurteilung:
    Das Buch ist in Episoden aufgeteilt, wechselt ohne festes Schema zwischen O’Brien und Hunter. Die Handlung schreitet durch Dialoge und / oder die Gedanken der Protagonisten voran; stellenweise ist es schwierig, ihr zu folgen, und die Autorin hätte dem Buch einen guten Dienst erwiesen, hätte sie einen Erzähler eingebaut, der die Stränge in der Hand hält und weiterführt. So aber wirkt das Buch leicht zerfasert.
    Charles Freunde lassen sich nur durch ihre Vornamen unterscheiden, keiner hat ein individuelles Gesicht.
    Auch die Atmosphäre des Lebens in London des 18. Jahrhunderts ist nur angedeutet – wenn man schon mehr darüber gelesen hat, kann man Einzelheiten einordnen, doch man hätte sich mehr Hintergrundmaterial gewünscht.


    Im letzten Drittel, in Charles’ Kampf mit dem Tod, mit Hunter und mit seinen Freunden, die natürlich aus seinem Körper Profit schlagen wollen, wird das Buch dichter und fesselnder, vor allem die Beschreibung über die Behandlung, Unterbringung und Versorgung der „Missgeburten“( Behinderte, Kranke, Menschen mit seltenen Gebrechen), die öffentlich dargestellt wurden und als Eigentum ihres Vorführers galten, der die Eintrittsgelder zur Show einbehielt. Ob ein dressiertes Schwein oder ein Mensch mit Verwachsungen, beide dienten der Belustigung und den Geldbörsen der Besitzer.


    Die Hoffnung, aus Charles' Mund einige irische Balladen oder Sagen zu hören, erfüllt sich nicht, auch hier wieder nur Andeutungen.


    Fazit:
    Ein interessantes historisches Thema, das mit einer erzählenden Stimme leserfreundlicher und unterhaltsamer wäre.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ist das toll! Vielen Dank fuer diese aufschlussreiche Buchvorstellung. Ich wuesste ueberhaupt nicht, dass von Hilary Mantel, die ich sehr gern lese, ein weiterer Roman existiert - und schon gar nicht zu diesem fesselnden Thema! Wir habe Hunter's "Hunterian Museum" hier gerade besichtigt und dabei auch das Skelett des Mannes gesehen, der Vorbild fuer die Hauptfigur des Romans war. Seine Geschichte hat mich sofort fasziniert. Jetzt freue ich mich riesig, dass es einen Roman zu dem Thema gibt.


    Besondere Ostertage wuenscht Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
    www.charlotte-lyne.com

  • Wir habe Hunter's "Hunterian Museum" hier gerade besichtigt


    Wo genau ist "hier" ? Wir sind nächstes Jahr wieder in London und wären auch daran interessiert, weitere Sehenswürdigkeiten zu besuchen, nachdem wir im Herbst schon die gängigsten Stätten besucht haben. :wink:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • @ €nigma,
    ich habe das Museum zwar noch nicht besichtigt, aber im Nachwort des Buchs erfahren, dass es dieses ist.

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  • Da MUSS ich nächstes Jahr hin. Schade, dass ich nicht zu den Vorträgen über Lister gehen kann. Ich bin ein großer Fan von ihm

    :loool:
    Und dann kann ich auch gleich an der U-Bahn Station Chancery Lane aussteigen und auf Shardlakes Spuren wandeln. :love:


    Ich bin schon wieder total im London-Fieber! :lechz:

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  • Ja, genau, Marie - das ist es. Das Hunterian Museum. Ich hatte im letzten Jahr nur wengen einiger spezieller Fragen zu Lister einen Termin dort und jetzt haben wir es endlich mal geschafft, das Museum im Ganzen zu besichtigen. Die Sammlung ist unglaublich, wirklich empfehlenswert. Obwohl man sich, wenn man die Geschichte des "Giant" bedenkt, natuerlich fragt, ob Hunter eigentlich das Recht hatte, das Skelett aufzukaufen - und ob wir das Recht haben, davor zu stehen und zu starren ...


    Euch allen einen schoenen Tag.
    Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
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  • Obwohl man sich, wenn man die Geschichte des "Giant" bedenkt, natuerlich fragt, ob Hunter eigentlich das Recht hatte, das Skelett aufzukaufen


    Wenn der Roman den tatsächlichen Fakten entspricht: Nein! Charles hatte als einen seiner letzten Wünsche ausdrücklich ein Begräbnis angeordnet und wollte nicht dem Leichenfledderer in die Hände fallen.


    und ob wir das Recht haben, davor zu stehen und zu starren


    ??? Und Ötzi? Und die Mumien aus Ägypten? Und die Kapuzinergruft von Palermo?

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  • ??? Und Ötzi? Und die Mumien aus Ägypten? Und die Kapuzinergruft von Palermo?


    Und der Bremer Bleikeller und das Kiewer Höhlenkloster? :-,

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  • Ja, Marie, so Aehnliches ist mir auch in den Sinn gekommen. Ich muss dabei auch immer an Kafka denken, der wollte, dass all sein Schreiben verbrannt wird - und stattdessen sitzen wir darueber und ergehen uns in Begeisterung. Als junge Frau (sehr lang' ist's leider her ...) hat mich das so fertig gemacht, dass ich meine geplante Magister-Arbeit zu einem Kafka-Thema in buchstaeblich letzter Sekunde abgebrochen habe und auf ein anderes Thema umgesprungen bin, weil ich das nicht mehr ausgehalten habe, dass Kafka unter diesen Texten so gelitten hat - und da sitze ich und fuelle Seiten darueber, wie toll die sind ...
    Heute ist mein Gewissen lang' nicht mehr so empfindlich - und an Kafka habe ich auch andere Seiten kennengelernt. Aber wenn mir ein solcher Fall wie der des Giganten begegnet, begehrt immer noch etwas in mir auf und fragt sich, ob wir nicht die Pflicht haben, den Wunsch des Toten endlich zu respektieren. (Auf der anderen Seite bin ich so froh, dass wir sehen, erleben, lernen koennen - aus so vielem, das auf zweifelhafte Weise in die Haende der Nachwelt gelangt ist.)
    Ich habe - leider - den Roman noch immer nicht gelesen, da er gerade erst hier angekommen ist (ich freu mich so darauf!), aber ich glaube schon, dass die von Dir aufgefuehrten Umstaende den Tatsachen entsprechen, denn wir waren mit einer Archaeologin und einem Medizinhistoriker im Museum und die beiden haben uns ganz speziell (da wusst' ich ja noch nicht, dass es dazu einen Roman gibt) auf die Geschichte des Giganten hingewiesen und erzaehlt, dass er gegen seinen Willen dort steht.


    Anyway - ich bedank' mich jedenfalls noch einmal sehr herzlich fuer diese tolle Empfehlung.


    Herzliche Gruesse von Charlie

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  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Hilary Mantel - Der riesige O'Brien“ zu „Hilary Mantel - Der riesige O'Brien / The Giant O'Brien“ geändert.