Karla Schmidt - Die rote Halle
Mit seiner letzten Inszenierung will der Starchoreograph Josef Rost unsterblichen Ruhm erlangen. Deshalb geht er bei der Besetzung der einzelnen Posten, vor und hinter den Kulissen, keine Kompromisse ein. Für seine Version des "Märchens von den roten Schuhen" hat er den stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof als Handlungsort gewählt. Die Kostümbildnerin Janina Zöllner reist mit ihrem 15-jährigen Sohn Simon extra aus Vancouver an. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft würde sie Rost und seinem Team am liebsten den Rücken kehren. Denn auch der Tänzer Dave Warschauer gehört zum Ensemble. Er ist der Vater von Simon, doch diese Tatsache hat sie bisher beiden vorenthalten. Denn Dave verlobte sich mit einer anderen Frau, bevor Janina ihm damals überhaupt mitteilen konnte, dass sie ein Kind erwartete. Die Proben für die Aufführung laufen anders als geplant, denn der Starchoreograph Rost ist von einer schweren Krankheit gezeichnet und reagiert oft unkontrolliert, aggressiv und launisch. Er scheint völlig neben sich zu stehen. Plötzlich fehlt von einer Tänzerin jede Spur und wenig später wird auch Simon zum letzten Mal gesehen. Janina macht sich auf die Suche nach ihrem Sohn. Dabei dringt sie nicht nur immer weiter in die Gänge des stillgelegten Flughafens vor, sondern auch in die Tiefen der menschlichen Abgründe. Bald weiß Janina nicht mehr, wem sie noch trauen kann und ob sie ihren Sohn jemals lebend wiedersehen wird......
Meine Meinung
Karla Schmidts Psychothriller ist in drei Hauptteile gegliedert, die nochmals in einzelne Kapitel unterteilt sind. Er beginnt mit dem Ende. Hier wird man Zeuge einer düsteren und dramatischen Szene. Das Interesse an der Handlung ist damit sofort geweckt. Die folgenden Kapitel sind mit dem jeweiligen Tag der Handlung gekennzeichnet. Man erlebt das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven und steuert dabei auf die bereits gelesene, finale Szene zu. Außerdem kommt es noch zu einigen Rücksprüngen in das Jahr 1996. Nach und nach erfährt man Details aus der Inszenierung, bei der Janina den Tänzer Dave kennengelernt hat.
Von Anfang an herrscht eine düstere und beklemmende Atmosphäre. Man ahnt bereits früh die drohende Katastrophe, auf die unaufhaltsam zugesteuert wird. Der Handlungsort untermauert diese dunkle Ahnung. Er wird detailliert beschrieben, sodass man schon bald das Gefühl hat, dass man selbst in den zahlreichen Gängen und Räumen verloren gehen könnte. Schritt für Schritt folgt man den Protagonisten auf ihrem Weg, stets auf der Hut, da hinter jeder Tür etwas unvorstellbar Böses lauern könnte. Am liebsten würde man sich abwenden, doch dafür ist es bereits nach wenigen Seiten zu spät. Denn Karla Schmidt führt die Akteure der Handlung ein. Schnell wird klar, dass hier Charaktere aufeinandertreffen, die alles andere als durchschnittlich sind. Sie wirken abgedreht, krankhaft, egoistisch und intrigant. Ihre Fehler und Schwächen werden dabei deutlich herausgestellt. Fast alle scheinen am Rande eines Abgrundes zu tänzeln, nur wenige Schritte vom drohenden Absturz entfernt. Nach und nach offenbaren sich Geheimnisse, die lieber im Verborgenen geblieben wären. Abgestoßen, doch gleichermaßen fasziniert, beobachtet man die menschlichen Abgründe, mit denen man hier konfrontiert wird. Verführung von Minderjährigen, Drogen- und Alkoholmissbrauch, schmerzhafte Selbstverstümmelungen, Prostitution und schockierende sexuelle Neigungen werden thematisiert. Außerdem kommt es zu brutalen, eiskalten Handlungen, Mord und einer Entführung. Auf zartbesaitete Gemüter dürfte diese brisante Mischung eher abschreckend wirken. Die skurrilen Inszenierungswünsche des Choreographen Rost, der seine Hauptakteure in echte Schweinehäute einnähen lässt, sorgen zusätzlich für Gänsehaut.
Die Protagonisten und ihre Handlungen lösen größtenteils Entsetzen aus. Janina Zöllners tiefe Mutterliebe ist ein wahrer Lichtblick in all der Dunkelheit und sorgt ein wenig für Licht und Wärme. Doch auch sie gerät in den Sog der katastrophalen Ereignisse. Gemeinsam mit ihr, stellt man sich die Frage, wem man eigentlich noch trauen kann und welchen Preis man für das Leben des eigenen Kindes zahlen würde. Obwohl man am Anfang der Erzählung ja bereits das Ende lesen kann, schafft es Karla Schmidt problemlos, die Spannung durchgehend zu halten. Abwechselnd angetrieben durch Entsetzen und Faszination fliegt man förmlich über die Seiten. Man gerät in den Sog der Handlung. Dadurch fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen, bevor man die letzte Seite gelesen hat.
Dieser Psychothriller unterscheidet sich deutlich von den Thrillern, die ich normalerweise lese. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bereits ein Buch gelesen habe, in dem so viele krankhaft und abgedreht wirkende Personen vorkommen. Dieses Buch wird deshalb bestimmt ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Die einen werden es abgestoßen und entsetzt abbrechen, und die anderen, zu denen ich gehöre, werden sich auch abgestoßen fühlen, doch gleichzeitig der Faszination dieser Erzählung erliegen und gebannt dem Handlungsverlauf folgen.