Arno Geiger - Alles über Sally

  • Klappentext:
    Alfred und Sally sind schon reichlich lange verheiratet. Das Leben geht seinen Gang, allzu ruhig, wenn man Sally fragt. Als Einbrecher ihr Vorstadthaus in Wien heimsuchen, ist plötzlich nicht nur die häusliche Ordnung dahin: In einem Anfall von trotzigem Lebenshunger beginnt Sally ein Verhältnis mit Alfreds bestem Freund. Und Alfred stellt sich endlich die entscheidende Frage: Was weiß ich von dieser Frau, nach dreißig gemeinsamen Jahren? (von der Verlagsseite kopiert)


    zum Autor:
    1968 in Bregenz geboren, aufgewachsen in Wolfurt / Vorarlberg, 1993 Abschluss des Studiums der Deutschen Philologie, Alten Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Innsbruck, 1986 – 2002 Arbeit als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen, 1996 Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Arno Geiger lebt als Schriftsteller in Wolfurt und Wien. (von der Verlagsseite kopiert)


    Aufbau:
    364 Seiten in 11 Kapiteln; der überwiegende Teil wird aus der personalen Erzählperspektive Sallys geschildert, das 10. Kapitel, ein 41 Seiten-langer Satz, aus Alfreds Ich-Perspektive.


    Inhalt:
    Sally, Lehrerin, und Alfred, Museumskurator, sind seit über 30 Jahren verheiratet und haben drei fast erwachsene Kinder. Während eines Urlaubs in London, wo sie Sallys verwirrte Mutter besuchen, erhalten sie die Nachricht, dass in ihrem Haus in Wien eingebrochen wurde. Dieses Ereignis ist das Initial, um das Leben, das persönliche und das gemeinsame, neu zu überdenken und zu überlegen, wie die Zukunft aussehen könnte.


    Eigene Meinung:
    Was hat das Leben eigentlich noch zu bieten, wenn man 50 ist, sich in Beruf und Familie etabliert hat und alles so geworden ist, wie man es nie haben wollte? So sieht die Sache für Sally aus.
    Kann man sich in seinem eigenen Leben jemals sicher und behütet fühlen, wenn es Unbekannten schon gelingt, durch ein Fenster das Haus zu betreten und Gegenstände kaputt zu schlagen, an denen man hängt? Das empfindet Alfred.
    Nach dem Einbruch geht Sally die Folgen offensiv an: Sie räumt auf, putzt, streicht die Zimmer neu, verhandelt mit der Versicherung, während Alfred sich im Haus verschanzt und kaum vor die Tür zu gehen wagt, als müsse er das, was ihm geblieben ist, bewachen. Ihr Verhalten nach dem Einbruch ist jeweils symptomatisch für ihre Rolle in der Familie und die Zukunftserwartung.


    Sally erhofft sich, das von außen etwas Unerwartetes in ihren Alltag dringt und ihr ein neues beschwingtes Lebensgefühl und eine Erfrischung ihres eingefahrenen Trotts beschert, ja, im Grund sehnt sie sich wie ein junges Mädchen nach einem Märchenprinz, der sie ein Gefühl von Liebe spüren lässt, das sie Alfred gegenüber nicht mehr empfindet: Das Kribbeln im Bauch, die unbedingte Lust auf Sex und die Selbsterfahrung als schöne begehrenswerte Frau. Die Überraschungen geschehen, aber ganz anders als Sally sich erträumt hat.


    Alfred scheint der Behäbige zu sein, der akribisch jeden Morgen Tagebuch führt, dessen Gedanken um den Unbill des Lebens kreisen und dessen Liebe zu Sally ungebrochen ist. Die meisten Rezensionen sprechen von Alfred, der neben der starken, lebenshungrigen Sally schwach und stumpfsinnig wirkt. Ich möchte die Gegenthese aufstellen: Es sind vor allem Alfreds vermeintlich unattraktive Charakterzüge, seine Geradlinigkeit, seine unverbrüchliche Treue und seine Langmut, die das Familiengefüge zusammenhalten und Sally immer wieder erlauben, nach Hause zu kommen, wenn ihre Abwege in die Irre laufen. Alfred ist die Sicherheit und der Rückhalt, den ein quirliger, intuitiv lebender Mensch wie Sally braucht.


    Das große Thema des Buches ist die Liebe, die bleibt und die es aushält, den anderen nicht ausstehen zu können, sich zu ärgern und ihn zum Teufel zu wünschen; ein zweites gehört dazu: Älterwerden und der Kampf, um zu akzeptieren, wie schnell Tage und Jahre vorbeigingen, und dass man trotz zerbrochener Träume den Rest sinnvoll ausfüllen kann.


    Fazit:
    Achtung! Wer sich die Illusion von der großen, immerwährenden Liebe bewahrt hat, kann bei diesem Buch mit seinen Sehnsüchten in Kollision geraten; zu empfehlen für alte Ehe-Kempen. :eye::kiss::eye:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Oh, ich liebe dieses Buch!! (Wie ich ja überhaupt eine Schwäche für Arno Geiger habe!) Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie gut sich Arno Geiger in seine (meist weiblichen) Charaktere hineinversetzen kann. Schon bei "Es geht uns gut" fand ich das bemerkenswert.


    Was du über Alfred schreibst, finde ich interessant. Ich habe das im Nachhinein ganz ähnlich empfunden. Zuerst hatte ich eine regelrechte Abneigung gegen ihn und ich konnte nicht verstehen, warum Sally ihn nicht einfach verlässt. Und dann kommt dieser Monolog von ihm und plötzlich habe ich ihn mit völlig anderen Augen gesehen. Plötzlich wurde mir klar, dass auch er sich seine Gedanken macht, dass er nicht - wie es oft den Anschein hat - in seinem Schneckenhaus zurückgezogen nichts mitbekommt. Plötzlich habe ich ihn als das gesehen, was er wohl war: Der Mensch, der Sally Halt gibt, der Ruhepol in der Beziehung.


    Was mir auch sehr gut gefällt, ist der Einband. Genau so könnte Sally aussehen, oder?

  • Danke, Marie für die längst fällige Rezension! :thumleft:


    Ich bin ja auch Arno-Geiger-Bekenner und habe auch dieses Buch - wie all seine anderen - sehr gerne gelesen. Und wiedereinmal bewunderte ich den Schriftsteller für seine Gabe, Frauenfiguren darzustellen bis zu den innersten Gedanken und Beweggründen. Einfach großartig!
    Was mir allerdings bei diesem Buch aufgefallen ist - und deshalb auch ein Sternchen Abzug bei der Bewertung - ist ein etwas sprunghafter Stil! Einzelne Passagen, Dialoge (und va. Monologe) sind großartig, einfach atemberaubend, dazwischen verfällt Geiger aber oft in eine Schreibe, die mich an einen Kurs in "creative writing" erinnert, zu bemüht, zu gewollt, fast ein wenig konstruiert. Ich hatte das Gefühl, er "schreibt nicht frei von der Leber weg". Aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau!
    Zwischendurch blitzt sein Talent so richtig auf (und das hat er meiner Meinung nach beim "Alten König in seinem Exil" fast zur Vollendung gebracht).


    Frage an alle Geiger-Fans, die auch den "alten König" schon gelesen haben: Seht Ihr auch Parallelen zwischen der Sally und der Mutter im "Alten König"? Hat Geiger hier auch autobiografisches verarbeitet?

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Von mir aus bin ich nicht auf die Parallelen zwischen Sally und der Mutter gekommen. Aber ja, es gibt sie schon. Ich musste nur drauf gestubst werden. Ob Arno Geiger in „Alles über Sally“ ebenfalls bewusst autobiografische Aspekte verarbeitet hat, weiß ich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass Dinge, die einen Autor stark beeindrucken oder bewegen schon Niederschlag in seinen Bücher finden. Sie erfinden die Welt in ihrer Fantasie ja nicht völlig neu, sondern schöpfen auch aus ihren Erfahrungen und Erlebnissen. Ich fand es ja beeindruckend, wie gut sich der Mann Arno Geiger sich in die Frauenfigur Sally hineinversetzen konnte. Wenn er sich da vom Leben inspirieren lassen konnte, gereichte das sicher nicht zum Nachteil. Aber um es auf den Punkt zu bringen, auch wenn Autoren Werke schreiben und sich vehement gegen autobiografische Ansätze wehren, fließt natürlich aus ihrem Leben viel in diese Werke mit ein.

  • Ich weiß nicht ... ich wäre nicht auf Parallelen zwischen der Mutter im "Alten König" und "Sally" gekommen. Schon mal deshalb, weil Sally ja eigentlich eher Geigers Generation ist als die seiner Mutter (wenn auch nicht ganz). Und außerdem hat seine Mutter das eheliche Haus verlassen und ihr Glück anderswo gesucht, während Sally zweiteres zwar auch versucht, ersteres aber nicht durchzieht.


    Im übrigen ist das eine Frage, die ich mir kaum jemals stelle: Ob ein Buch nämlich autobiographisch ist oder nicht, weil ich es in den meisten Fällen für unwichtig halte.


    Thomas Galvinic z. B. hat bei seiner Lesung mehrmals betont, dass "Lisa" in keiner Weise autobiographisch ist; es muss also nicht sein, dass jedes Buch diesen Aspekt hat.

  • Ja, ich bin auch der Meinung, dass auf jeden Fall persönliche Erfahrungen etc. in jedes Buch einfließen, gewollt oder nicht. Der Gedanke / Querverbindung bei Geiger kam mir plötzlich nach der Lesung. Einerseits wurde er im Interview auch nach seiner Mutter gefragt, dann auch die Stellen im Buch. Und plötzlich dachte ich mir "was war denn da genau bei "Sally" ... und eigentlich wollte ich "Alles über Sally" nochmals lesen, wenn da nicht so viele andere Bücher wären .... Danke jedenfalls für Eure Rückmeldungen!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)