Günter Grass - Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung

  • erschienen August 2010 im Steidl-Verlag
    358 Seiten in 9 Kapiteln (von A bis F, K, U, Z) und Anhang mit Faksimile aus dem Original)


    Kurzbeschreibung (von Amazon kopiert):
    Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt.
    Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm auf einzigartige Weise als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Märchen-Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite: Familie und Verleger, Freunde, Verehrer und Verächter.
    Spielerisch-virtuos spürt Grimms Wörter dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Günter Grass manche Brücke in seine eigene Zeit.


    Als die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm im Jahr 1838 den Auftrag bekommen, ein deutsches Wörterbuch zu verfassen, wird diese Arbeit vor allem für Jakob zur Lebensaufgabe. Die Brüder wissen, dass ihre Lebenszeit nicht ausreicht, das Opus zu vollenden. (Tatsächlich wurde es erst in den 1960er Jahren als Gemeinschaftsarbeit ost- und westdeutscher Germanisten zu Ende gebracht, siehe hier.) Die Wortbedeutungen sind nebensächlich; die Brüder folgen vor allem der Etymologie jedes Wortes und forschen in literarischen Werken vom Althochdeutschen bis zu ihrer Gegenwart. Eine riesige Zettelwirtschaft wird bewältigt, Wilhelm schafft nur das D, Jakob stirbt während der Arbeit am F.
    Grass begibt sich zu ihnen, begleitet sie und nimmt Anteil am Werden des Lexikons auch über den Tod der Brüder hinaus.


    Diese "Begleitung" ist wörtlich zu verstehen: Grass spaziert mit ihnen durch den Berliner Tiergarten, hockt mit ihnen auf Parkbänken und am Schreibtisch, liest ihren Briefverkehr mit Verleger und Kollegen. Er räsoniert gemeinsam mit ihnen über Wörter zum jeweils aktuellen Buchstaben und macht Zusatzvorschläge: Worte, die es erst in der heutigen Zeit gibt.
    Doch Grass wäre nicht Grass, würde er nicht auch sich selbst zum Thema machen. Mal assoziativ, mal Bezüge konstruierend erzählt er in Einschüben Begebenheiten, Anekdoten und Taten seines Lebens. Mal todernst oder wütend, mal selbstironisch und betrachtend, aber immer: unbescheiden und der eigenen Wichtigkeit bewußt. Doch ein Unterton ist nicht zu überhören: Das Wissen, dass sein Tod lauert. Ich vermute, dass Grass während des Schreibens die Furcht plagte, das Buch nicht mehr beenden zu können.
    Auch die Buchstaben inspirieren ihn, erkennbar an den häufig verwendeten Alliterationen. Beim Buchstaben B erzählt er z.B. von der Freundschaft der Brüder mit Bettina von Arnim, von seiner Beziehung zu Heinrich Böll und seinem politischen Einsatz für Willy Brandt. Erwähnenswert sind die lyrischen Zwischentexte, wie man sie schon aus "Die Rättin" kennt, vom Autor "lyrische Engführung" genannt.


    Bei Grass war Sprache schon immer mehr als Transportmittel für den Plot. Seine Sprache, sein unverwechselbarer Stil sind es, die aus seiner Literatur Kunst machen. In diesem Buch hat er noch eine Schippe draufgelegt: Sätze mit dreimal ineinander verschachtelten Nebensätzen, ein eigensinniger Einsatz diverser Verbformen und eine bisweilen abenteuerliche Wortwahl - literarisches Barock im 21. Jahrhundert. So wird Lesen zur Arbeit und Arbeit zum Vergnügen.


    Ich hatte das Buch bereits dreimal begonnen und war nicht über Seite 30 hinausgekommen - zu sperrig schien es mir, als ich hörte, dass Grass beschloss, mit dem Romanschreiben aufzuhören, und dass "Grimms Wörter" sein letztes Buch bleiben soll (ob man ihm glaubt, ist eine andere Sache). Beim dritten Anlauf verbiss ich mich, kämpfte 100 Seiten lang, währenddem ich mir manche Passagen laut vorlas, und genoss es umso mehr, je länger ich las.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Wer sich für Sprachforschung interessiert und sich fragt, wie man in der Vor-Internetzeit überhaupt umfassende Wörterbücher erstellen konnte, dem kann ich das Buch von Simon Winchester Der Mann, der die Wörter liebte empfehlen, in dem es um das englische New Oxford Dictionary geht.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Wirklich eine sehr schöne Rezension, Marie. Keine Frage, dass ich das Buch lesen werde! Nach 1600 Seiten Thomas Pynchon schreckt mich nichts mehr so leicht, schon gar nicht einer meiner verehrten Lieblingsschriftsteller und für Sprache interessiere ich mich auch sehr. Da habe ich schon einige Brocken gelesen und oft nichts verstanden. ?(

  • Irgendwann im Frühjahr las ich beim Frühstück in der Zeitung, dass Grass im Herbst in der Nähe lesen würde. Eine Stunde später sicherte ich mir telefonisch zwei Karten und las am nächsten Morgen, dass die Veranstaltung (750 Plätze) mittags bereits ausverkauft war. Ein halbes Jahr lang genoss ich Vorfreude, und letzte Woche war es soweit.


    Auf dem Parkplatz der Halle und den umliegenden Straßen Autokennzeichen von Düsseldorf bis Mannheim, aus Luxemburg, Belgien und den Niederlanden.
    Fünf Minuten vor Einlass eine Schlange, dass der Louvre neidisch werden könnte, Übertragungswagen des SWR und überall Reporter mit Kameras und Mikrophonen, als würden Papst und Merkel zusammen erwartet. Auf der Bühne der vollbesetzten und viel zu warmen Halle tummeln sich die lokale Polit-Prominenz und Reporter der regionalen Zeitungen und Blättchen. Im Mittelpunkt des Gewirrs aus Mikrophonen und Fotoapparaten sieht man den bekannten Hinterkopf über einem karierten Jackett, das vermutlich schon die Geburt des Blechtrommlers erlebt hat.
    Der Altersdurchschnitt des Publikum liegt bei 40 +, schätzungsweise zwei Drittel der Besucher sind Lehrer oder artverwandte Berufe.


    Dann verschwindet der Meister wieder, um pünktlich 20.03 Uhr einzuziehen. Tatsächlich erinnert mich das Szenarium an eine katholische Messe: Der Mann in der Mitte trägt ein Buch, wird flankiert von zwei Gehilfen, auf dem Bühnentisch stehen Rotwein und Gläser, nur die Kerzen und das Glöckchen fehlen.
    Eigentlich soll Ministerpräsident Kurt Beck seinen alten Partie-Kempen Grass mit einer Rede begrüßen, aber die Vorbereitung der Bundesratsdebatte über den Euro-Rettungsschirm rief ihn nachmittags nach Berlin; also schickte er einen Kultur-Staatssekretär, der sich ebenso wie der Veranstalter in seiner Begrüßungsrede wohltuend kurz fasst.


    Grass liest vom Stehpult aus "Grimms Wörter", erklärt zunächst den Untertitel "Eine Liebeserklärung" und spricht von seiner Liebe zur deutschen Sprache.
    Insgesamt drei Passagen liest er: Aus dem Buchstaben A (wie Asyl) die Vertreibung Jacob Grimms aus dem Königreich Hannover, aus D: er trifft die Brüder beim Spaziergang durch den Berliner Tiergarten, aus F: während Jacobs Totenrede auf seinen Bruder Wilhelm sieht Grass sich hinten im Saal zwischen Leipniz und Schleiermacher sitzen.
    Nach jeder Passage kommt ein Glas Rotwein zum Einsatz: schluck! und weg!


    Grass liest hervorragend. Klar, laut, deutlich. Ich hätte nicht gedacht, dass seine Sprache, die ich mehr bewundere als die eines anderen Gegenwartsautors, in der gesprochenen Version dieselbe Kraft entfaltet wie beim Lesen.
    Unglaublich, dass ein Mann von 83 Jahren geschlagene 90 Minuten in voller Konzentration mit einem einzigen kleinen Abriss (das Buch klappte zu) bewältigt.


    Anschließend signiert er, bittet aber um Verständnis, angesichts des Massenansturms keine Widmungen in die Bücher zu schreiben. Ich habe zwar meinen Gesamtbesitz an Grass-Büchern - 10 - mitgebracht, nehme aber wegen der Schlange hinter mir und der vorgerückten Stunde nur drei mit nach vorne und drücke meinem Mann noch zwei in die Hand, darunter "Hundejahre". Grass erzählt ihm, dass er momentan an neuen Illustrationen zu diesem Buch arbeitet.
    Während er auf der Bühne energiegeladen und 20 Jahre jünger wirkt, sieht man ihm aus der Nähe das Alter und die Erschöpfung an.


    Eine Frage bleibt: Färbt er seine Haare?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • ich möchte Dir empfehlen, liebe Marie, bei einer Zeitung anzuheuern! Dein Bericht hat mich sehr, sehr gut unterhalten und war informativ obendrein!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Liebe Marie ,

    Danke für diese wunderbare Empfehlung und auch für den Simon Winchester- beide Bücher sind für mich und auch für meinen Mann, der die englische Sprache und Literatur sehr liebt, ganz besonders interessant. Beide Bücher wandern auf die Weihnachts-Wunsch-Liste !

    Ich bin immer froh, etwas zu finden, was nicht so „Mainstream“ ist .... :lol:

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • Ich hatte das Buch bereits dreimal begonnen und war nicht über Seite 30 hinausgekommen - zu sperrig schien es mir,

    Für mich war es der erste Roman von Grass, den ich las - und auch ich hatte etwas Mühe mit dem Einstieg. Ich habe durchgehalten, weil mich die Brüder Grimm und das Entstehen des deutschen Wörterbuchs interessieren, aber seine Sprachverliebtheit (Stichwort Alliterationen) und "lyrische Engführung" führt dann Hin und Wieder zu Passagen im Text, mit denen ich Mühe hatte.

    Trotzdem gefiel es mir, dass Grass persönliche Erlebnisse, Erinnerungen mit einfliessen lässt. Dieses Einflechten macht den Roman meines Erachtens lebendiger und aktueller. Insofern vielleicht eine Empfehlung an Jene, die sich mit Grass Biographie auskennen und seinen Schreibstil mögen.

    Ich habe mich "durchgekämpft", fand es stellenweise interessant und dann wieder zu langatmig - und lasse andere Bücher des Autors noch ein Weilchen auf dem SUB.