Stewart O'Nan - Letzte Nacht / Last Night at the Lobster

  • Kurzmeinung

    Squirrel
    Ein letzter Tag auf der Arbeitund was er in Menschen auslöst, fein erzählt in leisen Tönen
  • Kurzmeinung

    Kapo
    Der letzte Tag eines Restaurants - hat mich berührt!
  • Warum nicht? Wenn der Autor einen 600-Seiten-Roman in der Art von "Letzte Nacht" geschrieben hätte, wäre ich auch nicht einverstanden. Aber so eine kleine, unscheinbare Geschichte - die übt (zumindest auf mich) einen besonderen Zauber aus.

    So habe ich es gemeint, dass ein Mehr an Handlung, an Vorgeschichten oder an Perspektiven die Geschichte aufgebläht hätten. :wink:

    Als "Unterschicht" würde ich Leute, die einen geregelten, wenn auch meist unterbezahlten Job in der Gastronomie haben, nicht nennen.

    Ja, nein, vielleicht! :wink: Armuts- oder Unterschichtsdefinitionen sind ja immer willkürlich. Eine tendenziell unterbezahlte Arbeit auf "dienender Position" ohne wirkliche Aufstiegschancen weist in meinen Augen schon in Richtung Unterschicht. Allerdings legst Du das Wort vielleicht stärker auf die Goldwaage als ich es in dem angesprochenen Satz tat: Es lässt sich gerne ohne große inhaltliche Einbußen durch "einfache, arbeitende Bevölkerung mit im Grunde gesicherten Einkommen, das sie keine großen Sprünge machen lässt und bei drohender Arbeitslosigkeit leicht zu finanziellen und sozialen Problemen oder 'relativer Armut' führen kann" ersetzen. Mir erschien es leider (bzw. als ich den Gedanken erst einmal im Kopf hatte, ging er nicht mehr weg), als wäre es die alleinige Absicht und fast auch das einzige Verdienst des Romans, diese so oder so bezeichnete Personengruppe mit einer inneren Gefühls- und Gedankenwelt auszustatten, auf dass auch der letzte Leser begreife, dass auch jene "unsichtbaren" Leute, die sie im Schnellrestaurant bedienen, Menschen mit Gefühlen, Stolz und Träumen sind. Da mir das aus eigenem Erleben und eigener Einfühlung allerdings schon längst klar war, kam mir der Roman - nunja - etwas banal vor.

    Ist nicht ein Abschied von einem Lebensabschnitt per se ein Klischee, auch wenn er tagtäglich von Tausenden erlebt wird und jeder weiß, wie er sich anfühlt?

    Ja. Und ein Klischee ist ja auch immer im Kern wahr. Tatsächlich habe ich gegen Klischees grundsätzlich ja gar nichts. Nur schien mir der Roman genau und gerade jene Klischees zu liefern, die ich im Vorfeld erwartete; die meine Erwartungshaltung an den Roman ausmachten. Wenn viele Settings und Handlungsszenen nach schon bekannten Mustern gestaltet sind und quasi nur Bilder abgerufen werden, die bereits durch US-Indie-Filme, Sozialfotografie oder andere Romane "gelernt" in meinem Kopf als Leser platziert sind, dann finde ich das persönlich eher schade - auch wenn die Szenen und Verhaltensweisen an sich stimmig und "wahr" sind. Das meine ich, wenn ich schreibe: Der Roman hat meiner Vorstellungswelt im Grunde nichts hinzugefügt, was nicht schon vorher da war. Ich schreibe ja aber auch, dass es viele prägnante Beschreibungen und sehr bildhafte gestaltete Szenen gibt, in denen in mikroskopischer Genauigkeit viel Menschliches und Wahrhaftiges steckt. Für eine Dreieinhalb-Sterne-Bewertung, die ja wohl "guter Roman mit Tendenz nach oben" meint (und werden im BT dreieinhalb Sterne nicht sogar wie vier Sterne gezählt?!), sind das dann ja doch sehr positive Kommentare meinerseits. Bin halt etwas unschlüssig, was den Roman angeht. :winken:

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Für mich war es der erste Roman von Stewart O´Nan, und sicherlich werde ich noch mehr von diesem Autoren lesen wollen. Mir hat die kurze Geschichte sehr, sehr gut gefallen.

    Ist die Erzählung rührend einfach oder schlicht banal?

    Ja, die Geschichte an sich ist banal. Aber deswegen nicht etwa langweilig. Rührend trifft es schon, und diese melancholische Atmosphäre des Abschieds kann man bereits erwarten, wenn man den Klappentext liest. Somit also keine Überraschungen, neue Bilder oder Impulse, aber für mich muss das auch nicht immer sein.

    Doch täte man das nicht auch und vielleicht strahlender, wenn man ihnen eine richtige Geschichte widmete, mit Haltung und Tiefe und Charakter?

    In der Kürze liegt bekanntlich die Würze :-, Aber ja, hätte man sicherlich machen können, aber dann wäre der Roman ein ganz anderer geworden, mit Schwerpunkt auf die Belegschaft, ihren gemeinsamen Verstrickungen und Erwartungen. In dieser Kürze bleibt es eine Momentaufnahme des Abends. Ein bisschen was wird angedeutet, die verflossene Liebschaft zwischen Manny und Jacquie ist Thema, beherrscht aber nicht die Geschichte. Und auch das hat mir gefallen: dass der Autor eben keinen voluminösen Roman verfasst hat, um einfach mal die letzten Stunden eines Teams auf der Arbeit zu beschreiben.

    Vielleicht ist der Roman auch nur etwas zu sehr konzentriert auf den Chef der Restaurant-Truppe.

    Das empfand ich gar nicht mal so. Klar, die Erzählung wird aus seiner Sicht erzählt, und zwangsweise steht er somit im Mittelpunkt. Aber auch die übrigen Mitglieder der Truppe fand ich lebendig erzählt.


    Aber wie so oft liegt es wohl auch an der Erwartungshaltung, wenn man ein Buch beginnt. Ich wollte einfach eine unterhaltsame Geschichte, etwas schwermütiges vielleicht, und das habe ich bekommen, und kann das Büchlein auch guten Gewissens weiter empfehlen.

  • dass der Autor eben keinen voluminösen Roman verfasst hat

    Na, man muss ja keinen voluminösen Roman verfassen, um den Figuren mehr Tiefe zu verleihen. :-, Aber ich merke, dass meine Lektüre schon zu lange her ist, um mich gut daran zu erinnern. Für meinen Geschmack wurde zu sehr an schon bekannte Stereotypen appelliert. Und das wird meiner Meinung nach den Figuren oder Menschen in vergleichbaren Arbeitssituationen nicht unbedingt gerecht. Mir war im Vorfeld schon klar: Ich will und werde jetzt eine leicht melancholische Momentaufnahme über den Abend eines Abschieds lesen. Mit dieser kanalisierten Erwartung muss von Autorenseite her gar nicht mehr so viel veranstaltet werden: Der Leser liest heraus, was er möchte. Ein Stimmungsbuch. Aber immerhin ein gutes! :)

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


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  • sicherlich werde ich noch mehr von diesem Autor lesen wollen

    Mach das! :thumleft: Ich finde O'Nans Bücher im Allgemeinen sehr gut, nur "Ganz alltägliche Leute" werte ich als Ausrutscher. Aber das verlinkte Buch trifft Deinen Geschmack sicher.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Vielen Dank für Eure Buchtipps, ich setze mir die Bücher auf die Merkliste.


    @Jean van der Vlugt, Du hast völlig recht. Es hat wohl auch eine Menge damit zu tun, was man im Vorfeld von einem Buch erwartet. Ich bin tatsächlich mit solch einer kanalisierten Erwartungshaltung an das Buch heran und habe mich gefreut, exakt das bekommen zu haben, was ich wollte. Ein Stimmungsbuch, das zur richtigen Zeit gelesen wurde.


    @SiriNYC, ja, ich lese meistens beim Berufspendeln. 1000-Seiten starke Bücher lese ich zwar gerne, aber ich schleppe die dickeren Bücher ungern herum. Und die kürzeren Bücher hat man rasch durch, der SUB sinkt, und falls einem das Buch nicht gefällt, hat man nicht viel Zeit verschenkt. Ich kam die letzten Tage kaum zum Lesen, jetzt nach drei Wochen mittendrin wieder mit Dickens „David Copperfield“ weiter zu machen, erfordert schon wieder etwas Willen. Ein Neustart mit einem dünnen Buch wäre einfacher...
    P.S. welchen Nachbarthread meinst Du?

  • Ich habe das Buch heute Abend in einem Rutsch gelesen und es hat mir sehr gut gefallen. Es war fast wie dabei zu sein- in diesem trostlosen Restaurant am Tresen zu sitzen und alles zu beobachten....

    die Perspektivlosigkeit, der dichte Schnee (der wohl das einzig unberechenbare ist), das kotzende Kind und die Demütigungen seiner Mutter, all diese Punkte machen mich schon beim Lesen depressiv. Aber Manny hält tapfer an seiner Routine fest, wie alle Arbeiten im Restaurant abzulaufen haben. Das gibt ihm Sicherheit und Struktur. Doch was passiert danach?

    Ich glaube, das ist eines der wenigen Bücher, in denen das Arbeitsleben, der Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, mit Kundschaft, usw. im Vordergrund steht. Mir fällt zumindest keines ein. Kennt ihr eines?

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • Ich glaube, das ist eines der wenigen Bücher, in denen das Arbeitsleben, der Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, mit Kundschaft, usw. im Vordergrund steht. Mir fällt zumindest keines ein. Kennt ihr eines?

    Auf Anhieb fällt mir zwar keines ein, aber ich könnte mir vorstellen, dass es da durchaus einige gibt.

    Das wäre vielleicht ein Fall für den „Buch gesucht“ - Thread :).

  • Irgendjemand hier aus dem Forum hat mir das Buch mal als "Winterbuch" empfohlen, ich weiß leider nicht mehr, wer es war. Nachdem ich vor kurzem "Halloween" von O'Nan entnervt abgebrochen habe, hatte ich nicht wirklich viel Hoffnung, dass mir das gefallen konnte und doch, oh Wunder: Ich mochte es! Mir gefiel diese kurze, einfache Geschichte und die Melancholie, die so ein Abschied bzw. eine große Veränderung im Leben ja meistens mit sich bringt, kennt ja wohl fast jeder. Egal ob ein Jobwechsel, ein Umzug oder ähnliches. Dazu der Schneesturm und das alles so kurz vor Weihnachten....das hat seine Wirkung getan. Ich mochte im Gegensatz zu "Halloween" auch die Sprache, die O'Nan benutzt hat. Einzig auf das Beziehungsgeplänkel hätte ich verzichten können.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • ...

    Ich glaube, das ist eines der wenigen Bücher, in denen das Arbeitsleben, der Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, mit Kundschaft, usw. im Vordergrund steht. Mir fällt zumindest keines ein. Kennt ihr eines?

    Es gibt recht viele Romane, die in Imbissen oder Dinern spielen, so kann man viele verschiedene Figuren auftreten lassen. Das wäre wirklich eine schöne Themenfrage: Restaurants oder Imbisse als Arbeitswelt ...

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das wäre wirklich eine schöne Themenfrage: Restaurants oder Imbisse als Arbeitswelt ...

    Oh ja, bin dafür :applause:.

    Ich habe eine Liste gestartet.

    https://www.buechertreff.de/bu…iner-oder-imbiss-spielen/

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


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  • Ich hab diese kurze Geschichte auch gelesen und finde sie wunderbar. Natürlich hat Jean van der Vlugt recht mit der Aussage, das hier einige Klischees und v.a. Erwartungen bedient werden, die wir als erfahrene Leser bereits im Kopf haben. Doch was ist mit unerfahreneren Lesern?

    Vor allem die Art, wie sie bedient werden, hat mir gut gefallen. Für mich stand diese Momentaufnahme eines letzten Abends, eines letzten Aufschließen, Kochens, (Be)dienen und sich Ärgern, Schließens im Vordergrund, und die ist Stewart O'Nan sehr gut gelungen. Er kann diese kleinen Dinge des banalen Alltags einfach schön und einfühlsam schildern. Ich habe keine Tiefenschärfe bei allen Figuren erwartet, vielleicht hat mich die fehlende Tiefe daher auch nicht gestört. Wobei sie bei Manny für mich durchaus vorhanden ist. Wir erleben diesen letzten Tag ja ausschließlich durch ihn, seine Gedanken, Gefühle, Handlungen und Worte.

    O'Nan stellt hier (wie eigentlich oft) Menschen in den Mittelpunkt, die sonst im Leben einfach als Randfiguren mitlaufen, die oft genug übersehen und nicht wahrgenommen werden. Er macht Menschen sichtbar, die in der Realität der auch nur etwas Bessergestellten nicht wirklich existieren. Dafür mag ich ihn einfach. :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier