Warum nicht? Wenn der Autor einen 600-Seiten-Roman in der Art von "Letzte Nacht" geschrieben hätte, wäre ich auch nicht einverstanden. Aber so eine kleine, unscheinbare Geschichte - die übt (zumindest auf mich) einen besonderen Zauber aus.
So habe ich es gemeint, dass ein Mehr an Handlung, an Vorgeschichten oder an Perspektiven die Geschichte aufgebläht hätten.
Als "Unterschicht" würde ich Leute, die einen geregelten, wenn auch meist unterbezahlten Job in der Gastronomie haben, nicht nennen.
Ja, nein, vielleicht! Armuts- oder Unterschichtsdefinitionen sind ja immer willkürlich. Eine tendenziell unterbezahlte Arbeit auf "dienender Position" ohne wirkliche Aufstiegschancen weist in meinen Augen schon in Richtung Unterschicht. Allerdings legst Du das Wort vielleicht stärker auf die Goldwaage als ich es in dem angesprochenen Satz tat: Es lässt sich gerne ohne große inhaltliche Einbußen durch "einfache, arbeitende Bevölkerung mit im Grunde gesicherten Einkommen, das sie keine großen Sprünge machen lässt und bei drohender Arbeitslosigkeit leicht zu finanziellen und sozialen Problemen oder 'relativer Armut' führen kann" ersetzen. Mir erschien es leider (bzw. als ich den Gedanken erst einmal im Kopf hatte, ging er nicht mehr weg), als wäre es die alleinige Absicht und fast auch das einzige Verdienst des Romans, diese so oder so bezeichnete Personengruppe mit einer inneren Gefühls- und Gedankenwelt auszustatten, auf dass auch der letzte Leser begreife, dass auch jene "unsichtbaren" Leute, die sie im Schnellrestaurant bedienen, Menschen mit Gefühlen, Stolz und Träumen sind. Da mir das aus eigenem Erleben und eigener Einfühlung allerdings schon längst klar war, kam mir der Roman - nunja - etwas banal vor.
Ist nicht ein Abschied von einem Lebensabschnitt per se ein Klischee, auch wenn er tagtäglich von Tausenden erlebt wird und jeder weiß, wie er sich anfühlt?
Ja. Und ein Klischee ist ja auch immer im Kern wahr. Tatsächlich habe ich gegen Klischees grundsätzlich ja gar nichts. Nur schien mir der Roman genau und gerade jene Klischees zu liefern, die ich im Vorfeld erwartete; die meine Erwartungshaltung an den Roman ausmachten. Wenn viele Settings und Handlungsszenen nach schon bekannten Mustern gestaltet sind und quasi nur Bilder abgerufen werden, die bereits durch US-Indie-Filme, Sozialfotografie oder andere Romane "gelernt" in meinem Kopf als Leser platziert sind, dann finde ich das persönlich eher schade - auch wenn die Szenen und Verhaltensweisen an sich stimmig und "wahr" sind. Das meine ich, wenn ich schreibe: Der Roman hat meiner Vorstellungswelt im Grunde nichts hinzugefügt, was nicht schon vorher da war. Ich schreibe ja aber auch, dass es viele prägnante Beschreibungen und sehr bildhafte gestaltete Szenen gibt, in denen in mikroskopischer Genauigkeit viel Menschliches und Wahrhaftiges steckt. Für eine Dreieinhalb-Sterne-Bewertung, die ja wohl "guter Roman mit Tendenz nach oben" meint (und werden im BT dreieinhalb Sterne nicht sogar wie vier Sterne gezählt?!), sind das dann ja doch sehr positive Kommentare meinerseits. Bin halt etwas unschlüssig, was den Roman angeht.