Erich Kästner - Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke

  • Aus dem Vorwort des Autors (die Erstveröffentlichung des Buches war 1936!):
    Wer Kopfweh hat, nimmt Pyramidon. Wer an Magendrücken leidet, schluckt doppeltkohlensaures Natron... Und in dem Schränkchen, das Hausapotheke heißt, halten sich Menschen ... überdies Baldrian, Leukoplast, Choleratropfen ... Aber manchmal helfen keine Pillen.
    Denn was soll einer einnehmen, den die trostlose Einsamkeit des möbilierten Zimmers quält oder die naßkalten, nebelgrauen Herbstabende? Zu welchen Rezepten soll der greifen, den der Würgeengel der Eifersucht gepackt hat? Womit soll ein Lebensüberdrüssiger gurgeln? Was nutzen dem, dessen Ehe zerbricht, lauwarme Umschläge? ...
    Die Einsamkeit, die Enttäuschung und das übrige Herzeleid zu lindern, braucht es andere Medikamente. Einige davon heißen: Humor, Zorn, Gleichgültigkeit, Ironie, Kontemplation und Übertreibung. ... Doch welcher Arzt verschriebe sie, und welcher Provisor könnte sie in Flaschen füllen?
    Der vorliegende Band ist der Therapie des Privatlebens gewidmet. Er richtet sich, zumeist in homöopathischer Dosierung, gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten des Existenz. ...


    Vor den Teil mit den Gedichten hat Kästner eine Gebrauchsanweisung eingefügt mit einem Register von A-Z. Dort kann man sich informieren, welches Gedicht man liest, "wenn das Alter traurig stimmt", "wenn man Erziehung nötig hat", "wenn man zu wenig von Kunst versteht" bis "wenn man sich über Zeitgenossen geärgert hat". Zu jedem Problem hat Kästner mehrere Gedichtvorschläge, um sich zu heilen. Für Zeiten, "wenn man zu wenig Geld hat" gibt es z.B. das Gedicht "Keiner blickt dir hinter das Gesicht" sogar in einer Fassung für Beherzte und einer Fassung für Kleinmütige.


    Wenn man sich die Probleme ansieht, die Kästner vor über 70 Jahren anspricht und die Rezepte, die er dazu schreibt, kommt der tröstliche Gedanke: Es gibt trotz vielfältigen Wandels von Gesellschaft, Politik, Lebensformen und Ideologien noch genug, was unverändert bleibt und was aus diesem Grund universell ist.
    Kästner bleibt auch für mich der erste Name zur "Bekehrung" von Lyrikmuffeln, weil er in seinen Gedichten einfache pointierte Geschichten erzählt.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Danke Marie
    habe es schon einige Zeit nicht in der Hand gehabt aber heute gleich hineingeschaut und es hat gewirkt :wink: wie immer, Kästners Rezepte sind die Besten, bei welcher "Depression" auch immer :loool:
    Mara

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Danke, Marie! Eine Schande, dass ich das noch nicht hatte. Ein Click sollte das jetzt geändert haben... :wink:
    Ich freu mich drauf...
    :winken: Schönes Wochenende

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Jipieh, ich habs u es gefällt mir sehr gut! Bin erstaunt, wie "aktuell" manche Dinge bleiben, auch wenn schon Jahre vergangen sind...

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Heute gefällt mir dies aus der Hausapotheke:


    Aufforderung zur Bescheidenheit



    Wie nun mal die Dinge liegen,


    und auch wenn es uns mißfällt:


    Menschen sind wie Eintagsfliegen


    an den Fenstern dieser Welt.



    Unterschiede sind fast keine,


    und was wär auch schon dabei!


    Nur: die Fliege hat sechs Beine,


    und der Mensch hat höchstens zwei.



    Und was wirkt morgen? :)

  • :cheers: wie wahr :loool: ein sehr schönes Gedicht

  • Kann ja auch richtig zynisch gemeint sein, weil er ein Zeitkritiker war.


    Ja, unbedingt! Zu der Zeit liefen (humpelten) doch noch viele Kriegsversehrte herum. Das war schon rabenschwarz bis bitter!
    Er nimmt ja selten ein Blatt vor den Mund. Auch die Gedichte, wenn die Ehe kaputt ist, schluck...


    Welch ein Spektrum, wenn ich so an das "Doppelte Lottchen", das "Fliegende Klassenzimmer" u an "Emil u die Detektive" denke, Wahnsinn!!

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Ich würde Kästners Kinderbücher und seine ironisch-kritische Literatur nicht trennen. Liest man die Kinderbücher unter dem Aspekt des Zeitkritischen, so kann man sie ganz neu lesen. Das Wunderbare an Kästner ist gerade diese Mehrschichtigkeit.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich würde Kästners Kinderbücher und seine ironisch-kritische Literatur nicht trennen. Liest man die Kinderbücher unter dem Aspekt des Zeitkritischen, so kann man sie ganz neu lesen. Das Wunderbare an Kästner ist gerade diese Mehrschichtigkeit.


    Marie

    Dem kann ich mich nur 100%ig anschließen.

  • ja, richtig, da sind wir uns einig. Man denke nur an Emils Mutter, die nicht weiß, wie sie über die Runden kommen soll, dagegen die Reichen im Überfluss in ihrer Villa...
    Die Aussagen sind immer die gleichen, aber nicht Viele haben es doch geschafft Leser aller Altersstufen damit zu bedienen!

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Ist Kästner deshalb immer noch aktuell? Ich glaube, ja.


    Zu dem, was wir gerade besprechen würde passen:


    Kästner, Kurzgefaßter Lebenslauf, Vers 5:


    Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle.


    Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen.


    Ich gehe durch die Gärten der Gefühle,


    die tot sind, und bepflanze sie mit Witzen.



    Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll - und genau das ist er.


    (Ich bekomme hier leider den Zeilenabstand nicht geregelt, tut mir leid)

  • Da läuft mir ein Schauer den Rücken hinab!!!


    Ich habe mich eben beim Blättern in diesem Gedichtband gefragt, ob der Titel "Lyrische Hausapotheke" gerechtfertigt ist?
    Z.B. steht in der "Gebrauchsanweisung (Register A-Z)
    Man lese,
    ... wenn das Alter traurig stimmt:


    Das Altersheim


    Das ist ein Pensionat für Greise,
    Hier hat man Zeit.
    Die Endstation der Lebensreise
    ist nicht mehr weit.


    Gestern trug man Kinderschuhe.
    Heute sitzt man hier vorm Haus.
    Morgen fährt man zur ewigen Ruhe
    ins Jenseits hinaus.


    Ach, so ein Leben ist rasch vergangen,
    wie lang es auch sei.
    Hat es nicht eben erst angefangen?
    Schon ist' s vorbei.


    Die sich hier zur Ruhe setzen,
    wissen vor allem das Eine:
    Das ist die letzte Station vor der letzten.
    Dazwischen liegt keine.



    Also, nun ja, als Heilmittel, wenn das Alter traurig stimmt :shock:
    Eher so im Sinne Hahnemanns: Gleiches mit Gleichem behandeln....
    So echten Trost finde ich nicht darin...

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Das Gedicht scheint mir auch kein Heilmittel zu sein, so doch ein Hilfsmittel.


    Es hilft mir zu sehen, dass die Stationen eines Lebens jeden Menschen betreffen und nicht nur mich. Das kann doch auch tröstlich sein.


    Insofern kann es in dem Apotheken-Angebot ein Verkaufsschlager werden. Die Bevölkerung altert!! Wieder ein Bezug dazu, dass Kästner aktuell bleibt.


    Oder ist das zu weit hergeholt?

  • Das Gedicht scheint mir auch kein Heilmittel zu sein, so doch ein Hilfsmittel.


    Es hilft mir zu sehen, dass die Stationen eines Lebens jeden Menschen betreffen und nicht nur mich. Das kann doch auch tröstlich sein.

    Das ist sicher wahr. Der Gedanke erinnert mich an Rilkes Herbstgedicht


    "Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
    als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
    sie fallen mit verneinender Gebärde.


    Und in den Nächten fällt die schwere Erde
    aus allen Sternen in die Einsamkeit."


    und jetzt diese Stelle meinte ich:




    "...Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
    Und sieh dir andre an: es ist in allen."


    Allerdings birgt das letzte Zeilenpaar dann doch Trost (ich spreche hier für mich persönlich!)


    "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
    unendlich sanft in seinen Händen hält."



    Es ist andererseits müßig Äpfel mit Birnen zu vergleichen und ich möchte auch gar nicht an Kästner rumkritisieren oder so etwas in der Art, ich stelle nur fest, dass er oft sehr nüchtern und mit einer gewissen Schärfe schreibt. Er bleibt schonungslos bei der Realität und hält auch noch die Lupe drauf. Auch das hat sehr viel Reiz!

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Wohl ist es genau diese Schärfe und das Nüchterne, was so manchen Charakter, auch im Alter vor einem Altersheim sitzend, erheitern kann.
    Da geht wohl ein jeder anders mit um.



    Dieses Buch ist gut zum Verschenken, kann ich mir vorstellen! :D