Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff

  • Kurzmeinung

    Maesli
    eine eigenwillige Geschichte einer eigenwilligen alten Dame
  • Kurzmeinung

    Abroxas
    Doppel- und dreifachbödig, raffiniert und weise - Brillant
  • Das Philosophenschiff hat in mir die Erwartung geweckt, eine interessante und ungewöhnliche Lebensgeschichte zu erfahren, die philosophische Fragen aufwirft und eine andere Sichtweise auf das Leben zeigt. Diese Erwartung wurde von dem Buch nicht erfüllt, weshalb ich es nicht wirklich weiterempfehle. Es ist okay zu lesen, ist stellenweise interessant, aber insgesamt einfach zu wenig aussagekräftig.

    Der Hauptcharakter ist Anouk, eine alte Frau und renommierte Architektin, die über ihre Flucht aus Russland in ihrer Kindheit berichtet. Man erhält ein paar wenige Einblicke in das Leben in Sankt Petersburg kurz nach dem Sturz des Zaren. Dabei liegt der Fokus auf der gebildeten und überprivilegierten Schicht. Die Familie wird auf einem Schiff ins Exil geschickt und muss Ängste vor Verrat und Tod durchstehen. Dabei lernt Anouk in der Vorstellung des Autors Lenin kennen. Diese Begegnung ist der Aufhänger des Buchs, hat diesen Stellenwert jedoch nicht verdient. Das einzige wirklich Lobenswerte an diesem Buch ist für mich der Schreibstil.

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Das Philosophenschiff - Michael Köhlmeier“ zu „Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff“ geändert.
  • 1922: 10 Personen befinden sich auf einem Luxusschiff, das von St. Petersburg über den Finnischen Busen nach Westen fahren wird. Die Passagieren sind Intellektuelle, Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, die auf Anordnung der jungen russischen Regierung ausgewiesen wurden. Sie könnten dort der Revolution gefährlich werden; wie ist nicht ganz klar, aber dennoch könnte eine Gefahr von ihnen ausgehen. Unter ihnen befindet sich als einzige Jugendliche die 14jährige Anouk mit ihren Eltern.


    Zu Ehren des 100. Geburtstages von Frau Prof. Anouk Perleman-Jacob wird im Mai 2008 in Wien ein Abendessen veranstaltet, zu dem auch Michael Köhlmeier eingeladen ist, auf ausdrücklichen Wunsch der Jubilarin. Sie hat ihn sich ausgesucht, damit einer über ihre Erinnerungen schreibt, dem man nicht glaubt.


    „Ich habe mich über sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien war. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Hier ist es also, das Werk des windigen Autors Michael Köhlmeier, der Dinge erfindet, die wahr sein könnten. Auch ich gehe ihm auf den Leim und google doch tatsächlich ob es Anouk Perleman-Jacob wirklich gab! „Jetzt hat er mich,“ denke ich,“ führt mich geschickt hinters Licht und schummelt sich eine Wahrheit zusammen, die ich ihm nicht nur abkaufe, sondern mit Genuss lese.“


    Der eher kurze Roman ist geschickt aufgebaut. Da gibt es zum einen die Rahmenhandlung, in der Anouk Perleman-Jacob auf den Schriftsteller trifft, ihn in ihr Haus einlädt und dazu überredet, ein Buch über eine Geschichte aus ihrer Kindheit zu schreiben. Zum anderen gibt es die Erinnerungen an ihre jungen Jahre und die Fahrt mit dem Philosophenschiff, prall gefüllt mit hochinteressantem geschichtlichen Wissen und Sprichwörtern und russischer Weisheiten, die ich mir alle aufgeschrieben habe, weil ich sie bestimmt einmal gebrauchen kann.


    Sprachlich flott und salopp erzählt Köhlmeier über die Treffen mit der Stararchitektin, dieser Hundertjährige, der man wenig vormachen kann und die es faustdick hinter den Ohren hat. Nüchtern und prägnant erzählt sie über den bolschewistischen Terror und den Wirrungen ihrer Kinder- und Jugendjahre, benennt Akteure, Sieger und Besiegte, Freunde, Überlebende und Getötete.


    Sie können sich das nicht vorstellen, wie es ist, wenn alles, was geschieht, auf wenigstens zwei Arten gedeutet werden kann. Wenn bei allem der Verdacht besteht, dass es nicht so ist, wie es scheint. Das alles Inszenierung sein könnte. Aber wir wissen nicht zu welchem Zweck und zu welchem Ziel …


    Und wie schon bei „Frankie“ bin ich überrascht vom Ende, das genauso ist, wie es Anouk Perleman-Jacob vom Schriftsteller verlangt hatte:


    „Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“


    Fazit

    Das Philosophenschiff von Michael Köhlmeier ist eine ausgefallene Geschichte einer exzentrischen alten Dame, die dem russischen Revolutionsterror entfliehen musste, um niemals mehr zurückzukehren, wo ihre Eltern einst ein geachtetes Leben führten.


    „Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt werden soll es.“

  • Ein kurzes wie komplexes Buch, das auf erzählerisch anspruchsvolle Weise eine erschütternde Geschichte erzählt.


    Eine Vorstellung davon, was den Leser an Fallstricken erwartet, erhält man, wenn man sich die Ausgangslage der Erzählung vor Augen führt. Geschildert wird uns die Erzählung durch Michael Köhlmeier selbst, der davon berichtet, dass er zu einem Festbankett zu Ehren der Architektin Anouk Perleman-Jacob eingeladen worden ist. Diese ist eine berühmte Architektin und wird anlässlich ihres 100. Geburtstags geehrt und gewürdigt, sie selber habe explizit darauf bestanden, dass Köhlmeier zur Feier kommt und etwas aus einem bestimmten Text vorliest. Dazu kommt es aber nicht, Perleman-Jacob hat andere Pläne mit dem Autor. Sie unterbreitet ihm bei einem Treffen am nächsten Tag, dass er über einen Teil ihres Lebens schreiben solle, der in den bisherigen Biographien, die vornehmlich ihrer Karriere als Architektin gewidmet sind, nicht aufgegriffen worden ist. Köhlmeier sei genau der richtige, wie sie erklärt:


    "Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaube man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaube Ihnen, wenn Sie schummeln. Das habe ich mir sagen lassen. Stimmt das?"


    Was für eine Ansage. Und wer an dieser Stelle kurz mal googelt, wird zweierlei festzustellen. Eine berühmte Architektin namens Anouk Perleman-Jacob scheint es nicht zu geben, gab es auch nie. Und hinter dem Begriff "Philosophenschiff" verbirgt sich ein tatsächliches Ereignis: Auf solchen Schiffen wurden 1922 unter Lenins Regime missliebige Intellektuelle aus Russland befördert und ins Exil verbracht.


    In den folgenden Tagen besucht Köhlmeier die etwas exzentrische Frau und lässt sie aus ihrem Leben erzählen. Trügerisch ist diese wörtlich wiedergegebene Rückschau, und sprunghaft. Perleman-Jacob ist nicht an einer einfachen Chronologie interessiert, sondern tastet sich erzählend an etwas heran, was über Jahrzehnte unausgesprochen lag, was so nicht einfach ausgesprochen werden kann. Ihr Leben und das ihrer Eltern ist eng verwoben mit den Ereignissen rund um die Expatriierungen über die Philosophenschiffe (wobei es hier eher um eines geht), auch mit den Leben Nikolai Gumiljows, eines prominenten Schriftstellers, der wegen des Vorwurfs konterrevolutionärer Aktivitäten von den Bolschewiki erschossen worden ist (Fakt), und Leonid Kannegiessers, der ein Attentat auf den Tscheka-Chef Moissei Urizki verübte (Fakt).




    Wahrheit und Fiktion liegen in diesem Roman nicht bloß nah beieinander, sie vereinen sich zu einer Melange, bei der unklar bleibt, welcher Teil den jeweils anderen an Ungeheuerlichkeit überbietet. Denn hinter den vertrackten erzählerischen Kniffen, den kontrafaktischen Volten und der angedeuteten Liebesgeschichte (mehr oder weniger) verbirgt sich eine Beschreibung des bolschewistischen Terrors und seiner absurden Auswüchse. Mit wenigen, konzisen Bildern findet Köhlmeier einen eindrücklichen, obgleich doppelbödigen Ausdruck für das Misstrauen, die Gewalt und die Verzweiflung, die dieses erbarmungslose System hervorgebracht hat, und erzählt en passant etwas über das prä-stalinistische intellektuelle Russland. Und findet zum Schluss zu einem überraschenden wie beeindruckenden Finale, das ich an dieser Stelle nicht verraten möchte (der verlagseigene Klappentext ist in der Hinsicht etwas freimütiger, verrät aber nicht das Finale).


    Ich kann es gar nicht anders schreiben: Auf diese vertrackte Weise zu erzählen und auf kleinem Raum Großes zu erzählen, ist einfach stilvoll. Auf meine bisherige Beschreibung zurückblickend, erscheint es mir schwer zu glauben, dass dieses Buch bloß 220 Seiten umfasst. Und doch fehlt es dem Buch an nichts, jedes Wort sitzt, es findet sich sogar Platz, einige Nebencharaktere zu konturieren. Ein großartiges Buch für den anspruchsvolleren Leser.

  • Dieses Buch ist vielleicht eines der ambivalentesten Leseerlebnisse der letzten Jahre und ließ mich mit meiner Meinung doch etwas fragen zurück.
    Als großer Fan früherer Werke von Michael Köhlmeier weiß ich um dessen literarisches Können, woran lag es also, dass mich sein neuester Roman "Das Philosophenschiff" nicht begeistern konnte?

    Die ersten Seiten dessen las ich noch mit großer Begeisterung, denn eines ist unumstritten, der Schriftsteller ist sicherlich ein großer Sprachkünstler und weiß nur wie wenig andere mit Sprache umzugehen, dass dieses Konstrukt wirklich künstlerisch wirkt.
    Doch bereits nach wenigen Seiten merkte ich, dass meine Augen zwar über die Seiten glitten, doch mein Gehirn das gelesene nicht wirklich wahrnahmen, denn mein Interesse ließ am Geschriebene schlicht nach.
    Ich weiß nicht woran es lag, doch diese Geschichte konnte schlicht mein Interesse nicht wecken oder mich bei den Charakteren halten.

    Vllt. war es die falsche Zeit für dieses Buch oder schlicht das falsche Buch für den falschen Leser. Dennoch möchte ich sagen, dass ich das schriftstellerische Können des Autors für unbestritten halte, weshalb ich dieses Buch dennoch mit 3 Sternen bewerte.

  • Vexierbild der Geschichte


    Wer mit dem Werk von Michael Köhlmeier vertraut ist, kennt seine Tendenz, Ereignisse und Figuren der Geschichte zu dekonstruieren, neu zu montieren - zur grenzenlosen Freude seines geneigten Lesepublikums.

    In seinem neuesten Roman richtet er seinen Blick auf ein Detail der Geschichte der Sowjetunion, der Deportation missliebiger Intellektueller, die womöglich den Erfolg der Revolution in Frage stellen könnten.

    Die Ereignisse im Sankt Petersburg des frühen 20. Jahrhunderts und auf dem Philosophenschiff vermittelt Köhlmeier aus dem Erlebenshorizont eines jungen Mädchens - doch verbalisiert aus der Erinnerung einer Hundertjährigen - eine Brechung, die die Bewertung durch den Leser in Frage stellt. In die gleiche Kerbe haut Köhlmeiers Kniff, einen durch seine Unglaubwürdigkeit, seine Unzuverlässigkeit charakterisierten Schriftsteller zum Sprachrohr zu machen.

    Schnell wird deutlich, dass die Situation auf dem Schiff als Laborbericht, als Versuchsanordnung, als Experiment zu lesen ist. Wie agieren Individuen, wenn es keine Aussicht auf eine Rückkehr in die vertrauten Verhältnisse gibt, die Zukunft jedoch eine umfassende Leerstelle darstellt?

    Köhlmeier dreht diese Schraube noch eine Windung weiter, wenn er es zu einer völlig unglaubwürdigen, fiktiven Begegnung zwischen der vierzehnjährigen Anouk und dem gänzlich verfallenen Vorreiter der Revolution, Lenin, auf diesem Schiff kommen lässt. Gleichfalls Passagier auf dem Weg in die Deportation, erscheint Lenin als obsolet, entbehrlich, als Relikt der Geschichte. Die vollkommene Relativierung aller Verhältnisse tritt ein, wenn das Opfer und der Verursacher der historischen Entwicklung sich als Freunde empfinden.

    Überdeutlich wird Köhlmeiers Perspektive auf die Geschichte in der skurrilen, überdrehten Szene am Schluss des Romans, wenn die endgültige Entsorgung des überlebten Revolutionärs dem Spiel des Zufalls überlassen wird. In perfider Weise werden die Bedingungen geschaffen, die sein Verschwinden ‚wie von selbst‘ ermöglichen.

    Selten war ein Roman von Michael Köhlmeier von so viel Pessimismus, Distanz, Relativierung geprägt.