Anne Berest – Die Postkarte / La Carte Postale

  • Kurzmeinung

    Marie
    Das Buch bekräftigt den derzeit oft gehörten Ruf "Nie mehr!"
  • Kurzmeinung

    Maesli
    Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte bringt viel Leid ans Tageslicht
  • Anne Berest ließ mich mit ihrem biografischen Roman tief in das Leben ihrer Familie eintauchen und versetzte mich damit Jahrzehnte in der Zeit zurück. Was ich erlebt habe, schildere ich dir im Text.

    Zitat

    Inhaltsangabe:

    Der literarische Bestseller aus Frankreich: »Ein großer Roman, der Fragen aufwirft.« Le Figaro

    Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinovitch. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mit Hilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein »ganz normales« Leben zu führen.

    Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der lange auf der französischen Bestellerliste stand. Die berührende Lesung übernimmt Sprecherin Simone Kabst.

    (Quelle: https://www.hoerbuch-hamburg.de/die-

    Meine Meinung zur Geschichte:

    Das Rätsel um die seltsame Postkarte hatte mich dazu gebracht, mir die Geschichte anhören zu wollen. Ich wollte wissen, woher sie kam und wer sie verschickt hatte. Momentan beschäftige ich mich zudem wieder verstärkt mit dem Holocaust, weshalb es ein guter Zeitpunkt für das Buch war. Anne Berest wählte einen sehr klaren Schreibstil und erzählte die Geschichte aus ihrer eigenen Sicht.


    Sie berichtete dabei von ihrer Mutter, wie diese die Postkarte fand und sie der Familie zeigte. Damit nahm das Mysterium seinen Anfang. Anne begann nicht sofort mit ihren Nachforschungen, zuerst wurde ihr von ihrer Mutter ein großer Teil der Lebensgeschichte der Familie Rabinovitch erzählt. Diese hatte bereits jahrzehntelang eigene Forschungen durchgeführt. Sie hatte viel herausgefunden, konnte jedoch nicht alle Lücken füllen. Vor allem was nach dem Krieg passierte war, musste Anne selbst herausfinden.


    Ich muss gestehen, dass mir das erste Drittel der Geschichte etwas zu ausführlich geschildert wurde. Dabei fragte ich mich, ob das wirklich sein musste. Später konnte ich mir meine Frage beantworten: Ja! Denn nur so konnte ich einen Eindruck der Rabinovitchs bekommen und deren Handeln, sowie den Familienverbund verstehen. Zwischen den einzelnen Mitgliedern herrschte eine besondere Dynamik. Jeder von ihnen hatte sein eigenes Leben, die sich immer wieder miteinander kreuzten. Sie trafen sich oder schrieben sich – ein Austausch war lange gegeben.


    Ab dem Mittelteil war ich tief in der Erzählung versunken und verfolgte aufmerksam, was berichtet wurde. Die Familie musste sehr viele Rückschläge erleiden. Immer wieder zwang sie der Judenhass zu einem Neuanfang. Am Schlimmsten wurde es, als Hitler an die Macht kam. Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen – ich lernte sie auf sehr emotionale Weise kennen.


    Das Hörbuch setzte sich im Verlauf wiederholt mit Antisemitismus auseinander. Das Ganze zeigt, wie der Hass, Vorverurteilungen, Blindheit und Lügen seit Jahrzehnten bzw. sogar Jahrhunderten die Gesellschaft beeinflussten. Selbst nach dem Krieg änderte es sich nur langsam und hält bis heute an.


    Das letzte Drittel verging wie im Flug. Die Schilderungen brachten mich zum Nachdenken. Vor allem die Ereignisse nach dem Krieg waren bezeichnend für die Verdrängung, die oft heute noch andauert. Es war schön zu sehen, dass sich die Überlebenden zurück ins Leben kämpfen. Wenngleich der Weg hart und beschwerlich war.


    Am Ende schaffte es Anne natürlich auszufinden, wer der Absender war und warum die Karte losgeschickt wurde. Für mich kam das abrupt, doch zeitgleich auch sehr emotional. Durch die Antwort wurde mir eine wichtige Erkenntnis zu teil. Kurioserweise fühlte ich mich nach dem Beenden seltsam. Genau kann ich das gefühl nicht beschreiben.Über 14 Stunden lang war ich in die Lebensgeschichte der Rabinovitchs eingetaucht, dann war das Hörbuch zu Ende. Es war komisch Anne nicht mehr zu begleiten.


    Meine Meinung zur Sprecherin:

    Simone Kabst las das Hörbuch sehr einfühlsam. Ihr ist es zu verdanken, dass ich gedanklich stark in die Geschichte involviert war. Das Einzige kleine Manko sehe ich darin, dass durch fehlende Betonung manchmal der Übergang zwischen der Erzählung der Mutter und den „Jetzt“ von Anne verschwamm. Dennoch hatte ich ein starkes Hörerlebnis.


    Mein Fazit:

    Die Familiengeschichte der Autorin hat mich tief bewegt und mich auf eine Zeitreise mitgenommen. Durch die Erzählweise und die Sprecherin Simone Kabst tauchte ich tief darin ein. Manchmal verschwammen die Grenzen zwischen Erzählung und „Jetzt“. Mein Hörerlebnis war äußerst emotional und gefühlsintensiv, weil ich direkten Anteil an den Geschehnissen nehmen durfte. Während dem Verlauf wurde der vorherrschende Antisemitismus immer wieder ein Thema. Familie Rabinovitch hat mich tief bewegt. Nach dem Beenden war es seltsam nicht mehr von ihnen zu hören.


    Ich vergebe 4 von 5 möglichen Sternen!


    Das Hörbuch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Meine Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst!


  • Verlagsinformation:


    Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben zu führen.


    Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.



    Mein Hör-Eindruck:


    Ein Requiem der besonderen Art!


    Anne Berest spürt dem Schicksal ihrer Familie nach. Auslöser ist eine Postkarte, die lediglich vier Namen enthält und damit an die vier Mitglieder der Familie erinnert, die interniert, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Schon die Mutter der Autorin hatte Nachforschungen zur Familiengeschichte angestellt, die sie im 1. Buch in einem großen Dialog der Tochter Anne erzählt.


    Hier entfaltet sich nun die erschütternde Geschichte einer großbürgerlichen und gebildeten jüdischen Familie, die mit der Flucht der russischen Urgroßeltern nach der Oktoberrevolution beginnt. Sie fliehen nach Riga und schließlich nach Palästina, wo sie sich mehr recht als schlecht als Landwirte durchbringen, bis der Sohn sich zur Ausreise nach Frankreich entschließt, in das Land der Menschenrechte, das Land von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er ist als selbständiger Ingenieur mit Patenten und eigener Firma erfolgreich, und seine Kinder besuchen renommierte Schulen, aber Frankreich verwehrt ihm mehrmals die Einbürgerung.

    Trotz aller Bemühungen bleibt er so der Unbehauste, und damit und mit dem Schicksal der Familie erinnert er das Bild des Juden Ahasver, der ruhelos umherirrt und keine Heimat findet.


    Voller Vertrauen in seine neue Heimat will er den wachsenden Antisemitismus nicht wahrnehmen und meint, der zunehmenden Entrechtung der Juden dadurch zu entgehen, dass er den Hauptwohnsitz der Familie in sein Landhaus in der Normandie verlegt. Eine Flucht kommt für ihn nicht in Frage, und so zieht sich die Schlinge zu: die beiden jüngeren Kinder werden abgeholt, von den Verwandten aus Polen treffen keine Nachrichten mehr ein, schließlich werden sie selber interniert und deportiert. Einzig Myriam, die ältere Tochter, kann der Vernichtung entkommen.


    Das 2. Buch spielt in der Gegenwart. An die Erzählung der Mutter schließt sich eine Art Krimi an, nämlich die Suche nach dem Absender der Postkarte, die alles ins Rollen gebracht hatte. Mutter und Tochter spüren in unterschiedlichsten Quellen dem Lebenslauf Myriams, der Großmutter nach. Auf Erzählungen der Großmutter können sie nicht zurückgreifen, weil die Großmutter schwieg, um die schrecklichen Erlebnisse nicht erneut zu beleben. Und weil sie, wie so viele andere Überlebende auch, ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern hatte.


    Wie ein großes Puzzle setzt sich so Stück für Stück das Schicksal der Familie zusammen.


    Dabei muss sich der Leser mit zusätzlichen beklemmenden Tatsachen auseinandersetzen. So erfahren wir, sehr verhalten erzählt, wie Franzosen ihre Mitbürger durch Denunziation in die Folterkeller der Gestapo und wie sich die Nachbarn am Eigentum der Familie nach deren Deportation bereichert haben. Der Leser erfährt auch von dem blinden Fleck im französischen Auge, der die Kollaboration vieler Franzosen, z. B. auch der Polizei und Verwaltungsbehörden, mit den Deutschen lange Zeit verschwieg. Und dass erst 1996 die Todesursache „gestorben in der Deportation“ und die Verfolgung aus rassistischen Gründen anerkannt wurde.


    Sehr beklemmend sind auch die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen die Tragödie ihrer Familie und ihr (laisiertes) Jüdisch-Sein auf iuhr eigenes Leben hat. Sie erzählt von ihren Ängsten und verleiht dem Phänomen deutliche Konturen, das man inzwischen als transgenerationale Traumaweitergabe bezeichnet.



    Und zusätzliche Aktualität bekommt durch den nicht nur in Frankreich wieder zunehmenden Antisemitismus.


    Wie Anne Berest diese Geschichte erzählt, ist ungemein packend. Das Erzählen der Familiengeschichte wird immer wieder von Fragen unterbrochen und damit immer in die Gegenwart hineingezogen; dazu trägt auch bei, dass die Mutter im Präsens erzählt. Damit gelingt es, die Personen nahe an den Leser heranzurücken, und diese Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart macht den Roman so lebendig.


    Fazit: ein beeindruckendes Buch darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt.

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    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).