Sabrina Janesch - Sibir

  • Meine erste Lektüre eines Romans von Sabrina Janesch. Sprachlich kunstvoll wird die Familiengeschichte der Ich-Erzählerin wie ein Familienalbum vor uns ausgebreitet. Wir erfahren von den verstörenden und verzaubernden Momenten ihrer Familie in Kasachstan, repräsentiert durch ihren Vater, seinen Vater und die Großeltern sowie seine heikkundige Tante und einem zweiten Erzählstrang erfahren wir von der Ich-Erzählerin von einer Kindheit in der Lüneburger Heide mitten unter anderen "Russlanddeutschen". Die Ereignisse, das Schicksal der Familie wird dabei so lebensnah erzählt, dass man bisweilen vergisst, dass es sich keineswegs um eine Autobiographie, sondern um einen Roman handelt. Die Grenzen verschwinden dabei wie ein Kamel in der endlosen Steppe Kasachstan. Die Lektüre hat mich gerührt, berührt und war mir eine kostbare Erfahrung.

  • Eri

    Hat den Titel des Themas von „Silier ein Roman von Sabrina Janesch“ zu „"Sibir" ein Roman von Sabrina Janesch“ geändert.
  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „"Sibir" ein Roman von Sabrina Janesch“ zu „Sabrina Janesch - Sibir“ geändert.
  • Eri Bitte denk beim nächsten Mal an die ISBN, damit dein Beitrag auch mit dem Buch verlinkt wird. Außerdem hab ich noch die Titelzeile angepasst. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Danke!


    Schönes Cover auch!


    Dann versuche es auch einmal mit den anderen Romanen von Janesch. Katzenberge hatte mich sehr angesprochen und wurde hier auch rezensiert.


    Eventuell hättest Du - nimm es mir nicht übel! - die Besprechung noch etwas ausbauen können...?

  • Sibir ist die Geschichte eines Mannes, der als 10jähriger mit seiner Familie von Stalin in die Steppe Kasachstans zwangsübersiedelt wird und in den 50ger Jahren als Rückkehrer nach Deutschland kommt, um sich in Mühlheide niederzulassen. Sibir ist aber auch die Geschichte seiner Tochter Leila, die ihrem Vater, der sein Gedächtnis zu verlieren scheint, nochmals in diesen dunklen Teil der eigenen Vergangenheit begleitet.


    Mein Vater Josef Ambacher setzte sich sein Leben lang gegen die Geister der Vergangenheit zur Wehr, die Dschinn der Steppe, wie er sie nannte.


    Sibirien ist ein fruchterregendes Wort, das die Erwachsenen für alles verwenden was im fernen, fremden Osten liegt. Dorthin werden Hunderttausende deutscher Zivilisten von der Sowjetarmee verschleppt, unter ihnen ist auch Josef Ambacher. Dort angekommen findet er sich in einer harten, aber auch wundersamen, mythenvollen Welt wieder und lernt, sich gegen die Steppe und ihre Vorspiegelungen zu behaupten.


    Da ist die Steppe, die Erdhütte, der Schneesturm, das Wolfsrudel, da ist der Hunger, die Kälte die übermenschliche Anstrengung. Das alles, zusammengekratzt und zusammengesetzt, das ist, in einem Wort, Sibirien.


    1990 in Deutschland, Josef Ambacher hat sich ein erfolgreiches Leben in Deutschland aufgebaut, wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Woge von Aussiedler die niedersächsische Kleinstadt erreicht.


    Neuankömmlinge, nicht Aussiedler. Er habe ihre Verlorenheit erspüren können, aber auch ihre Kleidung sei ihm vertraut vorgekommen, die Schuhe, die Koffer, die Tüten. Und noch etwas habe er wiedererkannt: Erschöpfung und Schicksalsergebenheit.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Dieser Roman bietet unheimlich viel: er ist Geschichtsunterricht, wenn er über Maria Theresias Siedlungspolitik, den Gräueltaten des Stalinregimes und von Adenauer erzählt; er unterhält, wenn er die Kindheit der jungen Leila im niedersächsischen Mühlheide widergibt, er bietet Einblicke in die Gesellschaft Kasachstans und Deutschlands; er erzählt über die eurasische Steppe, seinen Einwohnern und das Leben in dieser eigenartigen Zone, und er ist ein Familienroman, denn es geht um die Familie der Autorin.

    Und das alles ist toll geschrieben und überrascht mit Humor und Witz. Russlanddeutsche haben auch ein sonniges Gemüt, denke ich und erinnere mich gerne an den Roman „Nachtbeeren“ von Alina Penner.

    Obwohl sich die Handlungen nur auf zwei konkrete Jahre beziehen, eines ist das Jahr 1945 in Kasachstan und das andere 1990 in Deutschland, sind die Zeitspannen davor und dazwischen bis zur Gegenwart so geschickt mit eingeflochten, dass es trotz des vielen hin und her niemals kompliziert wird, der Geschichte zu folgen.

    Zweifelsohne packen mich die Erinnerung Josef Ambachers an seine in Kasachstans Steppe mehr als Leilas Jugend in Deutschland, denn ich bin dem Reiz dieser endlosen Weite literarisch erlegen, auch wenn ich überhaupt keine Ahnung haben kann, wie es sich tatsächlich anfühlt, dort zu sein.


    Dieser Schmerz, das behauptete mein Vater später, sei durchaus vergleichbar mit der Höhenkrankheit, die Wanderer in den Bergen befiel: nur eben nicht ausgelöst von Sauerstoffmangel, sondern vom Mangel an sich, das Sein ertrug das Nichtsein nicht, daher auch die Unrast aller, die das erste Mal die Steppe betraten.


    Fazit

    Sibir von Sabrina Janesch erzählt mitreißend und in leuchtenden Farben die Geschichte zweier Kindheiten, einmal in Zentralasien nach dem 2. Weltkrieg und einmal fast fünfzig Jahre später in Norddeutschland. Ein Roman, der mich in allem überzeugen konnte und der meine Neugier über Kasachastans Steppe geweckt hat.


    Der Blick geht nach vorn, antwortete Abraham Ambacher. Josef, versteht du das? Der Blick nach hinten macht dich kaputt. Du musst vergessen, was war, wer war. Brich mit dem Alten, geh hin zum Neuen. In der Vergangenheit liegt nichts Gutes für dich.

  • Geschichte und Geschichten


    Ein Kapitel deutscher Geschichte, das die meisten Leser reichlich ratlos zurücklassen dürfte, wird Gegenstand eines Romans.

    Wer ist denn schon während des Schulunterrichts, geschweige denn später mit der deutschen Besiedelung des Ostens, mit der grausamen Verfolgung dieser Minderheit durch das Sowjetregime während des 2. Weltkriegs, mit dem bundesrepublikanischen Angebot der Rückkehr ins Land der Väter in Berührung gekommen?

    Sabrina Janesch gelingt es, in einem feinen Geflecht alle Aspekte dieser Thematik zu verknüpfen. Souverän springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was bei der Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert.

    So bemüht sich die erwachsene Protagonistin, die verschütteten Erinnerungen des in der Demenz versinkenden Vaters wieder ans Tageslicht zu befördern, wozu sie als Teenager, in vertrautester Bindung zu ihm, die Jugendjahre in der sozialen Isolation in der norddeutschen Provinz erneut durchlebt. Die enge Beziehung zum Jugendfreund, mit ähnlichem biographischen Hintergrund wiederum weist zurück auf die vergangene Freundschaft des Vaters zum kasachischen Freund während der Deportation.

    Janesch legt eine ungeheure Sprachartistik an den Tag, die alle zeitlichen Ebenen dieses Romans ungemein plastisch hervortreten lässt. Die Kontraste der unterschiedlichen Lebenserfahrungen der einzelnen Personen ziehen den Leser in ihren Bann, historische Momentaufnahmen schaffen schroffe Gegensätze. Gekonnt, wie kleinste Mosaiksteinchen der Autorin den Anlass bieten, wieder und wieder einen rasanten Szenenwechsel zu vollziehen.

    Ein lohnendes Lektüreerlebnis für Leser, die sich von Geschichte ebenso wie von Geschichten fesseln lassen!


    Mein Urteil: 5 Sterne