Helga Glaesener - Das Kind der Lügen

  • „Das Kind der Lügen“ von Helga Glaesener habe ich als ungekürztes Hörbuch, Verlag Lübbe Audio, mit einer Spielzeit von 9 Stunden und 58 Minuten gehört. Gesprochen wird es von Christiane Marx. Es ist der zweite Teil mit Paula Haydorn.
    Der Prolog beginnt mit einer Hinrichtung, da fühlte ich mich ins Mittelalter versetzt. Aber es ist das Jahr 1929. Paula Haydorn arbeitet bei der Kriminalpolizei in Hamburg und hat es meist mit alltäglichen Banalitäten zu tun. Als Signe von Arnsberg in die Wache stürmt und hysterisch mitteilt, dass ihr Hündchen absichtlich getötet wurde, wird sie eher belächelt. Kurz danach ist sie wieder da, weil ihre Tochter und deren Kindermädchen entführt wurden. Signe ist völlig aufgelöst, wirkt verwirrt und zieht am nächsten Tag ihre Anzeige zurück. Die Männer denken, sie ist verrückt, aber Paule merkt die Angst einer Mutter. Dann wird die Leiche des Kindermädchens gefunden und die Situation spitzt sich zu. Die Handlung ist dramatisch und traurig.
    Die Weibliche Kriminalpolizei ist noch im Aufbau, aber in dieser Geschichte werden die Frauen größtenteils ernst genommen. Paula arbeitet meist mit ihrem Kollegen Martin Border zusammen, der auch in ihrem Haus wohnt. Das Verhältnis der beiden ist kollegial, obwohl auch einige persönliche Sympathien mitschwingen, die aber immer wieder ins Schwanken geraten. Martin ist ein sehr verschlossener Mensch, das Verhältnis zu seinen Eltern ist schwierig, daher hat er auch wenig Kontakt. Aber ich mag ihn sehr, er ist kompetent und lässt sich nicht so schnell einschüchtern.
    Auch Paula arbeitet sehr engagiert in ihrem Beruf. Damals war es noch nicht selbstverständlich, dass Frauen bei der Polizei arbeiteten und sie muss sich beweisen, was ihr aber sehr gut gelingt. Sie lässt sich auch nicht abschrecken, als es zu einem folgenschweren Zwischenfall kommt.
    Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Die Autorin kenne ich bereits von ihren historischen Romanen her und auch mit diesem Buch zeigt sie die Geschehnisse der Zeit sehr deutlich auf. Es herrscht Aufbruchsstimmung, die Polizei geht hart gegen Kommunisten vor, oft ohne Grund, und die Arbeit ist nicht einfach.
    Auch die Sprecherin hat mir wunderbar gefallen. Sie bringt die hysterische Stimme von Signe perfekt zur Geltung und spricht auch die anderen Charaktere sehr emotional.
    Das Cover gefällt mir auch sehr gut, es ist düster und wirkt geheimnisvoll.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Anett Heincke Hörbücher haben bei uns einen Bereich weshalb ich deine Rezension in einen eigenen Thread dort eingesetzt habe. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Helga Glasener hat uns hier einen sehr interessanten Krimi vorgelegt. Die Handlung spielt im Jahr 1929 und neben der Handlung kommen auch brisante Themen jener Zeit auch zu Tage. Dabei stellen wir fest, es ist nichts Neues unter der Sonne: Gewalt gegen Frauen und Kindern und Tieren ist ja heute noch weit verbreitet. Es geschieht aber nicht mehr im öffentlichen Raum. Damals, 1929, wurde das absolut öffentlich ausgetragen: Ein auf brutale Art und Weise getöteter Hund, ein gepeitschtes Pferd, ein paar in aller Öffentlichkeit sexuell belästigte Frauen? Aber meine Herren, wer wird sich so echauffieren? War doch nur Spaß, die Herren Studiosi haben nur Kurzweil betrieben, alles ganz harmlos. Oder?

    Im Nachhinein betrachtet frage ich mich, ob die Studenten zufällig da aufgetaucht sind? (ja, sie tauchen nämlich im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr auf). Zuerst wird Signes Hund getötet, Kurz darauf wird Paulas Kollegin und Freundin lebensgefährlich verletzt, sie erliegt dann ihren Verletzungen. Der Leiter der Spurensicherung hat einen Unfall, weil an seinem Auto herum manipuliert wurde. Alles nur Zufälle? Oder auch falsche Spuren, so von der Autorin gelegt, um den Leser zum Raten und Spekulieren zu animieren.

    Wo ich einige Fragen hätte: wieso können in Deutschland des Jahres 1929, im Jahr der

    Weltwirtschaftskrise und des erstarkenden Faschismus zwei lesbische Frauen offen

    miteinander leben und in der gleichen Behörde, sprich Kriminalamt arbeiten? Absolut

    unerhört für die Zeit. Aber vielleicht waren die Menschen noch toleranter als vier Jahre

    später?

    Die drei Familien, die wir hier kennenlernen dürfen, scheinen alle dysfunktional zu sein:

    Paulas Eltern können ihre Berufswahl nicht akzeptieren und wollen sie zurück “auf den Pfad

    der Tugend” bringen, sprich sie soll heiraten, Kinder kriegen und als Hausfrau ihre Erfüllung

    finden. Interessant, dass ausgerechnet Paulas Mutter, am Ende, als sie fast in die Luft

    geflogen wäre bei dem Anschlag auf dem Friedhof, zur Besinnung kommt und Paulas Beruf

    akzeptiert und gut heißt.

    Martins Eltern sind noch schlimmer. Obwohl Student, meldet sein Vater ihn bei den

    Rekrutierungsbüros heimlich an, Martin wird eingezogen, er muss in den Ersten Weltkrieg. Was für ein Vater macht so etwas? Riskiert das Leben seines einzigen Sohnes für was? Das deutsche Reich? Auch seine Sprüche im Buch lassen klar erkennen: Herr Bruder Senior ist ein Anhänger der NSDAP reinsten Wassers. Seine Mutter flüchtet sich in Liebesromane wie sie in der “Gartenlaube” gängig sind, baut sich ihre Welt genau nach diesen Romanen aus. So hat sie eine “Gesellschaftsdame”, von der sie träumt, sie und ihr Sohn sollen ein Paar werden, heiraten und glücklich bis ans Lebensende leben, wie in Märchen oder Trivialliteratur. Dass diese Dame ihrem Sohn ein Kind vorgetäuscht hat, 11 Jahre lang, spielt wohl keine große Rolle. Wer sein Leben nach Groschenromanen ausrichtet, geht über solche Betrügereien großherzig hinweg. Wie soll Martin mit diesen Eltern auskommen? Die Mutter ist in ihrer Verblendung wohl noch harmlos, die Verblendung des Vaters wird sich zukünftig böse auswirken.

    Dritte Familie, die auch zu diesem Kreis der dysfunktionalen Typen gehört, sind Signes Zieheltern. Signes Ziehmutter lässt kein gutes Haar an ihrer Ziehtochter. Mannstoll sei sie als Kind gewesen, wäre allen Männern nachgelaufen, sie hätte ihr Neugeborenes im Stich gelassen und wäre weggelaufen. und sie, Signes Zieheltern hätten nun auch ihren Sohn großgezogen, da der eigene Sohn in Amerika sei.

    Der Kreis schließt sich auf unerwartete Weise. Der Roman beginnt mit einer offiziellen

    Hinrichtung. Von Amts wegen müssen zwei der Polizisten, die in diesem Fall ermittelt haben,

    anwesend sein. Paula Haydorn und Martin Bruder sind offiziell die Zeugen der Hinrichtung.

    Und der Roman schließt mit den Folgen dieser Hinrichtung.

    Eigentlich haben wir es hier mit zwei Kriminalfällen zu tun: einmal die Folgen der Hinrichtung

    von Mette und zweitens die Entführung von Signes kleiner Tochter. Hinzu kommt noch die

    sich vielleicht und eventuell anbahnende Liebesgeschichte zwischen Paula und Martin. Auf eine Fortsetzung dieser Romanserie können wir hoffen. Vielleicht erfahren wir dann auch wie es mit Paula und Martin weitergeht.

    Christiane Marx macht einen phantastischen Job als Vorleserin in diesem Hörbuch. Die Bandbreite und Modulierbarkeit ihrer Stimme ist phänomenal. Vor allem, wenn die Autorin Signe mit anderen Personen im Buch zu Wort kommen lässt, kann man das sehr gut hören.