Charles Dickens - Little Dorrit (ab 02.01.2022)

  • Allerdings hätte ich im echten Leben grad gern ein wenig mehr von ihr

    Also da ist mir das aktuelle Wetter lieber als so schreckliche Hitze. :lol:

    Aber so ein bisschen Sonne mehr als jetzt wär doch schön. Bei mir scheint sie in Strömen :cry:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Vielleicht ist einer der Vater von Dorrit?

    :-k Also ich bin auch sehr gespannt, wie da die Fäden laufen.

    Klar ist, dass es bei Dickens Figuren kaum Grauzonen gibt. Gut und böse, oder in diesem

    Fall sympathisch und unsympathisch, sind klar zu erkennen und auch gewollt so dargestellt.

    Deine Bemerkung bringt mich auf die Frage, ab wann genau eigentlich "Grauzonen", also gemischte Charaktere, in der Literatur üblich sind. Meines Wissens erst in der sog. modernen Literatur, als man sich vom Helden verabschiedete.

    Jedenfalls fühle ich mich als Leser an der Hand genommen und weiß, wen ich nett finden soll und wen nicht.

    Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass Rigaud seinen Prozess nicht überleben wird - Cavaletto lauscht ja dem Lärm hinterher.

    Du meinst, er fällt dem Mob zum Opfer? Jesus :shock: ...

    Das Geschrei kam mir vor wie das Gekläffe einer Hundemeute, grässlich.

    Aber warum tritt er dann im 1. Kapitel so ausführlich auf? Und informiert uns über seinen Mord? Es kann doch nicht sein, dass er sofort wieder aus der Erzählung verschwindet?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Aber warum tritt er dann im 1. Kapitel so ausführlich auf? Und informiert uns über seinen Mord? Es kann doch nicht sein, dass er sofort wieder aus der Erzählung verschwindet?

    Deswegen hab ich ja geschrieben, dass man Dickens da nicht trauen kann - nur weil ich dieses Gefühl beim Lesen hatte, heißt das ja nicht, dass Rigaut wirklich aus der Geschichte verschwindet. Dickens ist für viele Überraschungen gut. 8)

    Deine Bemerkung bringt mich auf die Frage, ab wann genau eigentlich "Grauzonen", also gemischte Charaktere, in der Literatur üblich sind. Meines Wissens erst in der sog. modernen Literatur, als man sich vom Helden verabschiedete.

    Eine gute Frage, die ich leider nicht beantworten kann. :scratch: Ich hab zwar noch kein Buch von Fallada gelesen, aber was ich über die Rezensionen mitbekommen habe, hatte er bestimmt Grauzonen. Auch andere Autoren aus dieser Zeit hatten Charaktere mit Grauzonen. Mit Literatur der Jahrhundertwende kenn ich mich aber zu wenig aus, um es zeitlich weiter eingrenzen zu können.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Also da ist mir das aktuelle Wetter lieber als so schreckliche Hitze. :lol:

    Aber so ein bisschen Sonne mehr als jetzt wär doch schön. Bei mir scheint sie in Strömen :cry:

    Ich bin da voll bei dir - von mir aus knackig kalt und sonnig, aber diese trübe, nasse, graue Januar-Tristesse ist schon echt grässlich. :cry: Wenn es wenigstens schneien würde...seufz. (Ich muss wohl mal meine Tageslichtlampe wieder auf den Schreibtisch stellen). Immerhin konnte die Dickensche Sonnenbeschreibung mir etwas Wärme rüberbringen :drunken: , obwohl die Gluthitze ja wirklich sehr gnadenlos wirkte. Aber diese beschriebene Wasserlinie am Horizont in Verbindung mit dem Zirpen von Zikaden hat bei mir irgendwie auch mediterranes Fernweh ausgelöst. :lol:

    Aber warum tritt er dann im 1. Kapitel so ausführlich auf? Und informiert uns über seinen Mord? Es kann doch nicht sein, dass er sofort wieder aus der Erzählung verschwindet?

    Ich hatte aber irgendwie auch den Eindruck, dass Rigaut vielleicht schon relativ schnell wieder verloren gehen und gar nicht Bestandteil der Geschichte sein wird. :-k Vielleicht, weil er so großspurig und überheblich wirkt. Während Cavaletto im Leben zurechtkommt, sich im rechten Moment bescheiden verhält und sich so erfolgreich durchs Leben laviert. Die Schilderung seines Mordes könnte Dickens eventuell genutzt haben, um zu zeigen, was für Menschen dort im Gefängnis sitzen. :-k

    Übrigens hab ich bei amazon gesehen, Dass es eine Verfilmung gibt. Kennt die jemand?

    Ich habe noch nie ein Dickens-Verfilmung gesehen. :ergeben:

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Ich hatte aber irgendwie auch den Eindruck, dass Rigaut vielleicht schon relativ schnell wieder verloren gehen und gar nicht Bestandteil der Geschichte sein wird.

    Interessant, dann ging es also nicht nur mir so. Das wird wohl echt spannend, denn wenn Dickens neben dichter atmosphärischer Beschreibung etwas beherrscht, dann sind es viele Erzählstränge, die am Ende alle zusammengeführt werden.


    Hach, schön - ich freu mich gerade, wieder mit Euch in Dickens Welt zu reisen. :D

    viele Grüße vom Squirrel



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  • Die Schilderung seines Mordes könnte Dickens eventuell genutzt haben, um zu zeigen, was für Menschen dort im Gefängnis sitzen.

    Ah ich glaube ich hab das falsch verstanden ich dachte es sind Menschen VOR dem Gefängnis an denen er vorbei muss die so schreien....

    Wer keine Fehler macht, macht wahrscheinlich auch sonst nicht viel.

  • Deine Bemerkung bringt mich auf die Frage, ab wann genau eigentlich "Grauzonen", also gemischte Charaktere, in der Literatur üblich sind. Meines Wissens erst in der sog. modernen Literatur, als man sich vom Helden verabschiedete.

    Ich glaube, dass es diese Grauzonen schon sehr früh gab. Schauen wir auf die alten Legenden,

    und Mythen treffen wir recht oft auf diese Grauzonen. Mir fällt spontan die Geschichte von

    Ödipus und seiner Mutter/Ehefrau Jocasta ein. Auch die alte Geschichte von Circe enthält

    so einige Charaktere, die man nicht sofort als gut oder böse identifizieren kann. Wenn ich so

    überlege wird die Liste immer länger. Es gibt so einige gebrochene Helden in den alten

    Überlieferungen.


    ich dachte es sind Menschen VOR dem Gefängnis an denen er vorbei muss die so schreien....

    Ich habe allerdings auch den Eindruck, dass es die Meute vor dem Gefängnis ist, die ihm

    da Böses will. Ich lese mir das nochmal durch.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Matt Ruff - Lovecraft Country

  • Ich hatte aber irgendwie auch den Eindruck, dass Rigaut vielleicht schon relativ schnell wieder verloren gehen und gar nicht Bestandteil der Geschichte sein wird.

    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Dickens sich so viel Mühe mit der Beschreibung dieser beiden Menschen gibt, ohne den Gesamtroman im Auge zu haben! Gerade die Beschreibung, wie dieser Hochstapler und Mitgiftjäger seine Frau tötet - das muss doch etwas bedeuten!

    :lol: Das macht mir wieder höllisch Spaß mit Euch...!

    Mit Literatur der Jahrhundertwende kenn ich mich aber zu wenig aus, um es zeitlich weiter eingrenzen zu können.

    Da kommen wir wieder von Hölzchen auf Stöckchen... Und was die griechischen Sagen angeht: auch wenn sie ihre Macken hatten, waren es doch Helden und keine alltäglichen Menschen - jedenfalls würde ich Odysseus nicht als gemischten Charakter bezeichnen wie z. B. Ripley Bogle. Ich befürchte, das ist ein Dissertationsthema.

    Ah ich glaube ich hab das falsch verstanden ich dachte es sind Menschen VOR dem Gefängnis an denen er vorbei muss die so schreien....

    Das hast Du richtig verstanden. Das Missverständnis liegt in der Formulierung "seines Mordes". Damit ist nicht seine Ermordung gemeint, sondern der Mord an seiner Frau. :winken:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich befürchte, das ist ein Dissertationsthema.

    Oh ja. Und eine Gutes dazu. :wink:


    Gerade die Beschreibung, wie dieser Hochstapler und Mitgiftjäger seine Frau tötet - das muss doch etwas bedeuten!

    :lol: Das macht mir wieder höllisch Spaß mit Euch...!

    Da bin ich ganz bei dir. Ich bin mir recht sicher, dass beide Personen weiter im Spiel

    bleiben, auch wenn das Setting des Romans sich von Frankreich nach England bewegt.

    Die einfach verschwinden zu lassen passt nicht zu Dickens Handlungsaufbau.

    Weiter geht es mit Kapitel 2 und den so praktisch veranlagten Meagles.......... :)


    Und ja, Dickens ist immer ein Winter Highlight.............. :applause:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Matt Ruff - Lovecraft Country

  • den so praktisch veranlagten Meagles

    eine Art Familie wie sie Dickens ja schon öfter mal vorgestellt hat - mich erinnern sie an diese eine Familie aus Copperfield :lol:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • ich dachte es sind Menschen VOR dem Gefängnis an denen er vorbei muss die so schreien....

    Das hast Du schon richtig verstanden. Und wegen des Geschreis spekuliere ich ja auch, dass Rigaut eventuell schon wieder aus der Geschichte verschwunden sein könnte. Es klang nicht danach, dass die Meute ihm Mut machen wollte.

    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Dickens sich so viel Mühe mit der Beschreibung dieser beiden Menschen gibt, ohne den Gesamtroman im Auge zu haben!

    Ganz sicher hat er den Gesamtroman im Auge. Das bewundere ich ja auch so sehr: da setzte er sich immer wieder hin, begann einen Roman in Zeitschriften über einen jahrelangen Zeitraum zu veröffentlichen und hatte trotzdem immer das große Ganze im Blick. Er hatte dazu ja keinen Computer, in dem er schnell und einfach Passagen ändern und anpassen konnte, er machte alles mit Notizen von Hand und seinem Kopf. :pray:

    Ich befürchte, das ist ein Dissertationsthema.

    Fang an :loool: Ich lese gerne Korrektur :-,

    Dickens ist immer ein Winter Highlight....

    Und für mich ist es mittlerweile so, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, Dickens zu einer anderen Zeit zu lesen. Dickens ist für mich:

    • Leserunde mit Euch :D
    • Freude auf eine tolle Geschichte in wunderbarer Sprache
    • im Winter
    • eingekuschelt auf der Couch
    • draußen Wintersturm und schlechtes Wetter
    • tolle Diskussionen im Warmen
    • Spekulieren was das Zeug hält :love:


    So, und jetzt begleite ich Familie Meagles weiter - gestern hab ich das Kapitel nicht fertig bekommen. Ich muss noch meinen Rhythmus finden, denn ich hab auch schon wieder die ersten Arbeitstage hinter mir. :ergeben: Aber immerhin weiß ich, dass wir uns immer noch in Marseilles befinden, in Quarantine Ground. 8)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ah ich glaube ich hab das falsch verstanden ich dachte es sind Menschen VOR dem Gefängnis an denen er vorbei muss die so schreien....

    Das hast Du richtig verstanden. Das Missverständnis liegt in der Formulierung "seines Mordes". Damit ist nicht seine Ermordung gemeint, sondern der Mord an seiner Frau. :winken:

    drawe hat natürlich Recht, sorry, wollte keine Verwirrung stiften. :uups:


    Zu Kapitel 2

    Weiter geht es mit Kapitel 2 und den so praktisch veranlagten Meagles..........

    :totlach: Also die sind ja wirklich eine ziemlich starke Marke :shock: - und äußerst praktisch: Nehmen sich praktischerweise ein Waisenkind als Gefährtin für ihre Tochter Pet und benennen es aus praktischen Gründen um: Harriet Beadle > Hatty > Tatty > Tattycoram #-o (das arme Mädchen #-o ) Aber so richtig baff war ich darüber, wie "praktisch" sie mit dem Tod ihrer 2. Tochter umgehen - sie projizieren ihr verstorbenes Kind einfach auf Pet, die ihrer Zwillingsschwester sehr ähnlich sah. Kann eine Art Selbstschutz vor dem Schmerz über den Verlust sein :scratch: , aber dennoch irgendwie makaber. Zumal doch jedes Kind, ob Zwilling oder nicht, eine eigene Persönlichkeit hat. Damit tun sie ihrer überlebenden Tochter in meinen Augen auch nicht unbedingt einen Gefallen.

    Die Abendgesellschaft fand ich ganz interessant, vor allem die alleinstehende junge Dame Miß Wade. Ist sie arrogant oder nur vorsichtig? Wieso reist sie alleine, wieso will keiner der Anwesenden mit ihr sprechen oder distanziert sie sich von ihnen? Ihr kühler Abschied von Pet kam zumindest fast schon einer unheilvollen Prophezeihung gleich. :scratch: Das Ende des Kapitels war überraschend, als Miß Wade besagte Zofe/Gesellschafterin Tattycoram trifft und Letztere zuerst gegen die Familie Meagles wütet und im nächsten Atemzug ihre Liebe zu Familie Meagles beteuert. Als wäre sie schizophren. :scratch: Oder möchte sie ihren Wutausbruch vor Miß Wade revidieren? :scratch: Dickens wirft in dem Kapitel ganz schön viele Fragen auf. :thumleft:


    Ich muss noch meinen Rhythmus finden, denn ich hab auch schon wieder die ersten Arbeitstage hinter mir.

    Geht mir auch noch ein wenig so, aber das pendelt sich bestimmt ein. Ich habe nur für mich schon festgestellt, dass Dickens nichts für mal eben ein paar Seiten nebenbei lesen ist. :lol:

    Liebe Grüße,
    Tine


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    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Mit Glühwein in der Dickens-Tasse und einer schönen Dickens-Karte als Lesezeichen versuch ich mich mal an Kapitel 2

    Dickens wirft in dem Kapitel ganz schön viele Fragen auf.

    Überraschend viele - was so leicht beginnt mit 'den praktischen Meagles' nimmt dann doch überraschende Wendungen. Die Meagles erinnern mich durch die Beschreibungen wirklich an die Micawbers, obwohl sie sich ja wieder gar nicht ähnlich sind. Das liegt wohl mehr an der humoristischen Beschreibung durch Dickens. Hier also die humoristische Note und dann ganz schnell und überraschend der Gegensatz in Person von Mr. Glennam. Wo Mr. Meagles ganz leicht und praktisch veranlagt durchs Leben zu gleiten scheint, scheinbar ohne Kummer und Sorgen, steht ihm in völligem Kontrast ein Mann gegenüber, der - durch die eigenen Eltern gebrochen - willen- und antriebslos dem Leben ausgeliefert scheint.


    Und zur verwöhnten Tochter Pet gibt es gleich zwei Gegensätze: Tattycoram und Miss Wade.

    Tattycoram wurde von den Meagles aufgenommen aus dem Thomas Coram Foundling Institute (die Thomas Coram Foundation for Children gibt es heute noch und die Gottesdienste dort wurden zu Dickens Zeiten wirklich wegen der Musik, d.h. wegen des Chores besucht; Dickens selbst hatte sich in der Kirche eine Bank gemietet), um Pet Gesellschaft zu leisten und auf sie (das lebensuntüchtige Kind) aufzupassen. Tattycoram, die eigentlich Harriet Beagle genannt wurde, bekam also zum neuen Leben gleich auch noch einen neuen Namen verpasst. Ich kann ihre Zerrissenheit, die am Ende des Kapitels aufgezeigt wird, verstehen: sie als die Jüngere ist die Aufpasserin auf die Ältere, gehört aber eben doch nicht zur Familie, was sich im Hotel deutlich zeigt. Und sie wurde ihrer bisherigen Identität beraubt und muss sich mit der übergestülpten neuen arrangieren. Da kann man Wutausbrüche bekommen. Ich gehe davon aus, dass wir Tattycoram noch öfter so erleben.


    Und jetzt interessiert mich, wie in der deutschen Übersetzung erklärt wird, dass Harriet diesen neuen Namen verpasst bekommt - im Englischen ist ein Beadle nämlich ein Angestellter einer Kirchengemeinde, der neben seinen Aufgaben in der Kirche auch Aufpasser in den berüchtigten Arbeitshäusern war. Deshalb lehnt Mr. Meagles diesen Namen ab.


    Miss Wade ist ein spannender Charakter, finde ich - ein tiefes, unergründliches Wasser. Sie hat ganz sicher bereits viel (und wohl wenig Gutes) erlebt und sich, von welcher Herkunft auch immer (und ich glaube nicht, dass es eine wohlhabende war) ein eigenständiges Leben aufgebaut. Sie isoliert sich von der Gesellschaft, durch die sie offensichtlich nichts Gutes erlebt hat und von der sie noch weniger Gutes erwartet:

    Zitat

    In our course through life we shall meet the people who are coming to meet us, from many strange places and by many strange roads, and what it is set to us to do to them, and what it is set to them to do to us, will all be done.

    In ihren Sätzen zu Pet wird sie regelrecht prophetisch, aber es klingt wirklich alles sehr düster was sie da von sich gibt; da bin ich ganz Studentine s Meinung. Aber in der Szene am Ende habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie Tattycoram aufgrund eigener Erfahrungen sehr gut verstehen kann, auch wenn diese sich vor ihr fürchtet. Vielleicht fürchtet sie sich auch, weil sie unbewusst erkennt, dass Miss Wade tief in sie schauen kann?


    wie "praktisch" sie mit dem Tod ihrer 2. Tochter umgehen - sie projizieren ihr verstorbenes Kind einfach auf Pet, die ihrer Zwillingsschwester sehr ähnlich sah.

    Das finde ich tatsächlich gar nicht seltsam. Ich kann mir gut vorstellen, dass Eltern ihre verstorbenen Kinder immer wieder quasi adäquat "gealtert" vor sich sehen - und erst recht, wenn da noch ein lebender Zwilling geblieben ist. In Pet sehen sie ja deutlich, wie sich das verstorbene Geschwister hätte entwickeln können. Allerdings geb ich Dir recht bei deinem Zweifel, ob sie Pet damit einen Gefallen tun.


    Besonders schön und typisch Dickens finde ich den abschließenden Satz des Kapitels:

    Zitat

    And thus ever, by day and night, under the sun and under the stars, climbing the dusty hills and toiling along the weary plains, journeying by land and journeying by sea, coming and going so strangely, to meet and to act and react on one another, move all we restless travelers through the pilgrimage of life.


    Ich hab bestimmt jetzt noch einiges vergessen oder vielleicht auch überlesen. Daher bin ich gespannt auf Eure Eindrücke zu diesem Kapitel.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • und hatte trotzdem immer das große Ganze im Blick.

    Eben! Genau deswegen wette ich, dass Rigaud wieder auftaucht. Er wird - hach, wie schön man wieder spekulieren kann! - mangels Beweisen freigesprochen werden müssen, schließlich war niemand Zeuge seines Mordes, und auch wir Leser vermuten den Mord nur.

    Er wird sich eine andere Identität zulegen, aber wir wissen ja: er hat eine weiche weiße Hand. Wir werden nicht auf ihn reinfallen, wir werden ihn sofort wiedererkennen :wink: .

    Die Abendgesellschaft fand ich ganz interessant, vor allem die alleinstehende junge Dame Miß Wade. Ist sie arrogant oder nur vorsichtig? Wieso reist sie alleine, wieso will keiner der Anwesenden mit ihr sprechen oder distanziert sie sich von ihnen? Ihr kühler Abschied von Pet kam zumindest fast schon einer unheilvollen Prophezeihung gleich.

    Eine merkwürdige Frau, die in ihrer Schroffheit und Düsterkeit so gar nicht zu der ausgelassenen Stimmung und dem hellen Wetter passt. Eine alleinreisende junge Frau in dieser Zeit? Und was macht sie als Engländerin in Marseille, wo die ganze Welt zusammenkommt?

    Mit Glühwein in der Dickens-Tasse und einer schönen Dickens-Karte als Lesezeichen

    :thumleft:

    Du zelebrierst Deine Lektüre aber sehr passend!

    Tattycoram wurde von den Meagles aufgenommen aus dem Thomas Coram Foundling Institute (die Thomas Coram Foundation for Children gibt es heute noch

    Danke für den Hinweis!

    Ich sehe das wie Du: sie wird ihrer Identität beraubt.

    Und noch schlimmer: sie wird durch diesen "praktischen" Namen ständig daran erinnert, dass sie ein Waisenkind ist und auf die gute Laune ihrer "Wohltäter" angewiesen wird.

    Recht herzlos und empathielos finde ich das, aber so war das damals wohl.

    Sie muss diesen Namen als ständige Demütigung empfinden, und vielleicht erklärt sich so ihr Wutausbruch.

    Verstehe ich das richtig: sie zeigt autoaggressive Züge?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • zu Kapitel 2


    Überraschend viele - was so leicht beginnt mit 'den praktischen Meagles' nimmt dann doch überraschende Wendungen.

    Diesen Eindruck hatte ich anfangs auch. Das ist alles so leicht und humorvoll geschildert

    und der Leser fühlt sich wohl mit den ach so praktischen Meagles. Wenn man aber

    genauer hinschaut, ist das was sie da mit Tattycoram praktizieren für unsere modernen

    Augen tatsächlich ein Raub der Identität. Die Meagles selbst und wohl auch die Gesellschaft

    der damaligen Zeit sehen das wohl eher als Wohltätigkeit, weil sie aus einem Waisenhaus

    in ein unbeschwertes, sicheres Leben wechselt.

    In Pet sehen sie ja deutlich, wie sich das verstorbene Geschwister hätte entwickeln können. Allerdings geb ich Dir recht bei deinem Zweifel, ob sie Pet damit einen Gefallen tun.

    Auch da muss man Zweifel anmelden, denn auch Pet wird keine eigenständige Persönlich-

    keit zugestanden. Sie muss sich an dem Bild ihrer toten Schwester messen lassen.

    Und noch schlimmer: sie wird durch diesen "praktischen" Namen ständig daran erinnert, dass sie ein Waisenkind ist und auf die gute Laune ihrer "Wohltäter" angewiesen wird

    Sie muss ihnen dankbar sein, weil sie ihr eine neues, besseres Leben schenken. Der Preis

    ist aber Abhängigkeit und Persönlichkeitsverlust. Ich bin mir sicher, dass sich daraus so

    einige Schwierigkeiten ergeben werden, vor allem wenn Mrs. Wade hier Einfluss nimmt.


    Mr, Clennam:

    Die Beschreibung des Mr, Clennam klingt ganz nach einer tragischen Figur. Ein einsamer,

    jeder Lebenskraft beraubter Charakter, der kein Ziel im Leben hat und willenlos durchs

    Leben stolpert.

    Zitat

    "I have no will. That is to say, he colored a little, next to none that I can put in

    action now. Trained by main force; broken, not bent; heavily ironed with an object

    on which I was never consulted and which was never mine; shiped away to the

    other end of the world before I was of age.........

    Das Reisen durch die Welt, von Mr. Meagles angepriesen, stellt sich hier ganz anders dar.

    Für Clennam war es ein Exil, begleitet von Eltern für die alles gewogen, gemessen und mit

    einem Preis ausgezeichnet werden musste. Das hat mich an "Hard Times" erinnert.


    Miss Wade würde man heute wohl als starke, unnachgiebige Frau betrachten. Jemand, den das Leben geprüft und hart gemacht hat. Die Dunkelheit die da in ihr brodelt macht sie

    aber auch einsam und misstrauisch. Ich empfinde sie als sehr interessanten Charakter, auf

    dessen Entwicklung man gespannt sein darf. Ein weiblicher Ripley Bogle mit dieser "kommt

    mir bloß nicht zu nah" Einstellung.

    Zitat

    I am self-contained and self-reliant; your opinion is nothing to me; I have no

    interest in you, care nothing for you, and see and hear you with indifference ....

    Genau wie Squirrel war ich beeindruckt vom letzten Abschnitt dieses Kapitels.

    .....move all we restless travellers through the pilgrimage of life.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Matt Ruff - Lovecraft Country

  • Könnt Ihr was erkennen wenn Ihr das Foto öffnet? Das ist der Plan von Marshalsea


    Edit: ja, es ist gut erkennbar :wink:


    Kapitel 2

    Eine merkwürdige Frau, die in ihrer Schroffheit und Düsterkeit so gar nicht zu der ausgelassenen Stimmung und dem hellen Wetter passt.

    Was ja gut zu den Gegensätzen passt. Aber sie ist wirklich sehr auffallend, da sie für die Zeit so untypisch beschrieben wird.

    Verstehe ich das richtig: sie zeigt autoaggressive Züge?

    Ja, das hab ich auch so herausgelesen.

    denn auch Pet wird keine eigenständige Persönlichkeit zugestanden.

    Pet empfinde ich überhaupt kaum als Person - und auch schon der Name deutet massiv darauf hin. Schließlich ist ein "pet" ein Haustier und so kommt mir die junge Frau auch fast vor.

    Sie muss diesen Namen als ständige Demütigung empfinden

    Umso mehr als diese Abkürzung Tatty zumindest damals wohl einen leicht negativen Unterton hatte


    Für Clennam war es ein Exil, begleitet von Eltern für die alles gewogen, gemessen und mit einem Preis ausgezeichnet werden musste. Das hat mich an "Hard Times" erinnert.

    Das war auch so düster wie Hard Times. Wie habt Ihr das empfunden: auf der einen Seite haben die Eltern also alles "gewogen, gemessen und ausgepreist" aber ich hatte den ganz starken Eindruck, dass die Eltern eher als Missionare denn als Händler unterwegs waren und das Wohlverhalten der Menschen "gewogen, gemessen und ausgepreist" haben. :-k

  • Kapitel 2


    Irgendwie finde ich das Buch bisher recht schräg. Ich bin noch nicht warm damit, kann man aber nach 2 Kapiteln vllt auch nicht erwarten...


    Kann mir jemand erklären, was tatty bedeutet?

    Ich seh das wie ihr sie tut mir echt leid. Sie hat viel Wut gegen die Ziehfamilie und darf sie nicht zeigen, rudert in ihrem Ausbruch ja auch gleich zurück. Ich denke, dass Miss Ward ihr Angst macht, weil sie sie "sieht" und das ist sie ja nicht gewöhnt.


    Pet hab ich als sehr lieb empfunden aber auch sehr verzärtelt. Klar, dass Miss ward ihr Angst macht und sie sich gleich an ihren Vater klammert.


    Clennam Kann ich grade noch garnicht so richtig einschätzen. Er ist ein stiller Mensch finde ich.


    So richtig kapiert hab ich das aber nicht. Die sind, weil aus einem anderen Land, in Zwangsquarantäne damit sie die Pest nicht verbreiten?

    Wer keine Fehler macht, macht wahrscheinlich auch sonst nicht viel.

  • Irgendwie finde ich das Buch bisher recht schräg. Ich bin noch nicht warm damit, kann man aber nach 2 Kapiteln vllt auch nicht erwarten...

    Das kommt hoffentlich noch. Es ist so typisch Dickens, erstmal mehrere Erzählstränge zu öffnen und die Personen ins Spiel zu bringen. Es kann also durchaus sein, dass in Kapitel 3 wieder jemand anderes auftaucht. Insofern ist es "schräg" weil zusammenhanglos.


    Kann mir jemand erklären, was tatty bedeutet?

    Tatty ist eine Kurzform von Harriet, aber tatsächlich hat es als Adjektiv auch die Bedeutung von schmuddelig. Es ist also nicht wirklich ein schöner Kosename auch wenn ich den Meagles nicht wirklich böse Absicht unterstelle. [-(

    Ich denke, dass Miss Ward ihr Angst macht, weil sie sie "sieht" und das ist sie ja nicht gewöhnt.

    Ein guter Gedanke - und sie sieht sie auch noch auf eine besondere Art als wisse sie, wie es ihr geht.


    So richtig kapiert hab ich das aber nicht. Die sind, weil aus einem anderen Land, in Zwangsquarantäne damit sie die Pest nicht verbreiten?

    Genau, alle aus östlichen Ländern mussten in Marseille in Quarantäne ehe sie an Land durften - wie die Einreisequarantäne grad jetzt zu Coronazeiten.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier