Denis Johnson - In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt / Seek: Reports from the Edges of America and Beyond

  • Der Autor (Quelle: Tropen): Denis Johnson wurde 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Offiziers geboren. Er hat zahlreiche Romanen und Gedichtbände veröffentlicht und Reportagen für die Zeitschrift „The New Yorker“ geschrieben. Zuletzt lebte er in Idaho und gilt als einer der wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er starb im Mai 2017.


    Klappentext (Quelle: Tropen): Ich habe eine Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments dabei, aber es fällt mir nicht leicht, darin zu lesen, denn im Augenblick lebe ich selbst in der Welt der Bibel – einer Welt der Krüppel und Monster, einer Welt der verzweifelten Hoffnung auf einen wütenden Gott, einer Welt der Verbannung, der Machtlosigkeit und des Wartens, Wartens und Wartens. Aber auch einer Welt der Wunder und der Erlösung. „Warum, wird man in hundert Jahren sagen, haben nicht früher alle Schriftsteller so hart recherchiert und so unaffektiert, unliterarisch-literarisch geschrieben wie dieser Wirklichkeitsfanatiker Johnson?“ (Maxim Biller, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)


    Englische, französische und deutsche Ausgaben:

    • Die Essays und Reportagen über Reisen durch Afrika, Afghanistan und Amerika - entstanden in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten - erschienen zuerst in verschiedenen Zeitschriften wie „Esquire“, „The New Yorker“ und „The Paris Review“.
    • Die amerikanische Originalausgabe in Buchform erschien 2001 unter dem Titel „Seek: Reports from the Edges of America and Beyond“ bei HarperCollins in New York (238 Seiten), neu aufgelegt u.a. 2002 (und später) bei Methuen in London.
      Enthalten sind folgende 14 Reportagen:
      „The Civil War in Hell“, „Hippies“, „Down Hard Six Times“, „Bikers for Jesus“, „Three Deserts“, „Hospitality and Revenge“, „Distance, Light, and Dreams“, „Dispatch from World War III“, „The Militia in Me“, „Run, Rudolph, Run“, „The Lowest Bar in Montana“, „An Anarchist's Guide to Somalia“, „Jungle Bells, Jungle Bells“ und „The Small Boys' Unit“.
    • Die französische Übersetzung von Pierre Furlan erschien 2003 unter dem Titel „Pistes: Reportages aux marges des Etats-Unis et ailleurs“ in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris (331 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell erschien als Teilausgabe der Originalausgabe im Jahr 2006 (in zweiter Auflage 2007) unter dem Titel „In der Hölle - Blicke in den Abgrund der Welt“ mit einem informativen Vorwort von Georg M. Oswald als Hardcover im Tropen-Verlag in Berlin (188 Seiten), neu aufgelegt 2008 als Rororo-Taschenbuch Nr. 24581 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in Reinbek bei Hamburg.
      Enthalten sind allerdings nur drei Texte, die bei Reisen nach Liberia im September 1990, nach Somalia im Februar 1995 und erneut nach Liberia im Winter 1992 für die Zeitschrift „The New Yorker“ entstanden sind. Wo sind die anderen Texte in Übersetzung?! Unverschämtheit! :wuetend:

    Inhalt:

    • Wo liegt Liberia? Ein Vorwort von Georg M. Oswald (18 Seiten)
    • Bürgerkrieg in der Hölle (OT: The Civil War in Hell) (26 Seiten) :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:
    • Ein Anarchisten-Führer durch Somalia (OT: An Anarchist's Guide to Somalia) (44 Seiten) :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:
    • Die Kindergarde (OT: The Small Boys' Unit) (91 Seiten) :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:


    Meine Einschätzung:
    Amerikanische Literatur-, Kultur- und Debattenzeitschriften schicken gerne einmal Schriftsteller auf Reportagereisen um die Welt. Ihre Hoffnung mag sein, so die Grenzen des Journalismus auf bahnbrechende Weise zu erweitern, auf dass sich ein ganz eigener, literarischer, gar poetischer Blick auf unsere gegenwärtige Realität in ihrem Blatt wiederfindet. Warum sie aber gerade einen so labilen, stillen und düsteren Dichter und Ex-Junkie wie Denis Johnson an einige der gefährlichsten Krisenherde der Welt entsandten, wo vielleicht eher ein abgebrühter, in der Sache informierter Journalist und Kriegsberichterstatter vonnöten gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Johnson ist sich jedoch der Gefährlichkeit seiner Reise und auch seiner im Grunde geringen Eignung als politischer Korrespondent sicherlich bewusst gewesen, was sich zwischen den Zeilen aus seinen Reportagen herauslesen lässt. Davon abgesehen handelt es sich um äußerst lesenswerte Texte.


    In „Bürgerkrieg in der Hölle“ nimmt Johnson an einer Pressekonferenz des liberianischen Rebellenführers Prince Johnson teil, der mit einer Reggae-Band „Rivers of Babylon“ trällert, bevor ein Video gezeigt wird, in dem der gestürzte Präsident Samuel K. Doe zu Tode gefoltert wird. Absurdität und Schrecken ganz nah beinander. :shock: Johnson versucht einen neutral berichtenden Ton zu wahren, endet jedoch auf dem realistischen Zweifel, ob sich die Weltöffentlichkeit über die Erosion der Menschlichkeit, die die sich in Liberia ereignet, groß ereifern wird.


    In „Ein Anarchisten-Führer durch Somalia“ spricht Johnson von sich selbst sowohl in erster als auch in dritter Person als „der Amerikaner“, Schriftsteller oder Journalist, als Idaho Mike, als „White Boy“, manchmal wird er auch für einen deutschen Brunnenbauer gehalten, was seine besondere Rolle als Beobachter von außen interessant persiflieren hilft. Kurz bevor die Blauhelm-Soldaten erfolglos das Land verlassen, reist er herum, schaut sich die Gegend an, besucht Mogadischu, wo General Mohammed Farah Aidid zu Gästen und Journalisten spricht. Es ist ein Text voll Angespanntheit und allgegenwärtiger Furcht, der Notwendigkeit, sich vertrauensvoll in die Hände anderer zu legen, und dem Zweifel, ob das die richtige Entscheidung darstellt, im Angesicht der undurchsichtigen Verhältnisse im Land: armselige Hütten, am Boden liegende Wirtschaft, überall junge Männer mit aufgepflanzten Maschinengewehren, jeder hat die Backen voll mit der milden Rauschdroge Kath. Es wird viel gewartet. Termine sind dehnbar. Unterschiedliche Leute kümmern sich um Idaho Mike, begleiten ihn, führen ihn herum. Nichts klappt auf Anhieb, aber „alles ist vorbereitet“. Ein Text unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Am Ende wird Johnson in diesem vom Bürgerkrieg zerstörten, von Klans und diversen Interessensgruppen in Stammesmanier beherrschten Landes, dem auch die Bemühungen der UNO keine Ruhe bringen konnten, das weltweite Ende des Nationalstaats-Modells als offenbar erscheinen:

    Zitat

    Sie wankt und bröckelt, aber noch steht sie, jene Massenhalluzination der Menschheit: die Vision eines Planeten vereinter Nationen, der große Irrglaube, dass der Nationalstaat nur jetzt noch nicht funktioniert, eines Tages aber funktionieren wird, und dass die Regierungen, die in jedem Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts durchschnittlich eine Million Zivilisten getötet haben, anstatt sie, wie es angeblich ihre Absicht war, zu schützen und ihnen zu dienen, ihre Kriege irgendwann beenden werden. (S. 92f., Hervorhebung im Original)


    Der beste Text ist jedoch mit Abstand „Die Kindergarde“ über Johnsons zweiten Liberia-Besuch im Winter 1992. Was den Text so gut macht, ist die Art, wie Johnson während des Schreibens das Ungenügende seines Blicks auf Afrika bewusst wird; sind die Momente, wenn sich hinter dem afrikanischen Reporter-Abenteuer der ganze Ernst der Lage abzeichnet, und Johnson begreift, dass auch er – in Verkennung der Lage – mit seinem Tun und seinen Worten andere Menschen in größte Not und Lebensgefahr bringen kann. Merke: Jeder Beamte und Soldat erwartet die geschickte Lüge! Sag niemals die Wahrheit, bringe nicht deine Leute in Gefahr, duck dich weg! Das ist kein Spaziergang, keine Ansammlung absurden Theaters und irrsinniger, unlogischer Momente, sondern blutiger Ernst. Als würde Johnson in seiner Person und in seiner Anwesenheit in Afrika zum ersten Mal all das moralisch Fragwürdige spüren können und leiblich verwirklicht finden, das den amerikanischen, europäischen, ex-kolonialen Blick auf Afrika ausmacht, der voller Generalisierungen ist, getrieben von Eigeninteressen und bestimmt von Versäumnissen und Überheblichkeit.
    Sein immer wieder verschobenes Interview mit dem selbsternannten Präsidenten Charles Taylor ist nicht einfach eine launige Reportage aus einem politischen Kindergarten, wo das größte Problem die Schwierigkeiten mit seinem Einreisevisum oder die lässige Arbeitsmoral der afrikanischen Bürokratie darstellt, sondern es ist eine Begegnung mit einem monströsen Schlächter und Kriegsverbrecher, wo sich jede distanzierte Haltung im Grunde verbietet, es sei denn vielleicht, sie kostet deinen Kopf.
    Es wird deutlich, wie sehr Johnson begreift, grundlegend moralisch fehlzugehen, gefangen in den falschen, verniedlichenden Afrikabildern des Westens, als ginge es nur darum, alte Klischees zu bedienen, wenn man als Korrespondent über die Lage in Liberia berichtet. Seine eigene verzweifelte Hilf- und Orientierungslosigkeit so authentisch einzugestehen, muss man sich auch erst einmal trauen: Das ist so unglaublich uneitel ehrlich und erschreckend geschrieben, kein Besinnungsaufsatz über eine am eigenen Leibe gemachte Erkenntnis, sondern fortgesetzt in den Spuren eines existenzialistischen Abenteuerromans à la Joseph Conrad erzählt: Als würde die Suche nach einem Mythos oder einem falschen Bild (hier im "Herzen der Finsternis"), geschürt durch Gewalterfahrung, Zweifel und Ortserfahrung eine innere Erkenntnisreise anstoßen, die einen die Gegenwart mit größerer Objektivität und Authentizität begreifen lassen. Eine moralische Erschütterung – und ein großartiger Text. :applause:


    Das Buch ist weniger ein zeitgeschichtlicher Hintergrundbericht, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem westlichen Afrika-Bild: aberwitzige, erschreckende, höllisch surreale Reportagen aus westafrikanischen Kriegsgebieten, in denen der Autor begreift – und dabei so orientierungslos umherstolpert wie die Figuren in seinen Romanen –, wie sehr er selbst, gefangen in kolonialen Afrika-Klischees, Teil des Problems ist. :thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die amerikanische Originalausgabe in Buchform erschien 2001 unter dem Titel „Seek: Reports from the Edges of America and Beyond“ bei HarperCollins in New York (238 Seiten), neu aufgelegt u.a. 2002 (und später) bei Methuen in London.


    Enthalten sind folgende 14 Reportagen:

    „The Civil War in Hell“, „Hippies“, „Down Hard Six Times“, „Bikers for Jesus“, „Three Deserts“, „Hospitality and Revenge“, „Distance, Light, and Dreams“, „Dispatch from World War III“, „The Militia in Me“, „Run, Rudolph, Run“, „The Lowest Bar in Montana“, „An Anarchist's Guide to Somalia“, „Jungle Bells, Jungle Bells“ und „The Small Boys' Unit“.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińscy (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die französische Übersetzung von Pierre Furlan erschien 2003 unter dem Titel „Pistes: Reportages aux marges des Etats-Unis et ailleurs“ in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris (331 Seiten).

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)

    Kellendonk "Buchstabe und Geist" (83/170)

    Figura/Mizielińscy "Wölfe" (89/262)


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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)