Wiederbelebung eines Gehängten

Buch von Denis Johnson, Werner Schmitz

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Wiederbelebung eines Gehängten wurde bisher einmal bewertet.

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Wiederbelebung eines Gehängten

    Der Autor (Quelle: Suhrkamp): Denis Johnson, geboren 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Besatzungsoffiziers, veröffentlichte 1977 seinen ersten Roman „Engel der Hölle“ (dt. 1985), dem ein großer Erfolg nicht zuletzt unter Schriftstellerkollegen beschieden war („Ein kleines Meisterwerk“, Philip Roth; „Ein erstklassiger amerikanischer Schriftsteller“, Robert Stone). 1985 folgte der Roman „Fiskadoro“ (deutsch 1990), 1986 der Roman „The Stars at Noon“. Außerdem veröffentlichte Johnson mehrere Gedichtbände. „Wiederbelebung eines Gehängten“ ist des Autors vierter Roman. Johnson lebte zuletzt in Idaho, USA, und starb im Mai 2017.
    Klappentext (Quelle: Suhrkamp): Leonard English, 34, alleinstehend, ist nach einem Selbstmordversuch von Kansas nach Cape Cod an die amerikanische Ostküste gezogen, um ein neues Leben als Privatdetektiv zu beginnen. In dem winterlich ausgestorbenen Ferienort hat er einem lesbischen Paar nachzuspionieren, dessen Beziehung ihn – gegen sein Vorurteil – tief berührt. Weil er sich schämt, schreibt er einen anonymen Warnbrief. Daraufhin verlässt eine der beiden Frauen die Stadt. Der anderen, Leanna Sousa, nähert er sich. Ein weiterer Auftrag bringt ihn dazu, einem Verschwundenen nachzuforschen, der in ähnlichen Orientierungsnöten wie er selbst zu leben scheint. In dessen aufgegebenem Büro findet er Hinweise auf einen rechten Geheimbund, dem auch sein Chef und der katholische Bischof angehört haben müssen. Die Spurensuche führt ihn nach Norden, wo er statt des Geheimbunds einen, wer weiß, harmlosen Veteranenclub ausfindig macht – und seinen Doppelgänger auf einem Berg, erhängt. Englishs Wahnwelt verdichtet sich. Zurückgekehrt, überrascht er Leanna mit ihrer Freundin. Es kommt zum Bruch, als English eifersüchtig und wütend preisgibt, dass er die beiden vor Monaten belauscht hat. Bald darauf läuft er als die groteske Karikatur eines Transvestiten durch das Städtchen und schießt auf den Bischof. Er landet im Gefängnis – und atmet endlich auf. Endlich erhält sein Leben, das ihm entglitten ist, einen Halt.
    Was ist Leben, was ist Tod? Was ist Wahn und was die Realität? Wie werden Erleuchtung und Umnachtung auseinandergehalten? Vor hundert Jahren, so kommt es ihm vor, waren die Unterschiede klar, aber English lebt in der Gegenwart, „in jenem Reich der Blinden also, wo kein Unterschied mehr zu erkennen ist zwischen oben und unten, Recht und Unrecht, Sex und Liebe, Männern und Frauen, ja nicht einmal zwischen Lebenden und Toten“. In diesem Reich der Blinden, das unser Reich ist, lebt English, ein verwunderter Wiedergänger, empfindsam und renitent, dem alle Selbstverständlichkeiten zerbrochen sind. Anrührend, mit einem aberwitzigen Humor, der nichts verspielt, hat Johnson den Roman einer amerikanischen Odyssee zwischen Wahn und Wirklichkeit geschrieben.
    Englische, deutsche und französische Ausgaben:
    Die amerikanische Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel „Resuscitation of a Hanged Man“ bei Farrar, Straus, Giroux in New York (256 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1992 bei Penguin Books in New York, 2001 bei HarperPerennial in New York, 2004 bei Methuen in London und 2012 bei Picador in New York. Die deutsche Übersetzung von Werner Schmitz erschien 1994 unter dem Titel „Wiederbelebung eines Gehängten“ als Hardcover mit Schutzumschlag im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main (275 Seiten). Die französische Übersetzung von Pierre Furlan erschien 2000 unter dem Titel „Un pendu ressuscité“ mit Illustrationen von Philippe Lardy im Verlag Editions Demoures in Essertines-sur-Rolle (289 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 2004 ohne Illustrationen in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris.
    Meine Einschätzung:
    Ein Mann auf der Suche nach Erlösung kommt außerhalb der Saison in einen Ferienort an der amerikanischen Ostküste. Lenny English ist ein denkbar instabiler Charakter, mal respektlos unhöflich, mal schüchtern und verzagt. Von einer kein Vertrauen einflößenden Hibbeligkeit, traut er sich keine eigenen Entscheidungen zu fällen, ist hoch sensibel, dadurch aber auch sehr eigensinnig. Ständig wird er in Situationen verwickelt, die er nicht wirklich zu verstehen scheint. Das lässt ihn kaum eintauchen in seinen neuen Wohnort, durch den er wie ein Beobachter von außen hindurch stolpert: Provincetown, ein Hotspot für Schwule und Lesben an der Spitze der Halbinsel Cape Cod, außerhalb der Feriensaison eher eine Geisterstadt – und Lenny, dem vor einem Jahr sein Selbstmordversuch missglückte, wandert wie ein Wiedergänger durch die Straßen, Cafés und Kneipen. Verwundert von einer Welt, in der auf nichts mehr Verlass zu sein scheint. Die Gegensatzpaare, die die alte Welt definiert haben, verschwimmen vor seinen Augen: Transvestiten in den Nachtklubs, schwule Priester. Die Frau, in die er sich wegen ihrer Schönheit verliebt, hat derzeit die Schnauze voll vom Leben als Lesbe. Dass sie mit Lenny eine auch sexuelle Paarbeziehung eingeht (wenn denn Lenny mal körperlich und geistig bereit ist), fördert eher seine Verwirrung als dass es ihn freut: Man kann doch nicht von einem Tag auf den anderen alles umschmeißen!
    Als Schutz hält er sich an eine reaktionäre, abweisende Weltsicht, geprägt von katholischem Schuldgefühl, auf die bald eine mittelschwere Paranoia aufsattelt, wenn er eine Verschwörung wittert, in die nicht nur sein Arbeitgeber, der Privatdetektiv und Radiomacher Ray Sands, sondern auch der Bischof verwickelt ist. Die Suche nach einem vermissten jungen Künstler, die Lenny manisch auch dann noch fortsetzt, als dessen Eltern längst eine andere Detektei beauftragt haben, entwickelt sich immer mehr zu einer Suche nach dem eigenen Selbst. Und so sitzt Lenny irgendwann in einem Fernbus neben dem Geist seines Doppelgängers und führt lautstarke Gespräche über die Liebe, die Angst davor, die Dinge beim Namen zu nennen, und über Märtyrer, die durch ihren Tod andere von ihrem Schicksal erlösen.
    Denis Johnson schafft es wie wenige Schriftsteller, das Abgleiten in den Wahnsinn in Literatur zu gießen. Die Charakterentwicklung in diesem Roman ist ein wirklicher Traum, weil Johnson keine „moralische“ Entwicklung von A über B nach C verfolgt, sondern der Psyche der Figur genügend Raum für Chaos lässt: Wie eine Flipperkugel, die je häufiger sie an die Slingshots prallt, nur umso stärker ins Rumspringen gerät. Nicht immer verständlich, einen Schritt vor, zwei zurück, aber im Grunde nachvollziehbar. Authentischer kann man die Orientierungs- und Wurzellosigkeit einer verwundeten Seele meiner Meinung nach kaum in Worte kleiden. Lennys Weg nach Erleuchtung führt nur zu immer größerer Selbstverwundung und der Entfremdung von der Umwelt. Erst die Begrenzung seiner Lebenswelt am Ende bereitet Lenny Erleichterung und Gelassenheit: Sobald sich sein Radius verringert und die Welt vereinfacht und geregelt erscheint, kann er aufatmen.
    Ein beunruhigend guter Roman über einen instabilen, verlorenen Charakter mit infantilem Gefühlshaushalt und seinen Besessenheiten, Schutzbehauptungen und sozialen Unpässlichkeiten: Wie Wahnvorstellungen eine unübersichtliche Welt erklären sollen und daran scheitern. Vielleicht hat sich Lenny bei seinem Selbstmordversuch vor einem Jahr ja tatsächlich im Kern getötet und läuft jetzt als reiner seelenloser Körper durch die Welt. Als wandelnde Leiche, in die wie bei einem unziemlichen medizinischen Experiment mit Autobatterien neue Stromströße gejagt werden?
    Großartig, seltsam, verzweifelt, absurd, genderbending, paranoid und vergeistert. Von einer Grabesstille, die einen laut durchknallen lässt!
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Ausgaben von Wiederbelebung eines Gehängten

Hardcover

Seitenzahl: 274

Taschenbuch

Seitenzahl: 272

Wiederbelebung eines Gehängten in anderen Sprachen

  • Deutsch: Wiederbelebung eines Gehängten (Details)
  • Englisch: Resuscitation of a Hanged Man (Details)
  • Französisch: Un pendu ressuscité (Details)

Besitzer des Buches 3

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