Richard Ford - Die Lage des Landes / The Lay of the Land

  • Der Autor (Quelle: Wikipedia): Richard Ford (* 16. Februar 1944 in Jackson, Mississippi) ist ein amerikanischer Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine Romane über den Sportreporter und späteren Immobilienmakler Frank Bascombe: Der Sportreporter, Unabhängigkeitstag, Die Lage des Landes und Frank. Für Unabhängigkeitstag erhielt er als bisher einziger Autor sowohl den Pulitzer-Preis als auch den PEN/Faulkner Award.


    Kurzbeschreibung (Quelle: dtv): Inzwischen ist Frank Bascombe 55 Jahre alt – er freut sich, mit schöner Strandvilla und zweiter Ehefrau Sally, auf den nächsten, ruhigeren Lebensabschnitt. Bascombe hat eine Menge erreicht, sein Leben ist aufgeräumt und erfüllt. Doch eine Ehekrise und eine Krebsdiagnose bringen alles ins Wanken. Wie fest der Boden unter seinen Füßen wirklich ist, muss sich plötzlich bei jedem Schritt neu zeigen. Frank Bascombe, der nette, vernünftige Nachbar, zieht Bilanz. Wie die Dinge liegen in seinem Leben und an der Küste von New Jersey, das beschreibt er mit Detailschärfe und großem Humor. Er denkt nach über Loslassen und Verlust, über die eigene Lebensleistung und Vergänglichkeit – und über die Hoffnung, denn nach allen erdbebenartigen Umwälzungen, die dieser Roman grandios, einfühlsam und mitreißend schildert, hat Frank noch einiges vor sich.


    Der Roman erschien unter dem Originaltitel "The Lay of the Land" im Oktober 2006 bei Knopf. Diese Ausgabe hat einen Umfang von 496 Seiten. Die deutsche Übersetzung von Frank Heibert erschien unter dem Titel "Die Lage des Landes" 2007 beim Berlin Verlag, 2008 im Berliner Taschebuchverlag und später auch als dtv-Taschenbuch. Diese Ausgabe umfasst stolze 688 Seiten. Wie es zu diesen immerhin 27 Prozent mehr an Text im Deutschen kommt? Dass deutsche Übersetzungen oft mehr Worte als englische Vorlagen benötigen, ist ja klar, aber so viel?! Sollte der Stil im Original etwa viel "schlanker" sein?! :-k


    Beeindruckend, wie sehr sich ein Autor in der Gedankenwelt seiner Hauptfigur versenken kann! Völlig eingesponnen in die banalen Gedanken Frank Bascombes, verwoben aus Alltag und seiner Sicht auf das Leben, samt Verdrängungen und Erklärungen. Nicht, um die Figur bloßzustellen, nicht trivial, auch ganz ohne großes Brimborium. Aber auch nicht, um seine Ansichten als unantastbare Wahrheiten zu verkaufen. Es ist der Versuch, das "normale Leben" als eine tägliche Aushandlung aus Einverständnis und Ablehnung zu zeigen. Eine riesige Kaugummiblase aus Befindlichkeiten, an deren Rändern die Befindlichkeiten der Familie, von Freunden und Bekannten, Geschäftspartner und Nachbarn auftaucht, aber auch die Entwicklung des Wohnumfeldes, der Stadt, des Landes. Die Lage des Landes regiert von weißen Mitfünfzigern, die "aus dem Groben raus" sind, die sich aber schön in die Scheiße reiten können, sei es durch ihr Immer-so-weiter-machen, sei es durch neue Spleens. Eine Art Selbstanalyse, aber ganz ohne, Erklärungen aus der Vergangenheit abzuleiten. Ein sehr momentaner Stil, im Grunde freundlich und optimistisch, wenn auch wie ein Optimismus nach der Katastrophe, wenn gerade einmal keine dunklen Wolken mehr am Horizont sind. Kritisch, aber nachsichtig gegenüber anderen.


    Die Spannung wird die ganze Zeit über den seitenstarken Umfang des Romans aufrecht erhalten, immer mit der Ahnung, als würde ein drohendes Unheil beschwichtigend im Zaum gehalten. Eine Ansammlung von Schrecknissen und Zufällen, die nur deswegen nicht bedrohlich wirken, weil sie eben zum Alltag gehören, aber einem in der Zusammenballung irgendwann vor die Füße knallen könnten: Alle Stolpersteine und familiären Baustellen versammeln sich zu einem finalen Paukenschlag, um gewissermaßen das Hinhalten und Wegreden zu beenden. Dabei ist Frank Bascombe niemand, der Dreckecken – auch in der eigenen Persönlichkeit – leichtfertig ausblendet. Aber wenn die Dinge trotz vieler Rückschläge (ein toter Sohn, eine Scheidung, "herausfordernde" Kinder, zweite Frau geht überraschend zu ihrem für tot gehaltenen ersten Mann zurück, Prostatakrebs, zufällige Anwesenheit am Tatort eines Bombenanschlags) lange Zeit gut gelaufen sind, es immer irgendwie weiterging, man selber mitten in der "Permanenzphase" seines Lebens feststeckt, quasi dem letzten Jahrzehnt vor dem Ruhestand, dann ist es irgendwann vielleicht Zeit für eine neue Erschütterung. Eine Entscheidung muss her!


    688 Seiten, die vor allem drei Tage vor Thanksgiving abdecken, im Grunde mit der Frage im Hinterkopf, ob man bereit wäre, in diesem Augenblick zu sterben, ein Lebensfazit aus dem ganz normal ablaufenden Alltag heraus (und all dem Irrsinn, der sich darin verbirgt, den man vielleicht gar nicht mehr als solchen erkennt), dabei fast keine Ereignisse, die für sich berichtenswert erscheinen, außer vielleicht die völlig das Maß der alltäglichen Wiederholung verlassenen Spitzen: Bombenexplosion, Autoeinbruch, ein Fuchs springt dich an, dein Nachbar wird ermordet ... ja, was erzählt man denn abends seinem Lebenspartner, seiner Familie, seinen Freunden von dem Tag, den man verlebt hat: Der Müll wurde nicht abgeholt? In der Stadt hat ein Fischrestaurant aufgemacht? Der Wagen muss in die Werkstatt? Meine Tochter sitzt im Knast, weil sie einen Polizisten angefahren hat? :wink: Das muss man erst einmal in den literarischen Raum wuchten! :thumleft:


    Ein großartiges Buch! :love: Wer Bascombes ständige Selbstbetrachtung als Ausdruck reiner Wohlstandsprobleme abtut, mag wahrscheinlich einfach nur Bücher lesen, wenn sie akurat der eigenen Lebenswirklichkeit entsprechen. :-# Die anderen genießen die Einblicke in einen typischen, das Wesen des Landes bestimmenden Charakter. Die innovativen Ideen in Wissenschaft, Unternehmertum und Kultur mögen die Fünfundzwanzigjährigen liefern, aber gesellschaftlich die Hosen an hat immer noch die schweigende Mehrheit der Über-50-Jährigen mit Eigenheim, sicherem Einkommen, Gemeinsinn, Kinder aus dem Haus und einer übersichtlichen Zukunft. Das Sinnieren Frank Bascombes über seine persönliche Lage und die politische Lage des Landes, das Aushandeln von Einverständnis, Annahme und Ablehnung, im Grunde das Bewahren des Lebensmutes, ist dabei nicht grundsätzlich verschieden zu den Gedanken über die eigene Verortung in der Welt, wie sie alle Menschen (wenn auch mit anderen Objekten, Interessen und Kontexten) tagtäglich anstellen, und sollte über alle Alters- und Einkommensschichten hinweg verständlich sein, auch wenn man kein Immobilienmakler Mitte 50 in zweiter Ehe ist. Ich hoffe doch! Eine Selbstbetrachtung allein in der Gegenwart mit der letzten Hoffnung, im Leben und im Alter nicht nur zufrieden, sondern doch noch ein "besserer" Mensch zu werden. Auch wenn diese Hoffnung wahrscheinlich das größte Bisschen Selbstbetrug darstellt, das sich Frank Bascombe leistet. Der Glaubenskern, ohne den sein Leben krachen ginge: Die Möglichkeit, sich zum Guten zu verändern.

    Fünf :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das Original, unter dem englischen Titel "The Lay of the Land", im Jahr 2006 erschienen. Hier als Hardcover bei Bloomsbury Publishing.

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
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