Verlagstext:
Eines Nachts führt Marica Bodrožićs Vater sie in ihrem dalmatinischen Dorf hinaus ins Freie. Sie ist noch ein Kind, und er zeigt ihr am Himmel die Sterne des Südens, erklärt ihr, wie jeder einzelne Stern heißt und dass das Licht der weitentfernten Galaxien alles auf der Erde beschützt: die Tiere, die Bäume und Pflanzen, auch jeden einzelnen Menschen, samt seinen Träumen. Ein ergreifendes Momentum schreibt sich tief in das Kind ein. Seither ist Marica Bodrožić’ Blick auf den Himmel gerichtet, immer auf der Suche nach den Sternen, Erzählungen und Beglückungen des Südens. Diese wesenhafte Liebe bleibt ihr auch im dörflichen Hessen erhalten, als sie das alte Jugoslawien für immer verlässt und in die Nähe von Frankfurt zieht. Selbst als in den 1990er Jahren der Krieg in ihrem Herkunftsland ausbricht, bleibt sie dieser Liebe ungebrochen treu. Seitdem ist sie häufig in ihre brutal zerrissene Herkunftsgegend zurückgereist, und in diesem Buch erzählt sie von ihren gleichermaßen ethnologischen wie empathischen Begegnungen mit Land und Leuten vor dem Ausbruch des Krieges und danach. Sie beschreibt eindringlich die mediterrane Welt, aber auch die Verwüstungen, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat: konkret, anschaulich und zutiefst poetisch zugleich. Dabei geht es ihr immer auch um die Beschwörung der humanistischen Werte und um die Hinwendung zum freien Menschen, der nur dann wirklich frei sein kann, wenn er lernt, auch das Dunkle in seiner eigenen Geschichte zu sehen. Marica Bodrožićs Buch ist ein couragierter Beitrag zum Erlernen dieses inneren Sehens.
Quelle: amazon.de
Dieses Buch liegt schon mehrere Jahre auf meiner Merkliste; oft habe ich darüber nachgedacht, es endlich mal zu lesen, und die Lektüre dann doch wieder verschoben. Nachdem ich letzten Monat im Unfrieden von Saša Stanišić mit seiner verkappten Autobiografie "Herkunft" geschieden bin, habe ich mir dieses sowohl thematisch als auch in der Mischung aus Autobiografie, historisch-politisch-philosophischem Essay und poetischen Träumereien auf den ersten Blick recht ähnliche Werk bei der Onleihe ausgeliehen - jetzt wollte ich wissen, was seine Kollegin zu der Thematik zu sagen hat. Dann kamen doch noch andere Bücher dazwischen, und gestern musste ich feststellen, dass das Werk mittlerweile bei der Onleihe nicht mehr vorbestellbar ist, bei der Suche auch nicht mehr gelistet wird; offenbar habe ich gerade die letzte Lizenz auf dem Reader und werde es in den verbleibenden anderthalb Tagen nicht mehr schaffen, das Buch zu beenden.
Das ist schade, denn es hat sich erwiesen, dass hier ein ganz anderes Kaliber an Umsicht und Tiefe vorliegt als bei Stanišić. Während dieser immer nur um sich selbst kreist und in allem, was er betrachtet, immer wieder Stanišić, Stanišić, Stanišić entdeckt, kreist Marica Bodrožić um das große Ganze des Menschseins, in dem sie zwar auch sich selbst sucht und verortet, aber eben auch vor allem andere Menschen sucht und befragt, wo sie sich verorten - Beteiligte an den jugoslawischen Kriegen aus allen Lagern, die ihr Menschsein verloren und später nie wieder gefunden haben, aber auch solche, denen das gelungen ist oder denen wiederum auch schon vorher nie vermittelt wurde, was es bedeutet, Wert und Würde zu besitzen. Sie spürt ihrer eigenen Familie nach, aber auch den serbischen Nachbarn, deren Gräber geschändet wurden, dem bosniakischen Koch, der sich seine Menschlichkeit bewahren und ins Exil tragen konnte, wo er serbischen Flüchtlingen die ihre zurückgab, Leuten aus serbisch-kroatisch gemischten Familien, die sich für eine Seite entscheiden mussten... Was treibt Menschen dazu, einander zu bekämpfen und zu töten; wie kann man Menschen eine Menschlichkeit ins Herz einpflanzen, die so etwas gar nicht erst möglich macht; wie kann Zerbrochendes wieder heilen - das sind die Fragen, denen Marica Bodrožić sowohl in ihrer eigenen Familie als auch bei vielen anderen Menschen und ihren Schicksalen nachspürt. Sie liefert historisches Hintergrundwissen und verpackt die Einzelschicksale in verbindende politische und universelle ethische Fragestellungen. Doch auch poetische Visionen finden ihren Raum in diesem Buch, das sich nicht schnell weglesen lässt. Oft muss ich innehalten und über das Gelesene nachdenken - und tue das mit Freude...
... noch bis übermorgen, und dann werde ich mir das Buch wahrscheinlich kaufen.
"(...) niemand (wird) ein Selbstmörder, wenn er noch ein Selbst hat und ein freies Wesen ist. Es wird immer nur etwas getötet, das bereits tot ist." S. 126 im eBook
"Wer nicht geachtet wird, der weiß nicht, dass es die Würde gibt; gerade sie muss vorgelebt werden." S. 33 im eBook