Alice Munro - Liebes Leben / Dear Life

  • Verlagstext

    Niemand erzählt eindringlicher davon, wie es wäre, ein neues Leben zu beginnen, als die große kanadische Autorin Alice Munro.

    »Dir diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken und hoffen, er wird Japan erreichen«, schreibt Greta in der ersten Erzählung und schickt diese Zeilen an Harris, den Zeitungsreporter, der sie nach einer Party fast geküsst hätte. Aber eben nur fast. Auf wenigen Seiten kondensiert Alice Munro die geheimen Träume ihrer Figuren. Vierzehn neue brillante Erzählungen, die mit einem furiosen Finale enden: vier Geschichten, in denen sie so persönlich wie nie (»die ersten und die letzten Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe«) von sich selbst erzählt.


    Die Autorin

    Alice Munro, geboren 1931 in Wingham, Ontario, ist eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Sie erhielt 2013 die höchste Auszeichnung für Literatur – den Nobelpreis. Ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde zuvor bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Giller Prize, dem Book Critics Circle Award sowie dem Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario, Kanada. 2013 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.


    Inhalt

    Thema von Alice Munros Erzählungen ist das Leben von Frauen und Mädchen in der kanadischen Provinz, genauer gesagt Figuren, die am Übergang vom Dorf- zum Kleinstadtleben vom vorgezeichneten Pfad abzweigen. Jede einzelne Erzählung verblüfft mit der Fähigkeit der Autorin, banale Alltagsereignisse in einem besonderen Licht zu zeigen und so ihre Leser noch lange zu beschäftigen, nachdem sie das Buch geschlossen haben. Mit Figuren, die aus dem Krieg zurückkehren oder von der Wirtschaftskrise betroffen sind, lassen sich diese Geschichten klar der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zuordnen. Während Männer im Krieg sind, müssen Frauen sich nicht für ihr Alleinleben oder ihr Selbstbewusstsein rechtfertigen und haben die Chance, Neues zu riskieren. Auch Heimkehrer (wie in "Zug") nutzen die Möglichkeit zum Neuanfang mit einer neuen Identität. Munro verkündet in knappen Worten, dass es sich mit "dem Krieg" nur um den Zweiten Weltkrieg Handeln kann. Ihre biografische Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie", verdeutlichten eindrucksvoll, wie nah Munros Kurzgeschichten ihrer eigenen Biografie als Tochter eines Fuchsfarmers waren.


    Die erste Erzählung "Japan erreichen" sehe ich als charakteristisches Beispiel dafür, dass Alice Munro allgemeingültige Empfindungen beschreibt, die Leser auf der ganzen Welt nachempfinden können. Die junge Mutter Greta reist zusammen mit ihrer noch sehr kleinen Tochter per Bahn quer durch Kanada von Vancouver nach Toronto, um in Toronto ein Haus zu sitten. Gretas Mann Peter ist Kind von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei und es wird betont, dass er als in Europa Geborener viele Dinge anders sieht als ein gebürtiger Kanadier. Greta lässt die schlafende kleine Katy im Zug nur kurz allein und muss bei ihrer Rückkehr schockiert feststellen, dass Katy verschwunden ist. Hat der Zug gehalten, kann Katy ausgestiegen sein? Greta ist sich unsicher. Wer ist als Mutter nicht schon in dieser Situation gewesen, in der Schuldgefühle und Aufregung das logische Denken blockieren?


    Auch in der zweiten Geschichte verlässt die Hauptfigur ihre Heimatstadt per Bahn, um eine Stelle als Lehrerin in einem Erholungsheim für tuberkulosekranke Kinder anzutreten. Der Arzt und die Schwestern sind in der Klinik ebenso kaserniert wie die Patienten, von denen nicht alle überleben werden. Mancher Patient hat keine Angehörigen, die den Leichnam zur Beerdigung in den Heimatort abholen werden. Obwohl diese Geschichte (noch vor der Entwicklung eines Medikaments gegen Tuberkulose) zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, ist sie angesichts unheilbarer Krankheiten inzwischen wieder erschreckend aktuell. In "Kies" endet der Traum vom Hippieleben für eine Frau und ihre Kinder in einem Wohnwagen an der Zufahrt zu einer kleinen privaten Kiesgrube.


    "Heimstatt" charakterisiert das schwierige Nebeneinander unterschiedlicher Religionen in einer Kleinstadt. Die Eltern der jugendlichen Icherzählerin sind als Lehrer nach Ghana aufgebrochen; ihre eigenen Kinder müssen solange bei kinderlosen Verwandten unterkommen. Onkel Jasper hat klare Vorstellungen von Anstand: ein Mädchen in der Pubertät, das in seinem Haushalt lebt, hat nicht mehr mit dem Fahrrad zu fahren.

    Text-Ausschnitt

    "Nach und nach stand ich weniger fest zu meinem Zuhause mit seiner intellektuellen Ernsthaftigkeit und materiellen Unordnung. Natürlich musste eine Frau für eine so behagliche Heimstatt ihre ganze Kraft aufbieten. Da konnte man keine unitarischen Manifeste abtippen oder sich nach Afrika davon machen. (Anfangs sagte ich jedes Mal: "Meine Eltern sind nach Afrika gegangen, um zu arbeiten", wenn jemand in diesem Haus davon sprach, dass sie sich davongemacht hatten. Dann wurde ich es leid, sie zu verbessern.) Heimstatt war das Wort. "Die wichtigste Aufgabe einer Frau ist es, ihrem Mann eine Heimstatt zu bereiten." Sagte Tante Dawn das tatsächlich? Ich glaube nicht. Sie scheute sich vor Sentenzen. Ich habe das wahrscheinlich in einer der Hausfrauenzeitschriften gelesen, die ich dort vorfand. Und die bei meiner Mutter Brechreiz auslösten." (S. 135)


    "Dies ist keine Geschichte, nur das Leben." (S. 354) Abschließend nutzt Alice Munro ihre letzte Sammlung von Erzählungen dazu, sehr persönliche Erinnerungen an ihr Verhältnis zu ihren Eltern anzufügen. Im exakten Erinnern an ihre Gefühle als Fünfjährige und als Pubertierende zeigt sich bereits die spätere Autorin.


    Fazit

    "Liebes Leben" beeindruckt als Abschluss eines in Europa bisher noch unbekannten Schriftstellerlebens und kann stark gewinnen, wenn Sie ergänzend Munros biografische Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen?" lesen.


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