Riad Sattouf - Der Araber von morgen 1 / L'Arabe du futur 1

  • Der Autor, Comiczeichner und Filmregisseur Riad Sattouf erzählt in „Der Araber von morgen“ die autobiographische Geschichte eines kleinen Jungen, der als Sohn einer Französin und eines Syrers in Libyen, Syrien und Frankreich aufwächst. Durch die „Ich-Perspektive“ schildert der kleine blonde Araber Riad dem Leser seine Erfahrungen in einer, anfangs auch für ihn, fremden arabischen Welt. Dabei wirken die Schilderungen und Beobachtungen oft nüchtern, beinahe sachlich. Die Verwunderung, die sich, durch die manchmal schon recht verstörenden Erlebnisse, beim Leser einstellt, wird von dem kleinen Riad nicht geteilt. Die unbefangene Art mit der sich ein Kind auf neue und ihm unbekannte Eindrücke und Erfahrungen einlassen kann, ermöglicht dem Leser einen direkten, unverfälschten Zugang zu den Erinnerungen des Autors. Einfache Erklärungen werden einem daher vom Autor nicht vorgekaut. Der Leser wird gezwungen sich mit den Charakteren und ihren Handlungsmustern selbst auseinanderzusetzen und wird dadurch zum Nachdenken und Reflektieren angeregt.

    So stellt sich beispielsweise der Vater von Riad als sehr ambivalente Figur dar, die einerseits nicht sonderlich religiös ist und als Heilmittel für die angeschlagene arabische Gesellschaft alles auf das Konzept Bildung setzt. Andererseits verteidigt der Vater aber die Diktatur als für die Araber einziges funktionierendes System und hält den Araber gleichzeitig für eine Art besseren Menschen, wie gemacht zur Weltherrschaft. Ebenso lassen einen die Beweggründe der Mutter rätseln, die kaum als aktiv handelndes Wesen auftritt und den Entscheidungen des Vaters widerspruchslos folgt. Sie wirkt antriebslos, unzufrieden mit ihrer Situation im arabischen Wohnort, scheint aber nie auch nur den Versuch zu unternehmen die Situation für sich oder ihren Sohn zu verbessern.

    Dass der Autor die Beweggründe seiner Charaktere nicht weiter beleuchtet funktioniert sehr gut, da wir der Handlung als reiner Beobachter durch die Augen von Riad folgen, einem kleinen Jungen, der all dieses Hintergründe selbst noch gar nicht verstehen kann. Gerade in der Aufrechterhaltung dieser Ambivalenz, dieser Hin- und Hergerissenheit zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kulturen, liegt die Stärke des Buches. Obwohl es sich um ein historisch-politisches Buch handelt, ist Sattouf kein Agitator, der dem Leser seine Gesinnung aufzwingen möchte. Vielmehr ist er ein Erklärer und Vermittler, dem es auf exzellente Weise gelingt die modernen Spannungen und Unterschiede zwischen unseren Kulturkreisen offenzulegen.

    Außerdem möchte ich darauf verweisen, dass auch die französische Seite bei Sattouf nicht sehr gut wegkommt. Da er aber seine Kindheit überwiegend in den arabischen Ländern verbracht hat, liegt der Fokus nun mal hauptsächlich auf diesen Ländern. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Ich fühle mich weder als Franzose noch als Syrer. Allerdings vermute ich, dass mein kritischer Blick, meine Haltung der Wirklichkeit gegenüber, mein Individualismus auch, doch eher in einer europäischen Tradition stehen. Ich empfinde aber weder eine ausgeprägte Sympathie für die eine oder andere Kultur.“

    Fazit: „Der Araber von morgen“ ist eine großartige, wichtige Graphic-Novel, die jedem ans Herz gelegt sei, der sich auch nur ansatzweise für den „Cultural Clash“ zwischen der westlichen und der arabischen Welt interessiert. Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Vielen Dank für die Vorstellung! Lustig, dass ich mir diese graphic novel letzte Woche bestellte... Sie ist für drei Bände vorgesehen, und auf Französisch erschien gerade der zweite, hier unten verlinkte Band. Sattouf hat ein sehr großes Echo hier gefunden.

  • Inzwischen habe ich diesen ersten Band eines auf eine Trilogie angelegten Werkes gelesen, und teile die grundsätzlich positive Meinung von Coco 90 und will durch diese paar Bemerkungen gerne nochmals diesen Fred hochholen.


    Vielleicht eine Ergänzung : in diesem ersten Band geht es also um die ersten Jahre im Leben des Autors, und die « besprochene » Zeitspanne reicht von 1978 bis 1984. Dies ist vielleicht wichtig zu betonen, da sich inzwischen natürlich gewisse Gegebenheiten in den erwähnten Ländern (Libyen und Syrien) geändert haben. Dennoch bleibt dieses Buch von großer Aktualität : Werden nicht Aspekte von Kulturunterschieden angesprochen, die die Kluft, die Unterschiede der Auffassungen bleibend beeinflussen, immer noch ?


    So ist also ganz beiläufig vom Panarabismus die Rede, oder der als so brennend erfahrenden Demütigung der ägyptisch-syrisch-libyschen Niederlage im Sechstagekrieg, der maroden Wirtschaft, Korruption. Der bleibende Antisemitismus, ein Laisser-Aller in der (Aus-)Bildung, latente Gewaltbereitschaft, ein machistisches System etc.


    Man kann durchaus unterscheiden zwischen einer Stimme des Kindes Riad, und einer reflektierteren, erklärenden Stimme eines Erzählers.


    Beim 42. Festival von Angoulême wurde der Comic mit dem Fauve d‘or, dem wichtigsten europäischen Comic-Preis, als beste Graphic Novel des Jahres ausgezeichnet. Es gehört zu den fünf meist übersetztesten französischen Büchern des Jahres 2014 ! Inzwischen ist in Frankreich der zweite Band erschienen.


    AUTOR :
    Riad Sattouf ist ein französischer Zeichner, Filmeregisseur und Szenarist, der 1978 als Sohn eines syrischen Vaters und einer französischen Mutter in Paris geboren wurde. Er verbringt seine Kindheit in Libyen und Syrien, kurzfristig auch Frankreich, und erhält eine muslimische Erziehung im Heimatdorf seiner syrischen Großeltern. Mit 12 Jahren kehrt er nach Frankreich zurück, lebt zunächst bei der Großmutter mütterlicherseits in der Bretagne, und dann bis zum Abitur in Rennes im Anschluß an die Scheidung seiner Eltern. Er studiert zunächst in Nantes, dann in Rennes die « beaux-arts ». Er wird bemerkt und fängt an zu publizieren… Ab 2002 teilt er in Paris eine Werkstatt mit den ebenfalls bekannten Christophe Blain, Mathieu Sapin et Joann Sfar. Ua hat er zehn Jahre lang eine Rubrik in « Charlie Hebdo » mit Jugendlichen als Hauptfiguren.

  • Thread zu den Biografien verschoben :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier