Teil 2 Kapitel 10 Spastika (Seite 421 – 438):
Grimm konzentriert sich mittlerweile als Sommelier auf den Umgang mit dem „kreativen Schreibassistenten“, wie ihm in einem früheren Kapitel von Aljona-Libertina geraten worden war. Dabei lernt er, wie dieses hochentwickelte Textverarbeitungsprogramm auch seine krudesten Gedanken auf mannigfaltige Stil- und Ausdrucksformen und mit reichlichen Ausschmückungen wiederzugeben vermag. Dafür erhält Grimm Punkte bzw. „Manitus“ – je besser seine Textfragmente ankommen, desto mehr Punkte gibt es für ihn. Auf mich wirkt dies wie ein Zwischending aus sozialem Medium und einem Computerspiel.
Grimm macht dabei die Erfahrung,
Zitat von Viktor Pelewindass er seine besondere Nische in der Welt entdeckt hatte. Und dies war, soviel hatte er bereits begriffen, das Wichtigste für einen jeden Menschen.
(sh. S. 424)
Man könnte fast behaupten, er sei im Begriff, sich voll und ganz in das System des Big Byz zu integrieren.
Doch Grimm macht sich Gedanken, warum man gerade ihn zur Textgestaltung benötige, wo doch der kreative Schreibassistent eigentlich viel besser schreiben kann als er selbst:
Zitat von Viktor Pelewin… und kommt zum Ergebnis, dass es wohl um die authentische orksche Intention, um den knorrigen verbalen Embryo und um die speziellen Giftspritzer ging, die er sich entlocken konnte – denn die Herrschaften waren dazu nicht mehr in der Lage.
(sh. S. 424)
Das liegt möglicherweise am Syndrom der Abstumpfung durch Globalisierung von Geschmack und Stil. Dabei geht es ja auch im Grunde in unserer "Realität" darum, den Menschen eine Individualisierung, und zwar ausgerechnet durch Massenprodukte vorzugaukeln - bestes Beispiel: wer sich, wie Abermillionen andere, Möbel ins Haus holt, die im Lande des goldenen Elchs entworfen wurden, oder Produkte aus dem digitalen Anwendungsbereich der „i-gitt“-Marke verwendet, glaubt tatsächlich an seinen eigenen individuellen (und auch noch „guten“) Geschmack und seine angebliche „Coolness“. Nochmal: was ist individuell an meinem Geschmack, an meiner Wesensart, was ist mir eigen, wenn ich mich gerade durch den Besitz von Massenprodukten profilieren will und mitteilen möchte, wer ich bin? … Genau: ich bin einer von denen, der sich nicht von Millionen und Abermillionen anderen unterscheidet, ich gehöre zur Mainstream-Masse der Möchtegern-Coolen … nee, sonst nix, nur Masse, einfach Einheitsbrei-Personalität. Wir beweisen doch gerade damit, dass nichts Individuelles an uns dran ist, null und gar keine Individualität.
Und doch: auch wenn Grimm meint, seine „Nische“ gefunden zu haben … irgendwas scheint nicht richtig zu laufen. Je stärker seine Einsichten werden, desto weniger Punkte bekommt er. Klare Sache: je näher er an der Wahrheit dran ist, je stärker er auf die Verlogenheit des Big Byz Bezug nimmt, desto weniger Manitus verdient er. Grimm hatte ja, im Gegensatz zu Chloe, schon immer Probleme mit dem Lug und Trug , mit dem ganzen Fake dort oben. Textentwürfe zum Thema „Wahrheit der Lebensroutine“ kommen im Big Byz gar nicht an. Naja, das kennen wir, es gibt schließlich auch andere Orte, die nicht in der Fiktion angesiedelt sind, in denen die Frage nach dem Sinn nicht gut ankommt …
Auch auf Partys, die Grimm mit Chloe besucht, wird klar, dass er mit ihr nichts gemein hat. Chloe fühlt sich in Schein und Glamour gut, vor allem in zugedröhntem Zustand, während Grimm damit nichts anfangen kann. Ein „Schriftsteller“ erklärt ihm auf einer dieser Partys, dass man sich, um finanziellen Erfolg zu haben, mit der Lage identifizieren und gleichzeitig individuell und prägnant daherkommen muss. An „Individuell und prägnant“ fehlt es Grimm sicherlich nicht, aber die Sache mit der „Identifikation mit der Lage“ dürfte in seinem Fall wohl eher aussichtslos sein.
Chloe verlässt ihn schließlich ganz und gar, für ein Versprechen einer Rolle in einem Snuff-Film zieht sie zu einem Regisseur.
Und so bleiben zwei verkrachte Existenzen zurück: Grimm mit seiner Anpassungs-Unfähigkeit, Damilola mit seinem Kummer, weil er von Kaya sitzen gelassen wurde. Damilola rät Grimm vom Entwurf sozialkritischer Textfragmente ab:
Zitat von Viktor PelewinFür die Errichtung der Demokratur haben die besten Pornoschauspieler von Big Byz ihr Leben gelassen. Wenn du in unserer Gesellschaft lebst, musst du ihr Andenken in Ehren halten.
(sh. S. 434)
Pelewin spielt in diesem Kapitel ziemlich viel mit Anspielungen sowohl auf soziale als auch auf politische Zwänge, z.B.: ein Polit-Technologe ist
Zitat von Viktor Pelewinein Wahl-Sommelier in Gesellschaften ohne freie Wahlen
(sh. S. 434)
Damilola trägt sich bereits mit Plänen, mittelfristig eine neue Sure zu erwerben, wofür er deshalb bereits an allen Ecken und Enden spart.
Grimms letztes Textfragment, das in einem Snuff-Film verarbeitet wurde, ist so aggressiv und direkt, dass es dort nur noch als „Beispiel für kriminelle Hate-Speech“ verwendet werden konnte. (sh. S. 438) Eindeutig: Grimm schafft die Anpassung ins System des Big Byz nie und nimmer. Dafür ist er (glücklicherweise) zu integer, zu authentisch.