Ich könnte ihn mit einem Fleischermesser erstechen. Ich könnte ihn mit einem schweren Gegenstand den Kopf einschlagen. Ich könnte ihm ein Kissen auf sein Gesicht drücken und mich darauf setzen, solange bis er nicht mehr strampelt. Ich könnte ... Maries Gedankenwelt erschüttert sie immer wieder selbst. Sie findet diese Fantasien furchtbar, kann sich aber nicht vor ihnen schützen, denn sie leidet an aggressiven Zwangsgedanken, die ihr viel zu real erscheinen. Sie versucht sich mit dem Satz "Denken ist nicht Tun" zu beruhigen, aber eines Tages wacht sie auf, in Blut getränkt, das Messer noch in der Hand und ihr Freund neben ihr - brutal niedergemetzelt. Denken ist nicht Tun - oder doch?
Gemächlich führt Wiebke Lorenz den Leser in die Welt eines Menschen, der unter aggressiven Zwangsgedanken leidet. Ihre Protagonistin Marie wurde wegen Mordes verurteilt, aber aufgrund ihrer Krankheit nicht in ein Gefängnis gesteckt, sondern in eine Psychiatrie eingewiesen. Beim Lesen merkt man ziemlich schnell, dass die Autorin viel recherchiert haben muss. Mit einem leicht zu lesenden Schreibstil zieht sie den Leser immer tiefer in die Abgründe der menschlichen Psyche. Verschiedene Krankheitsbilder werden von Wiebke Lorenz aufgegriffen, wobei die Zwangsgedanken den Schwerpunkt bilden. Gekonnt vermittelt die Autorin ihr Wissen über diese Störung, die sich ausschließlich im Kopf der Betroffenen abspielt und deren aggressive Gedanken sich meistens gegen die Dinge oder Personen richten, die am meisten geliebt werden. Authentisch schildert Lorenz Maries Krankheit, wie diese ihren Alltag beherrscht und wie Marie täglich Angst hat, die Kontrolle zu verlieren und ihre Gedanken in die Tat umzusetzen.
Zitat"Die Angst, dass irgendjemand etwas merken könnte, ist unerträglich, das muss ich unbedingt verhindern! Die Angst, etwas zu tun, was ich nicht will, noch größer. So groß, dass sie mich überwältigt, dass ich manchmal kaum atmen kann." (Seite 120)
Wie bereits erwähnt, beginnt der Roman gemächlich. Nicht sachlich, nicht emotionslos, aber recht ruhig. Der Leser erfährt vieles über Maries Vergangenheit durch ihre Gedanken oder ihre Therapiesitzungen, in denen sie versucht das Geschehene aufzuarbeiten. Auch ihr Alltag in der Psychiatrie wird anschaulich beschrieben. Der offizielle Klappentext verrät meiner Meinung nach schon zu viel. Leider habe ich ihn vorher gelesen und wusste daher bereits, in welche Richtung der Roman gehen wird. Außerdem hatte ich während des Lesens zwei Vermutungen entwickelt, die auch beide eingetroffen sind. Ich fand den ruhigen Part interessant, genauso wie Maries Lebensgeschichte, die Schilderung der Umstände und die zahlreichen Informationen zum Thema Zwangsgedanken, aber ich wartete trotzdem immer auf den großen Knall - und dann kam er! Die letzten 50 Seiten zieht das Geschehen erheblich an Spannung an. Lorenz hat eine richtig tolle Grundidee gehabt, die sich erst auf den letzten Seiten offenbart und mich überraschen konnte. Meine Vermutungen waren alle richtig, von dem Gesamtbild jedoch hatte ich keine Ahnung. So gefällt mir das!
Fazit: Der Roman beinhaltet eine raffinierte Geschichte, die zunächst zwar ruhig anfängt, dabei trotzdem zu fesseln vermag und mit einem überraschenden Finale daher kommt, welches realistisch und perfekt ausgearbeitet ist. Wiebke Lorenz kann eben nicht nur Frauenromane zusammen mit ihrer Schwester unter dem Pseudonym "Anne Hertz" schreiben, sondern auch packende Schreckensszenarien kreieren! 5/5 Sterne.
- Broschiert: 352 Seiten