Reinhard Kaiser-Mühlecker - Wiedersehen in Fiumicino

  • In seinem dritten Roman verlässt Reinhard Kaiser-Mühlecker den immer sehr beschaulich dargestellten Schauplatz Österreich seiner beiden Romane „Der Gang über die Stationen“ und „Magdalenaberg“ und führt den Leser nach Argentinien. Im Mittelpunkt steht Joseph, zurückhaltender und etwas ziellos wirkender Wiener Agraringenieur, der in Buenos Aires an einer Studie der Lebensmittelindustrie arbeitet, akribisch das Sortiment von Supermarktketten durchforstet und überdies den Anbau von Gen-Soja erforscht. So konsequent, genau und verlässlich er seine Arbeit erledigt (über die man leider nicht viel erfährt), so nachlässig, fahrlässig und egoistisch regelt er seine privaten Dinge. Seine Wiener Freundin hat er von seinem Auslandsaufenthalt nicht informiert, und in Buenos Aires zieht er nach wenigen Tagen zu Savinia, einer begabten Musikerin, die allerdings an ihr Talent nicht glaubt, die er dort kennenlernte, um sie aber kurz später genauso schnell wieder zu verlassen.


    Während dieser Zeit in Buenos Aires kreuzen sich die Lebenswege von insgesamt vier Protagonisten, die alle irgendwie mit Joseph verbunden sind. Sein Freund aus Schulzeiten, Hans Kramer, ist schon vor Jahren ausgewandert, nennt sich Juan und arbeitet als Museumswärter, Augusto ist Arzt und Sohn eines argentinischen Großgrundbesitzers, der mit seinem Vater aufgrund dessen Profitstreben gebrochen hat.


    Die Protagonisten kommen abwechselnd – jeweils in der Ich-Form – zu Wort, Joseph steht immer im Fokus des Erzählten. Genau dieser Kniff macht dieses Buch zu etwas Besonderem, ist aber gleichzeitig auch das größte Problem. Ein und dieselbe Situation wird im nächsten Kapitel aus der Sichtweise eines anderen erzählt, wird dadurch viel plastischer und stellt sich plötzlich ganz anders dar. Der Einstieg fällt sehr schwer, zu Beginn tummeln sich die vielen „Ichs“ und sind nur schwer einzuordnen. Doch mit den Kapiteln lernt man die Charaktere näher kennen und kann so auch die Erzählenden besser zuordnen. Das Buch liest sich aufgrund der ständig wechselnden Perspektiven sehr kurzweilig, der Sprachstil ist ausgefeilt und detailverliebt, und dennoch fehlte mir das gewisse Extra, bleibt es mir ein wenig zu sehr an der Oberfläche. Ob es an der sehr betonten Bemühung, dem Buch einen Touch von Globalisierung zu verleihen, oder ob es einfach nur daran liegt, dass man vielleicht zu viele Themen auf 300 Seiten verpackt hat , kann ich nicht sagen. Dennoch sehr lesenswert, wenn auch meiner Meinung nach nicht das beste Buch des Schriftstellers!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Da Rosalita den Inhalt schon gut zusammengefaßt hat und ich eigentlich mit vielen ihrer Feststellungen übereinstimme, hier nur einige zusätzliche Bemerkungen :


    Ein großer Teil des Romans spielt also tatsächlich in Argentinien, doch ebenso gibt es Abschnitte, die in der Heimat von mindestens zwei der Protagonisten ihren Schauplatz haben. Nicht nur kommen die vier Hauptpersonen (mit Fokus auf Joseph) abwechselnd in der Ich-Erzählform zu Wort, sondern diese teils relativ kurzen Abschnitte (nur durch drei Zeichen getrennt), sind nicht pur chronologisch, örtlich oder anders geordnet. Zumindest konnte ich diese schwerlich ausmachen. Das mag also eine Mehrdimensionalität, Tiefe mehren, doch ich sah darin eher einen etwas mißglückten Kunstgriff, um das Erzählte lesetechnisch « diffiziler » zu gestalten. Denn man verliert schon mal die Übersicht. Ich empfand es als etwas ärgerlich.


    Joseph erhält in seiner Perspektive etwas mehr an Zusammenhalt, dennoch kommt er mehr als ein Egozentriker weg : Muss er weg, ist er weg : da sind die anderen dann egal. Verpflichtungen gegen sie gibt es nicht. Es wird gelebt und genossen – und das war es dann. Nun, das bedeutet ja nicht, dass der Autor dies gutheißt, aber ich habe im Moment in meinem eigenen Leserleben etwas von diesen sich selbstbehauptenden zielgerichteten Egos genug. Die nichts zu Ende bringen können an Beziehungen, in gewissem Sinne beziehungsunfähig sind, bei aller «sexuellen Funktionstüchtigkeit ». Abbruch, Flucht – und sei es auf der Basis einer NGO-Tätigkeit. Dies ist gut gezeichnet bis zu meinem Abbruch der Lektüre auf der 120.Seite, doch ich erwarte sehnlichst den Roman, der uns die Alternative zeigt. Oder kam das noch ? Ich glaube nicht.


    Die Enttäuschung saß etwas mehr, weil ich nach den ersten beiden Romanen von Kaiser-Mühlecker sehr positiv überrascht gewesen worden war und mir nun auch noch etwas von seinem Werk verspreche. Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich in der derzeitigen Lesephase ein Meisterwerk nach dem anderen erleben durfte und vielleicht etwas verwöhnt war.


    Wie Rosalita sagte also sicher nicht das beste Werk des Autors, dennoch kam sie auf eine stattliche Punktzahl. Im Moment gebe ich nur zweieinhalb bis drei...


    Es wäre interessant, noch andere Meinungen zu lesen ?!


    AUTOR :
    Reinhard Kaiser-Mühlecker (* 10. Dezember 1982 in Kirchdorf an der Krems) ist ein österreichischer Schriftsteller. Er wuchs im Ortsteil Hallwang in Eberstalzell (Oberösterreich) auf. Von 2003 bis 2007 studierte er unter anderem Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien. 2008 erschien sein Debütroman « Der lange Gang über die Stationen ». Noch vor Erscheinen erhielt er dafür den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und ein Stipendium des Herrenhauses Edenkoben.Verschiedenste Auszeichnungen.