Die Domstadt Lafferton im Südwesten Englands löst sich langsam aus dem dunklen Schatten des Serienmörders, der vor einem Jahr hier sein Unwesen getrieben hat. Und Auch Detective Chief Inspector Simon Serrailler versucht, die erschreckenden Geschehnisse hinter sich zu lassen. Doch während er in Venedig Zuflucht im Zeichnen und Vorbereiten seiner ersten Londoner Ausstellung sucht, erhält er einen Anruf von seinem Vater, der ihn zurück nach Lafferton beordert: Seine behinderte Schwester Martha liegt im Sterben.
Das ist jedoch nicht die einzige schlechte Nachricht, die ihn bei seiner Ankunft erwartet. Während die Serrailler-Familie um Martha bangt, bangt auch die Angus-Familie um ihr Kind: Der neunjährige David Angus ist morgens auf dem Schulweg spurlos verschwunden. Die ganze Polizeitruppe ist im Einsatz, um Spuren nachzugehen und David zu finden. Doch es gibt keine Spuren - David ist und bleibt wie vom Erdboden verschluckt ...
"Des Abends eisige Stille" (The Pure in Heart) (2005) ist der zweite Band in Susan Hills Serrailler-Trilogie. Der mittlere Band einer Reihe hat immer eine etwas heikle Position, und diesem Buch ergeht es da nicht anders: Es kann für sich allein stehen, aber praktisch alles außer dem Fall um den verschwundenen Jungen bezieht sich zurück auf den ersten Band, Der Menschen dunkles Sehnen. Und am Ende des Buches ist offensichtlich, daß sich The Risk of Darkness nahtlos anschließen wird.
Nichtsdestotrotz ist Des Abends eisige Stille mehr als ein bloßes Verbindungsglied - es ist ein in sich abgeschlossener Roman, mit seinem ganz eigenen Thema und seiner ganz eigenen Stimmung. Wie bereits bei Der Menschen dunkles Sehnen, ist auch hier der Kriminalfall nur eine Seite des Buches und der Handlung. Diesmal greift Hill jedoch ein tieferes, dunkleres Thema auf: Leben und Tod eines Kindes aus der Sicht einer Mutter. Hill gelingt es sehr überzeugend, wie ich fand, vielfältigste Facetten dieses Themas zu präsentieren: Meriel Serrailler und das unaufhaltsame Dahinsiechen ihrer behinderten Tochter Martha, Marilyn Anguses Martyrium nach dem Verschwinden ihres Sohnes, die Geburt von Cat Deerbons drittem Kind, um nur die offensichtlichsten zu nennen.
Die zentrale Figur des Buches ist diesmal Simon Serrailler: erfolgreicher Detective Chief Inspector, erfolgreicher Künstler, erfolgreicher Herzensbrecher, emotionaler Versager. Simon ist hin und her gerissen zwischen einer Frau, die er niemals haben kann, und einer Frau, die sich ihm an den Hals wirft. Gerade letztere ging mir beim Lesen nach einer Weile sehr auf die Nerven, obwohl dies sicher daran liegen könnte, daß ihr Verhalten zu nah an den peinlichen und am besten vergessenen Dingen liegt, die wohl jeder schon mal im Namen der "Liebe" gemacht hat. Nichtsdestotrotz wäre es schön gewesen, wenn Hill diese Figur mit mehr "Fleisch" versehen hätte. Simon hingegen offenbart sich als völliger emotionaler Krüppel (mit einer schon fast obsessiven Verehrung für seine Schwester), was ihm einiges mehr von der Tiefe verleiht, die er im ersten Band so schmerzlich vermissen ließ. Insgesamt kann man sagen, daß alle wiederkehrenden Figuren interessante neue Aspekte ihrer Persönlichkeit zur Schau stellen. Nur Cat ist auch diesmal ein klein wenig zu perfekt - leider.
The Pure in Heart ist ein fesselndes Buch. Jeder einzelne der vielen Handlungsstränge - die zum Teil aus Der Menschen dunkles Sehnen weitergeführt werden, zum Teil völlig neu hinzugekommen sind und sich zum Teil eindeutig in The Risk of Darkness fortsetzen werden - ist in und an sich packend. Die recht freundlich erscheinenden Schilderungen der Polizei, das kollegiale Verhalten innerhalb der Kripo, Cat und Chris Deerbons aufopfernder Einsatz für ihre Patienten - all das mag oberflächlich ein wenig zu idyllisch sein und steht so gänzlich im Gegensatz zu anderen modernen britischen Polizei-Krimis. Doch der Eindruck täuscht. The Pure in Heart ist weniger ein Krimi, sondern eine sehr dunkle und zum Teil erschreckende Psychostudie verschiedenster Menschen, die alle in der einen oder anderen Weise die Reinheit des Herzens verlieren.
Und eine kleine Warnung zum Abschluß: The Pure in Heart mag etwas langsamer anfangen als sein Vorgänger, aber der Schluß ist keinen Deut weniger erschütternd und unerwartet (und selbst das Wissen um den 3. Band hilft da nicht).
Rundum und ohne Einschränkungen empfehlenswert.
Gruß
Ute